Der Frage, warum sie nicht bei ihren Eltern aufgewachsen ist, ist Judith nie wirklich auf den Grund gegangen. Sie hat ein
gutes Leben in Berlin und will ihre Erbschaftsangelegenheiten in Österreich so schnell wie möglich hinter sich bringen. Doch
als sie das ehrwürdige Haus des Vaters betritt, beginnt ein Sog sie in verschüttete Erinnerungen zu ziehen, ein ganzes Dorf
sie in die Enge zu treiben. Über einen eindringlichen Tauchgang in tief liegende Ängste erzählt Andreas Prochaskas Psychothriller
WELCOME HOME BABY vom Clash alter und neuer Ordnungen und von einem Befreiungsschlag.
Das Drehbuch von WELCOME HOME BABY geht auf drei Autor:innen zurück: Constantin Lieb, Daniela Baumgärtl und Andreas Prochaska.
Es basiert auf einer Idee von Ihnen. Stand thematisch dabei der Konflikt zwischen Generationen, zwischen alten und neuen Ordnungen
im Vordergrund?
ANDREAS PROCHASKA: Nach meinem Kinofilm Das finstere Tal, der 2014 rauskam habe ich lange überlegt, mit welchem Stoff ich wieder ins Kino zurückkehren könnte. Die Geschichte eines
Schulfreundes, der seinen Vater nicht kannte und irgendwann von ihm ein Haus geerbt und im Zuge dieses Prozesses äußerst bizarre
Erkenntnisse über ihn gewonnen hat, hat sich über Jahrzehnte in der inneren Festplatte festgesetzt. Fragen wie – Was macht es mit dir, wenn man keine Ahnung hat, woher man kommt?, Wieviel Familie steckt in uns drinnen?, Wieviel Kontrolle
haben wir wirklich über unser Leben?, Wieviel wird unbewusst von einer auf die andere Generation weitergegeben? Und kann man
sich davon befreien? – haben mich nachhaltig beschäftigt und irgendwann waren sie der Anstoß, diesen Fragen eine filmische Form zu gießen. Während
Corona habe ich mich hingesetzt und begonnen ein erstes Drehbuch zu skizzieren. Zunächst alleine, bis ich Constantin Lieb
und Daniela Baumgärtl im Zuge eines anderen Projekts kennengelernt habe. Ich hab sie eingeladen, mit mir gemeinsam zu schreiben
und sie haben die entscheidenden Impulse für das Endergebnis geliefert.
Welche Impulse haben die beiden geliefert?
ANDREAS PROCHASKA: Meine Absicht war zunächst, einen kleinen, „dreckigen“ Horrorfilm zu machen und damit an In 3 Tagen bist du tot anzuknüpfen; ich habe aber schnell gemerkt, dass das nirgends hinführt und man sich nur auf ausgelatschten Pfaden bewegt.
Constantin und Daniela haben das Drehbuch auf eine viel interessantere, vielschichtigere Ebene gebracht und zusätzlich eine
überraschende Erzählstruktur entwickelt. Es war ein inspirierender Austausch, und wir haben versucht, eine Geschichte zu schreiben
in der es weniger darum geht, etwas zu verstehen als vielmehr etwas zu erleben.
Anders als In 3 Tagen bist du tot, geht es in WELCOME HOME BABY um ein inneres Unbehagen, innere Dämonen, die es zu bewältigen gilt. Der Tod des Vaters der
Hauptfigur ist ein Auslöser der Geschichte, Fragen der Mutterschaft stehen ebenfalls im Fokus. Sind es die Elementarereignisse
von Tod und Geburt, die den inneren Horror der Hauptfigur begründen?
ANDREAS PROCHASKA: Thomas Willmann, der Romanautor von Das finstere Tal, hat WELCOME HOME BABY sehr treffend als „Bodyhorror der Seele“ beschrieben, auch wenn wir den Begriff „Horror“ im Kontext
mit dem Film eher vermeiden wollen. Wir haben irgendwann festgestellt, dass es ein Psychothriller und kein klassischer Horrorfilm
ist. Und je länger wir am Buch gearbeitet haben, umso mehr Schichten haben sich aufgetan. Dabei gab es auch immer wieder Phasen,
wo ich mir nicht sicher war, in welche Richtung es geht. Lange blieb es nicht greifbar und je genauer man versuchte, ein Thema
oder eine Begründung für bestimmte Situationen auszuformulieren, umso stärker fühlte ich das Risiko, es könnte banal oder
vorhersehbar werden.
Es war ähnlich wie bei der Arbeit an der Musik mit Karwan Marouf. Wenn wir gemerkt haben, man kann den nächsten Ton in der
Komposition antizipieren, dann war etwas falsch. Es war wichtig, immer in der Schwebe und in Judiths Perspektive zu bleiben,
die begreifen will, was mit ihr passiert. Im Verlauf ihrer dramatischen Reise stellt sie sich den Kräften, die auf sie einwirken,
um letztlich ihre eigene Kraft zu entdecken.
Im Mittelpunkt steht eine junge Frau Anfang 30, die als Notärztin in Berlin arbeitet und dort verheiratet ist. Welche wesentlichen
Aspekte und Eigenschaften wohnen dieser Figur inne?
JULIA FRANZ RICHTER: Judith sehe ich als Figur, die sehr autonom und selbstbestimmt ist. Sie hat ein relativ kontrolliertes Leben mit einem stabilen
Job, einer stabilen Partnerschaft. Durch das Haus, das sie in Österreich erbt und die Konfrontation mit der Vergangenheit,
verliert sie immer mehr die Kontrolle darüber, wer sie bisher meinte zu sein, über ihre Wahrnehmung und letztlich auch über
ihren Körper.
Erinnern Sie sich an die Begegnung mit dem Drehbuch? Worin lag der Anreiz, diese Rolle zu spielen?
JULIA FRANZ RICHTER: Ich habe das Buch sehr oft gelesen und hatte jedesmal das Gefühl, wieder etwas Neues über die Figur mitzunehmen. Der Film
ist nicht dialoglastig und es gibt keine eindeutige Narration, in der eine psychologische Figurenentwicklung stattfindet.
Judiths Leben, und sie darin, ist anfangs klar umrandet. Über das Eintauchen in das Trauma ihrer Kindheit, die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit, gerät auch ihr Bild von sich selbst, ihre Schutzmechanismen und ihre Art, mit anderen Menschen umzugehen,
immer mehr ins Wanken. Ich fand es spannend, dass es in der Arbeit sozusagen einen umgekehrten Bogen gibt.
Wie ist Julia Franz Richter zur idealen Kandidatin für die Rolle von Judith geworden?
ANDREAS PROCHASKA: Um die richtige Judith zu finden, habe ich in Berlin und Wien sehr viele Schauspielerinnen gecastet. Es geht ja im Casting
nicht primär darum herauszufinden, ob jemand gut spielen kann, sondern ob zwischen der Schauspielerin und dem darzustellenden
Charakter eine Symbiose entsteht. Julia und ich haben uns vor dem ersten Casting getroffen, haben uns über das Buch ausgetauscht
und sind dann in einen intensiven Casting-Prozess getreten.
Nachdem Julia feststand, war die nächste Hürde, einen glaubwürdigen Partner zu finden. Die Geschichte hält sich nicht lange
mit Exposition auf und das Paar muss von der ersten Szene an authentisch sein. Das äußert sich weniger im Dialog, sondern
vielmehr darin, wie man einander ansieht oder berührt. Nach einem weiteren sehr aufwändigen Castingprozess habe ich mit Reinout
Scholten van Aschat den richtigen Partner für Julia gefunden.
Was machte ihn zum passenden Partner?
ANDREAS PROCHASKA: Wir haben Judith so beschrieben, dass sie diejenige in der Beziehung ist, die die Regale an die Wand dübelt. Ryan ist ein
sanfter weltoffener, unterstützender, zugewandter Mann, nett aber nicht langweilig. Er geht leichter durchs Leben, während
Judith weniger zugänglich ist. Die beiden ergänzen sich ideal. Seine Figur macht im Lauf der Geschichte eine Metamorphose
durch, die die Frage in den Raum stellt, ob man seinem Lebensmenschen wirklich vertrauen kann.
Ist die Herausforderung für eine Schauspielerin in einem Genrefilm zu spielen eine andere als in einem Drama?
JULIA FRANZ RICHTER: Jede Figur fordert von mir, dass ich sie ernsthaft durchdringe und sie so verkörpere, dass sie glaubhaft ist und dass man
mit ihr mitgehen kann. In WELCOME HOME BABY entwickelt sich Vieles nicht immer organisch, sondern die Figur wird oft Schlag
auf Schlag mit Situationen konfrontiert, die extrem sind. Stellenweise fühlt man sich vielleicht abgestoßen von dem, was sie
tut oder erlebt. Eine der größten Herausforderungen bestand darin, für diese Art von Kontrollverlust durchlässig zu sein,
denn er lässt sich nicht so richtig vorbereiten, sondern entsteht erst im Moment selbst.
ANDREAS PROCHASKA: Julia ist fast in jeder Einstellung und der Dreh bedeutete auch eine große physische Herausforderung. Es war eine Rolle, die
sehr viel Offenheit und Hingabe gefordert hat. Es war für uns beide entscheidend, ein Grundvertrauen zu finden. Als Mann,
der eine Geschichte über eine junge Frau erzählt, war es mir wichtig, dass Julia mit allem, was ihre Figur macht, einverstanden
ist und dass darüber Einvernehmen herrscht, was wir gemeinsam erzählen wollen.
Judith, diese emanzipierte, autonome Frau, kommt ins Dorf ihrer Kindheit und muss sich an einer ganzen Front an weiblichen
Antagonistinnen reiben. Welche Idee stand hinter dieser, man könnte fast sagen, geballten toxischen Weiblichkeit, die natürlich
die alte Ordnung des Patriarchats vertritt?
ANDREAS PROCHASKA: In jedem Mafiafilm gibt es die kochenden, fürsorglichen Frauen, die das System stützen und die Verpflichtungen einer Generation
in die nächste weitergeben. Diese Mischung aus Fürsorglichkeit und Brutalität war etwas, was mich fasziniert und beschäftigt
hat und immer mehr in die Geschichte eingeflossen ist. Das Umfeld einer dörflichen Gemeinschaft ist geradezu ideal. Wir erzählen
kein Matriarchat, aber ich finde interessant, wieviel Druck auch immer wieder von Frauen auf Frauen ausgeübt wird. Judith
ist plötzlich mit einer Gemeinschaft konfrontiert, die Erwartungen an sie stellt, die sie weder erfüllen kann, noch will.
In WELCOME HOME BABY wird enormer Druck auf Judith aufgebaut, aber letztlich geht es um Befreiung und Selbstermächtigung.
Kennen Sie aus eigener Erfahrung diese Ambivalenz des Zurückkommens an einen Ort, den man hinter sich gelassen hat?
JULIA FRANZ RICHTER: Ich bin ja selbst auch am Land groß geworden. Im Film ist es motivisch für mich so angelegt, dass es einen großen Kontrast
zwischen dem Urbanen und dem Ländlichen gibt, wo Traditionen noch eine größere Rolle spielen. Natürlich kenne ich das Gefühl
wegzuziehen, seinen Weg zu gehen und bei jedem Zurückkommen mich selbst zu diesem früheren Ich in Beziehung zu setzen. Es
wäre aber verkürzt zu sagen, dass das allein mit dem Stadt/Land-Gefälle zu tun hat. Ich bewege mich ja die ganze Zeit in einer
Welt, in der gesellschaftliche Normen, politische Systeme auf mich einwirken. Diese spiegeln sich natürlich auch in persönlichen
Beziehungen wider. Und so erodiert auch die Beziehung zwischen Judith und Ryan immer mehr unter den strengen Regeln und Normen
der Gemeinschaft, in die sie hineingeraten sind.
Wie war die Schauspielarbeit mit all den österreichischen Kolleg:innen Gerti Drassl, Maria Hofstätter, Inge Maux, Gerhard
Liebmann
Wie kam es zu diesem Cast?
ANDREAS PROCHASKA: Es gibt zwei wesentliche Faktoren in jedem Film – das Drehbuch und die Besetzung. Bereits beim Schreiben war klar, dass Gerhard
Liebmann Teil des Ensembles sein würde. Ich schätze ihn als Schauspieler und als Menschen sehr. Er hat die Fähigkeit, jeder
Rolle eine tiefe Menschlichkeit zu geben, egal ob der Charakter gut oder böse ist. Die Frauen aus dem Dorf habe ich mir in
den ersten Buchfassungen älter vorgestellt, ich fand es dann aber interessanter, Schauspielerinnen aus verschiedenen Altersstufen
zusammenzuführen, die glaubwürdig die Frauen verkörpern, die in dieser Gemeinschaft koexistieren. Gerti Drassl ist großartig,
sie kann mit einem Wimpernschlag die Temperatur einer Szene verändern. Sie war die perfekte „Tante“, die alles kontrolliert.
Ich könnte jetzt ins Schwärmen kommen, denn es war auch toll, erstmals mit Maria Hofstätter zu arbeiten und überhaupt war
es ein unheimliches Vergnügen, mit all diesen großartigen Frauen Lebenszeit zu verbringen.
JULIA FRANZ RICHTER: Gerti Drassl, Maria Hofstätter und Inge Maux kannte ich natürlich aus Film und Fernsehen und hielt sie immer für großartige
Schauspielerinnen und Vorbilder. Ich war ziemlich star-struck, als wir begonnen haben zu drehen. Es war eine lustige und lustvolle Begegnung, diese erwähnte mit Brutalität gepaarte Fürsorglichkeit
zu entdecken und mich den unangenehmen und teils ambivalenten Gefühlen zu nähern, die meine Figur mit den ihren verbindet.
ANDREAS PROCHASKA: Eine Geschichte, die in vielen Dingen so ins Extrem geht, kann nur funktionieren, wenn man die Figuren ernst nimmt. Wir haben
in Schottwien in Niederösterreich gedreht und alle Darsteller:innen mussten ins Ortsbild passen. Claus Amler vom Szenenbild,
Christine Ludwig vom Kostüm und Helene Lang, die für die Maske verantwortlich war, haben eine authentische Welt geschaffen,
die nach und nach ins fast Surreale kippt.
Sie haben mit Carmen Treichl als DoP zusammengearbeitet. In Erinnerung bleiben eindrucksvolle Unterwasseraufnahmen und starke
Bilder rund um die Hochzeit – ein Bild, wo man in der Zeit verloren geht. Man hat das Gefühl, es könnte ein Bild aus dem frühen
20. Jh. sein, gleichzeitig sieht man die Hauptdarsteller aus der Gegenwart. Welche Gedanken gab es zu diesem Bild?
ANDREAS PROCHASKA: Es war für mich wichtig, eine künstlerische Partnerin zu finden, die emotional auf die Geschichte und die Figuren eingeht.
Carmen Treichl und ich haben immer versucht die Emotionen der Szenen in Bilder zu übersetzen, und für jede „Schicht“ einen
eigenen visuellen Ansatz finden. In der beschriebenen Szene dreht sich die Welt nicht nur optisch auf den Kopf, und wir haben
nach dem richtigen Bild gesucht, um die Isolation der Hauptfigur innerhalb dieser Menschenmenge fühlbar zu machen. Es war
eine Szene mit vielen Kompars:innen, die wir auch in 40 Einstellungen hätten auflösen können, aber wir haben uns entschieden,
die Szene in nur einer Einstellung zu erzählen. Es ging immer darum, nicht das gute Bild zu finden, sondern das richtige.
Christine Ludwig und ich haben uns viele Gedanken darüber gemacht, wie wir über das Kostüm diese andere Welt zeigen. Wir sind
bewusst an die hundert Jahre zurückgegangen, um fühlbar zu machen, dass es diese Verhältnisse nicht erst seit gestern gibt,
sondern dass diese traditionellen Strukturen seit langem dieser ländlichen Gesellschaft innewohnen. Und Claus Amler hat für
diese Szene ein Wandbild gestaltet, das den Endcredits noch eine eigene Dimension verleiht.
Für die Unterwasser-Szenen gibt es zum Glück inzwischen in Wien ein Becken, das unsere technischen Anforderungen erfüllt hat.
Sie waren komplex in Planung und Durchführung und wir hatten das große Glück, dass Julia die Luft sehr lange anhalten konnte.
Wie lange war es genau?
JULIA FRANZ RICHTER: 2 Minuten 22.
ANDREAS PROCHASKA: Das war ein absoluter Segen für uns. Sonst wäre vieles nicht gegangen.
Welche Einstellungen, Julia, sind Ihnen nun auch mit dem Abstand zum Dreh noch nachhaltig in Erinnerung?
JULIA FRANZ RICHTER: Natürlich bleiben mir jene Einstellungen stark in Erinnerung, die physisch am anstrengendsten waren. Das waren die Unterwasserszenen
und die Blutszenen, weil mir das Blut immer rückwärts in die Nase geronnen ist. Es gab aber auch emotional besonders herausfordernde
Szenen, solche, in der die Fülle an Eindrücken, die Judith verarbeiten muss, so groß ist, dass es manchmal gar nicht so leicht
war, dem nachzukommen. In Erinnerung bleibt mir auch die erste Sequenz, wo die Kamera lange durch die Baumwipfel streift und
ich mit dem Rücken zu ihr stehen und genau den Moment treffen musste, wo sie auf mich gerichtet ist, um mit der Handlung zu
beginnen.
ANDREAS PROCHASKA: Was uns sehr geholfen hat, war der Umstand, dass wir den Film über weite Strecken chronologisch drehen konnten. Wir hatten
das geerbte Haus eigentlich woanders geplant, weit außerhalb des Dorfes und ein Gebäude mitten in Schottwien zunächst nur
als mögliches Studioset geplant. Aber beim Betreten dieses Hauses ist mir ist die Luft weggeblieben: Es war das Haus des Dorfarztes.
Es gab die Praxis, das Wartezimmer, die Hausapotheke und dann hat uns der Besitzer noch auf die Dunkelkammer seines Vaters
hingewiesen. Auf bizarre Weise haben sich Fiktion und Realität überlagert, da all diese Räume im Drehbuch beschrieben waren.
Ich habe umgehend den Produzenten Tommy Pridnig angerufen und ihn gebeten, obwohl wir in das andere Motiv schon viel Zeit
investiert hatten, das neue Haus zu ermöglichen. Glücklicherweise hat er zugestimmt und dieses Motiv hat uns erlaubt, weitgehend
in der Chronologie der Geschichte zu bleiben. Das war für die psychologische Entwicklung der Figur extrem wichtig. Es war
das erste Mal, seit ich Regie führe, dass ich diesen Luxus hatte und dass der logistische Mehraufwand von Produktion und Team
mitgetragen wurde.
JULIA FRANZ RICHTER: Aus spielerischer Perspektive kann ich es mir im Nachhinein gar nicht anders vorstellen, weil so viele Szenen Zustände erzählen,
für die sich erst nach Beendigung einer Szene heraus gestellt hat, ob die folgende mehr Ruhe oder mehr Dynamik brauchte. Die
Möglichkeit zu haben, direkt zu reagieren, wenn eine Szene doch anders ablief, als wir es beim Besprechen des Drehbuchs angedacht
hatten, hat jedenfalls sehr geholfen, sich auf den Sog der Geschichte einzulassen. Bei Filmen, die schwere Themen behandeln,
entlädt sich das aufgestaute Adrenalin bei mir häufig dadurch, dass ich lachen muss, was auch bei diesem Projekt immer wieder
ein Thema war. Am schlimmsten war es wahrscheinlich bei der Szene mit der Topfengolatsche. Ich glaube, ich habe acht Takes
verlacht, jedesmal, wenn meine Kolleginnen die Golatsche zu meinem Mund geführt haben.
Sie haben mit In 3 Tagen bist du tot 2006 den Genre-Film im österreichischen Filmschaffen neu etabliert. Es ist das Genre, in dem Sie sich sehr gerne erzählerisch
ausdrücken. Warum ermöglicht das Genre so viele Ausdrucksmöglichkeiten? Was hat sich da seit In 3 Tagen bist du tot weiterentwickelt?
ANDREAS PROCHASKA: In 3 Tagen bist du tot 1&2 waren ein Experiment. Funktioniert es, das amerikanisch konnotierte Genremuster nach Österreich zu transferieren? Glücklicherweise
ist das Experiment aufgegangen. Aber es wäre nicht richtig gewesen, mich in diesem Muster zu wiederholen. Mit WELCOME HOME
BABY, der auf merkwürdige Art mein persönlichster Film ist, habe ich versucht, die Mittel des Genres zu nützen, um an der
Oberfläche Spannung und wenn man so will „Entertainment“ zu erzeugen, um damit auch ein breiteres Publikum zu erreichen, aber
unter der Oberfläche die Zuschauer mit Fragen zu Trauma, Selbstermächtigung und Identität zu konfrontieren. Technisch hat
sich seit In 3 Tagen bist du tot, den wir auf 16 mm gedreht haben, schon einiges getan. Damals dachte ich noch nicht über den Einsatz digitaler Effekte nach,
die wären auch unbezahlbar gewesen. Mit der digitalen Technik sind nicht nur die Kameras lichtstärker geworden und man kann
mit weniger technischem Aufwand viel erreichen. Man hat am Set ein perfektes Bild am Monitor und erlebt keine Überraschungen
aus dem Kopierwerk. Aber ich bin kein Techniknerd und am Ende zählt nur das, was vor der Kamera passiert, und die Basis sind
quasi Papier und Bleistift, oder irgendein Gerät, mit dem man eine gute Geschichte aufschreibt.
Julia, Sie haben vor unserem Gespräch den Film auf der großen Leinwand gesehen. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?
JULIA FRANZ RICHTER: Ich habe den Film heute zum dritten Mal gesehen. Mich selbst auf der Leinwand sehen, das mag kokett klingen, ist immer schwer
auszuhalten und es braucht mehrere Sichtungen, bis ich vergessen kann, wie ich aussehe und bis ich mir auch nicht denke, das
hätte ich vielleicht anders spielen sollen. Was mich bei den Screenings von WELCOME HOME BABY sehr beeindruckt, ist, dass
es mich physisch bewegt. Es bringt mich in die Zustände, die ich beim Dreh durchlebt habe. Das ist vielleicht ein Aspekt,
den Genrefilme stärker leisten können: Den Rahmen von Kino gewissermaßen zu sprengen, indem sie narrative Ebenen verlassen
und in Zuschauer:innen einen Zustand evozieren, der wirklich etwas Kathartisches haben kann. Man geht aus dem Kino raus und
spürt weiter diese Anspannung im Körper – mehr ein Gefühl als die Idee von einer Geschichte. Das ist in WELCOME HOME BABY
sehr gut gelungen: Das Sich-Gefangen-Fühlen, das immer stärker aufgebaut wird und in das die Figur so hineingetrieben wird,
überträgt sich meinem Empfinden nach total aufs Publikum.
ANDREAS PROCHASKA: Kino ist eine Kunstform, die mich auf so vielen verschiedenen Ebenen berühren kann, wie keine andere Kunstform. Das geht
ins Herz, in den Körper, ins Unterbewusstsein. Ich habe versucht, mit WELCOME HOME BABY eine Geschichte zu erzählen die die
Mittel des Kinos exzessiv nützt, und für die man ins Kino gehen muss, um sie richtig zu erleben. Wenn es dem Film gelingt,
ein Gefühl zu erreichen, an das man sich am nächsten Tag noch erinnert, wäre ich sehr glücklich.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2025