INTERVIEW

«Ein entschleunigtes Roadmovie»

Als ihr Versuch, in New York Fuß zu fassen scheitert, macht sich Lillian auf den Weg zurück in ihre russische Heimat. Zu Fuß treibt sie westwärts übers amerikanische Festland Richtung Beringstraße, wo Russland und die USA beinahe in Verbindung treten, wo die Trennlinie zwischen zwei Tagen gezogen wird. Andreas Horvaths Lillian durchquert die Schichten eines Kontinents und folgt dabei den Spuren einer einsamen Wanderin in einem Roadmovie, in dem sich Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen aufzuheben scheinen.
 
 
 
Ihre Protagonistin Lillian ist von einer historischen Figur inspiriert. Was weiß man heute über Lillian Alling? Welche Aspekte ihrer Geschichte haben Sie inspiriert, sie für eine filmische Erzählung in einen aktuellen Kontext zu transferieren?
 
ANDREAS HORVATH: Als ich die Geschichte 2004 in Kanada zum ersten Mal hörte, gab es noch wenig Informationen über Lillian Alling. Ein Schriftsteller aus Toronto kam gerade von einem mehrmonatigen Aufenthalt in einer Blockhütte aus Alaska zurück und hat mir Lillians Geschichte als Kuriosum aus einem kleinen Heimatmuseum erzählt. Wie die meisten, war ich sofort fasziniert von der simplen Tatsache, dass eine Frau zu Fuß von New York nach Alaska geht, um über die Beringstraße in ihre Heimat zurückzukehren. Inzwischen gibt es einige Bücher über Lillian Alling, einen Wikipedia-Eintrag und sogar eine Oper. Mich hat aber immer schon der universale Aspekt dieser Geschichte interessiert: dass sie es tat, nicht, warum sie es tat. Ich wollte den einzigartigen, wunderschönen Kern der Story nicht mit einer beliebigen Hintergrundgeschichte überfrachten. Daher schien es mir auch überflüssig, den Film in den 1920er Jahren anzusiedeln. Ich glaube, diese Geschichte könnte sich heute, trotz weltweiter Flugverbindungen, genauso zutragen. Ich habe mir Hunderte potentielle Darstellerinnen angesehen und wir haben lange gecastet. Fast alle Bewerberinnen konnten sich ad hoc identifizieren mit der Vorstellung, einfach wegzulaufen.
 
 
Lillian hat Russland (ihre Heimat ohne Perspektiven) verlassen, um sich in den USA (dem Land der vielen Perspektiven) eine Existenz zu schaffen. Als das nicht gelingt, macht sie sich auf den Rückweg. Vom größtmöglichen Kontrast in den Lebenswelten begibt sie sich zu Fuß dorthin, wo die beiden konträren Welten beinahe aneinanderstoßen. Hier schließt sich nicht nur ein individueller, sondern auch ein globaler, topografischer Kreis. Hat über die Figur hinaus, dieser Ort (die Beringstraße/die äußersten Enden von USA und Russland), wo sich Oppositionen aufheben und zwei konträre Welten eins werden, einen narrativen Anstoß geliefert?
 
ANDREAS HORVATH: Ich glaube, Werner Herzog sagte einmal sinngemäß, er möchte so lang auf einer Straße gehen, bis es keine Abzweigungen mehr gibt, bis er am Ende der Welt angelangt sei. Gerade von Herzog kommend, ist das sicher augenzwinkernd zu verstehen. Die Idee vom Ende der Welt stammt schließlich aus der Zeit, als die Welt noch als Scheibe galt. In Zeiten von Google Earth gibt es nicht mehr allzu viele „weiße Flecken“, die ein Gefühl vom „Ende der Welt“ heraufbeschwören. Aber die Beringstraße ist schon ein kurioser Ort. Auch wenn wir uns geeinigt haben, dass die Erde eine Kugel ist, dominiert in unserer Vorstellung wohl oft die verzerrte Darstellung im Atlas: die flache Weltkarte mit Europa im Mittelpunkt. Da ist die Beringstraße plötzlich wieder an den Rand der Welt gerückt — als würde sie eine Art von Anfang oder Ende symbolisieren. Auch die Datumsgrenze verläuft hier.  Der Mensch gerät leicht ins Verzücken beim Anblick einer scheinbar unberührten Landschaft im Yukon oder in Alaska, aber Archäologen betonen immer wieder, dass es selbst an den entlegensten Orten falsch sei, anzunehmen, dass noch nie jemand vor uns hier war. Zwischen indigenen Walfängern dies- und jenseits der Beringstraße herrschte über Jahrtausende hinweg ein reger Austausch. Das hat sich lediglich geändert, als Tschukotka in Sowjetzeiten zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurde.
 
 
Lillians Weg zurück nach Russland beginnt nicht wie ein bewusster, vorbereiteter Aufbruch – sie kümmert sich weder um gute Schuhe noch um Proviant –, sie scheint vielmehr wie ein Stück Holz auf dem Fluss aus der Stadt NY hinauszutreiben und sich einfach dem Fluss der Dinge zu überantworten. Wie sehr lässt sie bereits am Beginn dieser Rückkehr und trotz des steten Vorwärtsgehens das Leben hinter sich?
 
ANDREAS HORVATH: Ich frage mich, ob die echte Lillian Alling nicht an Poriomanie litt, einer dissoziativen Amnesie oder Fugue, die über Monate hinweg andauern kann und Betroffene dazu bringt, mehr oder weniger grundlos von zuhause wegzulaufen. Es kommt vor, dass Menschen vor die Tür treten, um eine Zigarette zu rauchen und nicht wieder zurückkehren. Nach Monaten findet man sie vielleicht zufällig an einem anderen Ort der Welt. Oft geben sie vor, sich nicht erinnern zu können, wo sie waren oder dass sie überhaupt weg waren. Der erste dokumentierte Fall war Albert Dadas, ein Angestellter aus Bordeaux, der im 19. Jahrhundert mehrmals spontan aufbrach, und zu Fuß bis nach Moskau oder zum damaligen Konstantinopel ging. Auch heute noch gibt es immer wieder ähnliche Fälle. Eine Fugue kann durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst werden. Das muss aber nicht sein. Unter Umständen kann auch eine ausweglose Situation schon als traumatisch empfunden werden. Es ist im Nachhinein oft schwer festzustellen, inwieweit die Betroffenen Erinnerungslücken nur vortäuschen. Ich wollte diese Fragen bewusst offenlassen.
 
 
Die Rolle der Lillian ist eine konsequent stumme Rolle. Warum haben Sie sich für vollkommene Schweigen entschieden? Welche Anforderung bedeutete dies für das Casting.
Was verkörpert Patrycja Planik, um für diese Rolle die treffende Besetzung zu sein?
 
ANDREAS HORVATH: 2005 wurde ein verwirrter Mann in einem völlig durchnässten Anzug an einem Strand in England aufgefunden. In der Klinik weigerte er sich zu sprechen, zeichnete jedoch auf einem Zettel ein Klavier. Als man ihn an ein Klavier setzte, fing er angeblich an, stundenlang zu spielen. Seither ist er als der Piano-Mann bekannt. Die abenteuerlichsten Gerüchte kursierten über ihn: dass er als Pianist von einem Kreuzschiff gesprungen sei, etc. Aus der ganzen Welt gingen Hinweise ein, um wen es sich handeln könnte. (Später stellte sich heraus, dass er am Klavier angeblich immer nur dieselbe Taste anschlug.) Nach Monaten brach er jedenfalls plötzlich sein Schweigen und deklarierte sich einer Krankenschwester gegenüber völlig überraschend als Deutscher, der auf einem Bauernhof in Bayern aufgewachsen war.
Ich glaube, dass Menschen, die einen Schritt wie Lillian setzen, nicht unbedingt das Bedürfnis haben, zu kommunizieren. Es wird im Film klargemacht, dass Lillian sehr wohl sprechen kann. Aber ob, oder wie gut sie als Russin englisch spricht, bleibt offen. Sie schweigt allein schon aus Selbstschutz, um nicht sofort als Ausreißerin erkannt zu werden. Sie ahnt, dass selbst gut gemeinte Versuche, ihr zu helfen, ihr Unterfangen gefährden könnten. Die echte Lillian Alling zum Beispiel wurde in British Columbia wegen Landstreicherei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil ein wohlwollender Sheriff sie daran hindern wollte, ihren Fußmarsch im nahenden Winter fortzusetzen. Vielleicht würde sie im Gefängnis ja auch ihr Vorhaben überdenken. Aber sobald sie ihre Strafe abgesessen hatte, machte sich Lillian im nächsten Frühjahr wieder auf den Weg. Diese resolute Haltung, diese Härte und Verbissenheit muss man der Figur abnehmen können. Lillian lebt in ihrer eigenen Welt. Patrycja war für mich gar nicht so sehr eine Darstellerin, sondern vielmehr eine Verkörperung dieser Eigenschaften.
 
 
Was hat es für die Dreh- und Regiearbeit bedeutet, mit einer einzigen Protagonistin im buchstäblichen Sinn auf eine Reise aufzubrechen. Sind Aspekte der Figur der Lillian gemeinsam mit der Arbeit mit Patrycja entstanden?
 
ANDREAS HORVATH: Auf jeden Fall. Wenn wir mit dem Auto irgendwo stehengeblieben sind, ist Patrycja als erste rausgesprungen, allein in den Wald gerannt und nach kurzer Zeit zum Beispiel mit einer Adlerfeder im Haar zurückgekommen. Sie hat sich sehr stark mit der Figur identifiziert und ein unglaubliches Gespür entwickelt. Wir haben viel über Lillian gesprochen und Patrycja hat den Charakter ganz entscheidend mitgeprägt.
 
 
Nach welchen Überlegungen haben Sie die Route und vor allem die Drehorte festgelegt. Welche Landstriche waren Ihnen besonders von Bedeutung?
 
ANDREAS HORVATH: Die Geschichte hat mich auch deshalb fasziniert, weil ich wusste, dass die Route durch Teile Nordamerikas führt, die mir sehr vertraut sind, die aber im Kino oft unterrepräsentiert sind. Auf dem Weg von New York in Richtung Westen erleben wir die Industrieruinen und Highway-Labyrinthe des Rust-Belt, die bukolischen Maisfelder des Corn-Belt, die desolate Steppenlandschaft der Nebraska-Sandhills jenseits des Missouri, die surreale Wüstenei der Badlands in South Dakota, die Black Hills, die den Ureinwohnern heute noch als heilig gelten, die kontinentale Wasserscheide der Rocky Mountains, die ökologisch verheerende Ölsandgewinnung in Kanada und die alten Goldgräberstädte im Yukon. Diese Orte sind reich an Geschichte. Lillians Route folgt teilweise der Expedition von Lewis and Clark, oder den unzähligen Pioneer-Treks nach Westen.
 
 
Obwohl die Erzählung vollkommen auf eine Person fokussiert ist, dokumentieren Sie im Subtext ganz punktuell immer auch das aktuelle Amerika: zum Teil über Beobachtungen von Details, aber auch über politische Kundgebungen, immense Industrieanlagen im Hintergrund etc. War es Ihnen ein Anliegen, als Dokumentarfilm- und Spielfilmregisseur zugleich zu agieren?
 
ANDREAS HORVATH: Ja, es war die Idee, dass der Film auf der Reise entsteht, dass konkrete Situationen, die man unterwegs vorfindet, die Geschichte erst entstehen lassen. Lillians Weg führt durch die sogenannten Fly-over-states: die Staaten fernab der Küsten, in denen sich viele Menschen von Washington oder Hollywood falsch verstanden, oder gar nicht wahrgenommen fühlen. Phänomene wie George W. Bush oder Donald J. Trump lassen sich durch die allgemeine Stimmung in diesen Landstrichen erklären. Andererseits sieht man, dass auch die Konflikte mit den Ureinwohnern nach Jahrhunderten keineswegs beigelegt sind und jederzeit neu entfacht werden können.
 
 
Wie lassen sich rückblickend die Dreharbeiten erzählen? Über welchen Zeitraum und in wieviele Drehetappen erstreckte sich die gesamte Dreharbeit? Wie klein war das Team? Als wie plan- bzw. nicht planbar erwiesen sich oft die Etappen? Mit welchen Schwierigkeiten waren Sie konfrontiert?
 
ANDREAS HORVATH: Wir mussten im September 2015 mit dem Dreh der Schlusssequenz in Sibirien, auf der russischen Seite der Beringstraße, beginnen. Für den Hauptdreh 2016 gab es sieben Drehblöcke zu je zwei Wochen. Das Team wurde jeweils extra eingeflogen. Als Kameramann hatte ich eine Assistentin, Sonja Aufderklamm, die teilweise auch zweite Kamera gemacht hat, für den Ton war Klaus Kellermann und einmal Claus Benischke-Lang zuständig. Dazu kam dann noch eine Produktions-, bzw. Aufnahmeleitung aus den USA (Joan Grossman bzw. Chris Shaw). Während der Drehblöcke waren wir also zu fünft. Ich war von Februar bis Dezember durchgehend in Nordamerika und bin die gesamte Strecke von New York bis Anchorage, Alaska mit dem Auto gefahren. Bis auf wenige Unterbrechungen war die Darstellerin die ganze Zeit mit dabei. Zwischen den Drehblöcken haben wir recherchiert, aber auch viel gedreht. Ein Viertel des fertigen Films, über eine halbe Stunde, haben wir zu zweit gedreht.
Die größte Schwierigkeit war wohl, dass der Film wie ein Dokumentarfilm entstanden ist, und somit unklar war, was auf der Reise noch alles passieren würde, man aber die gleichzeitig sich entwickelnde Spielfilmhandlung nie aus den Augen verlieren durfte.
 
 
Wie haben Sie die Episoden von Lillians Begegnungen mit Menschen – Sheriff, Pick-up-Fahrer, Verkäuferinnen – unterwegs eingebaut? Spielten da auch Zufallsbegegnungen eine Rolle oder haben Sie dafür gecastet und mit Schauspielern gearbeitet?
 
ANDREAS HORVATH: Ursprünglich war zwar angedacht, dass wir szenenweise eventuell Schauspieler hinzuziehen, aber das hat sich sehr bald erübrigt. Einzig der Pick-up-Fahrer, der Lillian nachstellt, war für einen Drehblock unser Produktionsleiter Chris Shaw — eigentlich ein Software Entwickler aus San Francisco. Er hat sich aber sehr glaubhaft in die Rolle eines Rednecks hineinversetzt. Alle Verkäuferinnen spielen sich selbst. Auch der Sheriff hat sich selbst gespielt, wenn er nicht gerade die Straße für uns abgesperrt hat. Auf ihn bin ich gestoßen, als ich im Ort Monowi in Nebraska recherchiert habe. Das Städtchen hat es zu ein wenig Berühmtheit gebracht, weil dort nur noch eine Person lebt. Nachdem ihr Mann gestorben ist, führt die letzte Verbliebene die einzige Bar, die einzige Bibliothek und ist gleichzeitig die einzige Ansprechperson in der „Stadtverwaltung“. Als ich sie in der Bar besuchte, kam plötzlich der Sheriff vom Nachbarort herein. Durch Gespräche mit ihm wurde klar, wie er mit einer Landstreicherin normalerweise verfährt. Die Szene zwischen ihm und Lillian ist also nicht ausgedacht, sondern würde sich genau so abspielen. Ich habe neulich wieder mit dem Sheriff telefoniert, der mir gesagt hat, dass sich Fälle von sogenannten „Walkers“ (Fußgänger ohne Ziel) in Nebraska häufen, seit wir mit ihm gedreht haben.
 
So realitätsnah das Setting von Lillians Fußmarsch ist, so elliptisch und der Wirklichkeit enthoben ist die Erzählung davon: Ob sie gar nicht mehr spricht, oder der Film die Szenen, wo sie spricht nicht zeigt, erfahren wir nicht. Unüberwindbare Natur, Verirren, Hunger und Durst, blutige Füße tauchen immer nur in Andeutungen auf, ihre Überwindung wird nie auserzählt. Wie würden Sie Ihren Zugang zum fiktiven Erzählen beschreiben?
 
ANDREAS HORVATH: Ich wollte ein ungewöhnliches, meditatives Roadmovie machen. Es gibt Reisefilme, die durch Zeitraffer einen besseren Eindruck von geografischen Zusammenhängen vermitteln. Ein frühes Beispiel dafür ist Oskar Fischingers Film München-Berlin Wanderung, der übrigens exakt zu selben Zeit entstanden ist, als Lillian Alling an die Beringstraße wanderte: 1927 ging Fischinger in drei Wochen zu Fuß von München nach Berlin und montierte Landschaftsimpressionen und Zufallsbekanntschaften zu einem fünfminütigen Stummfilm. Man erhält so nicht nur einen Eindruck von der sich verändernden Landschaft. Die schnelle Abfolge der Bilder erweckt neue Assoziationen und lässt die Reise wie Erinnerungsfetzen aus einem Traum erscheinen. Etwas ähnliches schwebte mir in Zeitlupe vor: ein entschleunigtes Roadmovie mit Lillian als Protagonistin und einem übermächtigen Antagonisten — dem nordamerikanischen Kontinent.


Interview: Karin Schiefer
Mai 2019



 
 
«Die echte Lillian Alling zum Beispiel wurde in British Columbia wegen Landstreicherei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil ein wohlwollender Sheriff sie daran hindern wollte, ihren Fußmarsch im nahenden Winter fortzusetzen. Aber sobald sie ihre Strafe abgesessen hatte, machte sich Lillian im nächsten Frühjahr wieder auf den Weg.»