INTERVIEW

«Die einzige Person, die ihrem Leben Vorgaben setzt, ist sie selbst.»

Was für Ruth Kaaserer als Treffen mit einer älteren Frau in einem männerdominierten Leistungssport begann, entpuppte sich als Begegnung mit einer Persönlichkeit, die sich auf ihr Leben als Abenteuer einlässt. Aus einem respektvollen Spiel von Nähe und Distanz entsteht in Gwendolyn das Portrait einer Frau der unendlichen Facetten und Kontraste.
 
 
In Tough Cookies porträtierten Sie drei junge amerikanische Boxerinnen, in Gwendolyn eine ältere Dame, die Gewichtheben als Wettkampfsport ausübt. Ist der Blick auf Bewegung/Sport etwas, das sich in Ihrem Umgang mit dem Bewegtbild wie von selbst ergeben hat?
 
RUTH KAASERER: Bewegte Körper im Film faszinieren mich. „A Study in Choreography“ von Maya Deren oder die Filme von Babette Mangolte über die Tänzerin Trisha Brown haben mich u. a. sehr inspiriert. Bei beiden haben die Körper so eine starke Präsenz. Auch wenn der Tanz weit entfernt von einem Kraftsport sein mag, so geht es doch auch um die Bewegung und darum, dass die Person, die ihn ausübt, völlig versunken in ihrem Körper ist. Wie aber so archaische Sportarten wie Boxen oder Gewichtheben ins Bild setzen, ohne sie hässlich darzustellen und auch ohne sie zu verherrlichen? Darüber hinaus habe ich mich gefragt, wie beispielsweise der Schmerz, den das Training mit sich bringt, vermittelbar ist. Bevor ich Gwendolyn kennen lernte, hatte ich unter GewichtheberInnen kräftige SportlerInnen mit muskulösen Oberschenkeln und schmerzverzerrten Gesichtern vor Augen. Gwendolyn mit ihrer zarten Figur hat diesen Sport so leicht aussehen lassen. Daran konnte ich mich gar nicht satt sehen. Mit Serafin Spitzer, der die Kamera gemacht hat, habe ich viel darüber geredet, wie wir die immer gleichen Bewegungsabläufe ins Bild setzen können. So schnell konnten wir gar nicht zusehen bevor das Gewicht schon wieder unten war und das Training vorbei. Anfangs wollten wir verstehen, wann ein Versuch gelungen ist oder nicht. Im Laufe der Zeit sind wir allerdings davon abgekommen, weil es sehr schwer für Außenstehende zu erklären ist. Wir haben uns schließlich entschieden, der Kommunikation zwischen Gwendolyn und ihrem Trainer Pat zu folgen. Ihre miteinander vertrauten Bewegungen kamen mir ohnehin wie eine Chorographie vor.

 
In beiden Filmen steht eine Sportart im Mittelpunkt, die eindeutig männlich dominiert und konnotiert ist? Warum fiel die Wahl auf diese Sportarten?
 
RUTH KAASERER: Wenn eine Frau einen Sport ausübt, der eher Männern zugeschrieben wird, dann überschreitet sie eine Grenze. Es ist absurd, dass das heutzutage überhaupt noch ein Thema ist. Da das Boxen an vielen Orten lange Zeit keine Frauen zuließ, es aber doch ein großes Bedürfnis von Frauen gibt, es auszuüben, hat es mich besonders angesprochen. Auch mein Interesse für das Gewichtheben hat sich daraus ergeben. Diesmal wollte ich eine ältere Frau in den Mittelpunkt meines Films stellen, die im Leben schon etwas erreicht hat. Über den Sport hinaus interessierte mich das Thema Älterwerden und was es im Besonderen für eine Frau bedeutet.
 
 
Wie hat Gwendolyn Leick Ihr Interesse erweckt?
 
RUTH KAASERER: Die Begegnung mit Gwendolyn verdanke ich einer Freundin, der ich von meiner Suche nach einer Gewichtheberin erzählte und die sie privat kannte.
Zum Zeitpunkt meiner Kontaktaufnahme hatte Gwendolyn ihre zweite große Krebsoperation vor sich und daher war es fraglich, ob sie mich überhaupt kennen lernen wollte. Gegen alle Bedenken empfing sie mich bei sich zu Hause zum Essen. Es war ein langer Abend, an dem sie mir viele Geschichten erzählte. Am Tag nach ihrer Operation besuchte ich sie im Krankenhaus. Obwohl sie geschwächt war und eine große Narbe am Hals hatte, witzelte sie am Telefon mit ihrem Sohn Joseph darüber, dass sie hier ihre eigene Suite hätte. Ich war sehr berührt von dieser tapferen Frau, die selbst in so einem Moment noch Humor hatte. Danach wusste ich, dass ich den Film mit ihr machen wollte.

 
In Ihrer ersten Einstellung von GWENDOLYN zeigen Sie die Abnahme eines Verbandes – wir sehen, dass wir es mit einer Frau zu tun haben, die auf irgend eine Weise verwundet ist, die als weiße Frau einen jüngeren schwarzen Mann an ihrer Seite hat; in einer zweiten Szene, sieht man, dass diese zarte Frau Gewichte stemmt. Mit zwei Bildern ist klar, dass wir es hier mit einer Frau mit unzähligen Facetten zu tun haben. War es eine der Herausforderungen dieses Films, einen Menschen in dieser Vielfalt zu erfassen, hat sich die Figur von Gwendolyn gerade deshalb als faszinierendes Filmthema erwiesen?
 
RUTH KAASERER: Um Gwendolyns vielseitiger Persönlichkeit gerecht zu werden, war es notwendig, nicht alles zu zeigen, sondern mich auf ganz bestimmte Aspekte zu konzentrieren. Sie hat eine unersättliche Wissbegier in so vielen Bereichen, von Literatur über Film, Kunst und Musik. Um mich mit ihren Interessen und ihrem Lebensrhythmus vertraut zu machen, haben wir auch außerhalb des Filmes viel Zeit miteinander verbracht. Besonders fragte ich mich, wie ich ihre intellektuelle Seite darstellen könnte. Ich lernte sie zu einem Zeitpunkt kennen, wo sie gerade in Pension gegangen und in eine neue Wohnung gezogen war. Ihre beeindruckende Karriere als Anthropologin und Assyreologin lag in der Vergangenheit. Es war wie ein neuer Lebensabschnitt. Anstatt mich darauf zu konzentrieren, was nicht mehr war, entschied ich mich, sie ein Jahr lang mit der Kamera zu begleiten. Die Veränderungen waren ja ohnehin spürbar. Was ich sehr mutig fand war der Umstand, dass sie gefilmt werden wollte, obwohl ihre rechte Gesichtshälfte gelähmt war. Es wurde damals ein Nerv eingesetzt, der aber trotz Hoffnungen nicht wuchs. Im Laufe der Drehzeit hat sich Gwendolyns Gesicht durch plastische Eingriffe, die dem entgegenwirkten, stark verändert. Die Cutterin Joana Scrinzi und ich haben erst überlegt, chronologisch zu schneiden, was uns aber sehr eingeschränkt hätte. Ab dem Zeitpunkt, wo wir diese Chronologie ignorierten, konnten wir jedoch viel gelöster arbeiten.
 
 
Was beide Filmthemen vereint, scheint der Umstand, dass sie sich mit ihren Protagonistinnen auf eine Reise, auf ein prozesshaftes Erzählen ins Ungewisse eingelassen haben. Wie gestaltete sich die Terminfindung und Dauer des Drehs. Inwiefern gab es auch eine Phase des Hineinfindens in Gwendolyns Leben und ihre Persönlichkeit?
 
RUTH KAASERER: Das Gewichtheben war von Anfang an ein wichtiger Strang im Film, da es eine Konstante in Gwendolyns Leben ist. Für den Film war es letztendlich sehr gut, dass sie zur Weltmeisterschaft nicht mehr antrat und sich stattdessen ein neuer Raum für ihr Schreiben öffnete. Gwendolyns unterschiedliche Interessen haben die Idee verstärkt, nicht gleich von Beginn an alles offenzulegen, sondern ganz langsam aufzublättern.

 
Es ist ja auch ein Paradoxon in ihrer Lebensgeschichte, dass sie bei einer Sache, mit der sie sich nicht wirklich identifiziert, Meisterschaften gewinnt, während sie sich bei der eigentlichen Sache, die ihrem Wesen entspricht, im Hintergrund hält. Wohl einer von vielen Widersprüchen ihrer Persönlichkeit?
 
RUTH KAASERER: Gwendolyn sagt im Film zu ihrem Sohn Joseph, dass sie sich, wenn sie einen Vortrag hält, ganz in ihrem Element fühle – etwas, was sie beim Antreten auf der Bühne im Wettkampf so nie empfunden hat. Dass sie es trotz dieses Unbehagens zur dreifachen Weltmeisterin geschafft hat, ist ebenso überraschend wie Vieles an ihr. Gwendolyn ist eine Grenzgängerin, die vor nichts Angst hat und die sich immer wieder neu erfindet. Die einzige Person, die ihrem Leben Vorgaben setzt, ist sie selbst. In diesem Sinne habe ich sie immer als Abenteurerin gesehen. Sie hat keinerlei Berührungsängste. Was andere niemals wagen würden, möchte sie erfahren. Zum Beispiel ihre Krebserkrankung – anstatt dagegen anzukämpfen setzt sie sich damit auseinander. Diese Haltung macht einen wichtigen Teil ihres Wesen aus.

 
Gwendolyn ist eine starke, sehr autonome Frau, die Sie in erster Linie in ihren Beziehungen zu Männern portraitieren: zu ihrem Mann Charlie, ihrem Trainer Pat und ihrem jüngeren Sohn Joseph.
 
RUTH KAASERER: Diese Beziehungen sind in ihrem Leben sicherlich die wichtigsten, auch wenn sie darüber hinaus viele Freundinnen hat. Bei allen drei Beziehungen habe ich ein starkes Vertrauen gespürt, ein Aufeinander-Aufpassen. Was ich bei ihrem Sohn Joseph sehr interessant finde, ist, dass er stickt. Das ist so eine genaue Arbeit, die die weiche Seite dieses starken Mannes unterstreicht. Während er einen Quilt macht, fügt seine Mutter ähnlich patchworkhaft ihre Texte zusammen. Im Film haben die beiden poetische Konversationen miteinander. Ich habe selten eine Mutter so mit ihrem Sohn sprechen hören wie Gwendolyn und Joseph. Charlie, ihr Mann, interessiert sich weniger für ihre intellektuelle Seite. Andere Menschen würden sich vielleicht eher einen Partner suchen, mit dem sie eine ähnliche Form des Austausches haben können. Gwendolyns und Charlies Beziehung lebt aber gerade von ihrer Unterschiedlichkeit und Unabhängigkeit voneinander. Charlie und Gwendolyn finden im Film über etwas ganz Einfaches – das Kochen – zueinander. Pat, Gwendolyns Trainer, ist im Film die wichtigste Nebenfigur. Er  hegt und pflegt nicht nur den Trainingsraum, sondern in großer Fürsorglichkeit und mit Selbstverständlichkeit auch Gwendolyn. Mehr noch, er verehrt sie. Ihm vertraut sie ihre Sorgen an. Zwischen den beiden besteht eine unerschütterliche Freundschaft. Pat ist wie ein Schauspieler: Ihn dabei zu beobachten, mit welcher Sicherheit er sich in seinem Körper bewegt, wie er geradezu durch den Raum tanzt und zu sehen, wie er für Gwendolyn da ist, hat mich sehr berührt.  Außerdem kommt mit ihm noch ein weiterer Aspekt hinzu, das Älter-Werden, das durch die Beziehung der beiden spürbar wird, da sie es gemeinsam erleben.
 
 
Eine der besonderen Stärken Ihres filmischen Erzählens, ist es, dass Sie etwas wie eine Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz schaffen. Ist dies eine Prämisse in ihrem Zugang zu ihren Figuren?
 
RUTH KAASERER: Es ist mir wichtig, ihnen Raum zu lassen. Dennoch erzähle ich die Geschichte aus meiner Perspektive. Gwendolyn bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit vor der Kamera. Dieses Potential wollte ich nützen. Wir haben meistens gezielt gedreht. Es gab einen Plan, wo die jeweilige Szene stattfinden und worum sie sich inhaltlich drehen würde. Innerhalb dessen konnten sich Gwendolyn und die anderen Figuren frei bewegen. Natürlich gab es dabei auch Grenzüberschreitungen. Zum Beispiel der Moment im Aufwärmraum knapp bevor Gwendolyn in den Wettkampf ging. Da war sie so nervös, dass sie nicht die Kamera dabei haben wollte. Ich wusste aber, dass ich das auf keinen Fall auslassen konnte. Es hat einige Überzeugungsarbeit gebraucht.

 
Gwendolyn geht mit Mantel und Seidenschal in einen rudimentären Trainingsraum in einen Hinterhof. Sie ist eine Person, die schon nach außen hin, starke Kontraste in sich vereint.
 
RUTH KAASERER: Das mag ich sehr an ihr, dass sie sich nicht zuordnen lässt. Sie weiß, dass sie in kein Rollenbild passt. Das will sie eben gerade nicht. Sehr gefallen hat mir auch ihr Kleidungsstil. Wir haben immer genau überlegt, was sie zum Dreh anzieht. Ich wollte ihre Freude an Farben und ihre Eleganz vermitteln. Gwendolyn bewahrt fast immer die Haltung. Mich hat besonders interessiert, wann sie diese fallen lässt. Als ich sie darauf angesprochen habe, ob es Momente gäbe, wo ihr zum Weinen zumute sei, hat sie die Musik von Franz Schubert genannt. Auch wenn sie in der Szene, wo sie Schubert hört nicht weint, so ist es für mich eine bedeutungsvolle Szene, in der sie ganz für sich ist. Die Six moments musicaux tauchen auch an anderen Stellen im Film auf. Das Tolle an ihnen ist, dass sie so unterschiedlich sind, wie Gwendolyn selbst auch.
 
 
Gwendolyn spricht im Film mehrere Sprachen, lebt seit 40 Jahren in England. Man hört dennoch noch ihren österreichischen Akzent durch. Wie sieht ihr Verhältnis zu Österreich aus? Ich hatte den Eindruck, dass Schuberts Musik eine Verbindung zum Land ihrer Herkunft herstellen sollte?
 
RUTH KAASERER: Der Musikbezug ist dadurch entstanden, weil Gwendolyn diese Musik liebt und sie mir sehr passend für den Film erschien. Gwendolyn hat ein positives Verhältnis zu Österreich und hat sich auch ihren steirischen Dialekt bewahrt. Ich hätte das ursprünglich gerne im Film gezeigt und habe auch in ihrem Heimatort in der Steiermark einen Probedreh mit ihr gemacht. Es hat sich einfach nicht richtig angefühlt. Vielmehr ist sie mittlerweile in London zu Hause. Gwendolyn hat ihren Vater, der Landarzt war, mit neun Jahren durch einen Autounfall verloren. Er war der Held ihrer Kindheit. Sie hat erzählt, dass sie sich als Kinder beim Spielen an seinen Hals hängten und schauten, wer am längsten durchhalten würde. Dieses Bild fand ich sehr stark. Auch wenn es nicht in den Film gefunden hat, so doch in einer anderen Form, als Gwendolyn gegen Ende des Films einen Text über den Vater liest und dabei sehr viel über sich selbst erzählt.

 
Es gibt im Film einen Moment, wo sie mit ihrem Sohn am Boden sitzt und über eines seiner Tischtücher spricht, das – so ihre Worte – auch als ihr Leichentuch dienen könnte. Sie beginnen über einen idealen Ort für den Lebensabend zu philosophieren. Ihre Londoner Wohnung und ihre Leben in der Stadt bezeichnet sie als pars pro toto, als kleine Welt, die genügt, um Teil am Ganzen zu haben.  Diesem Prinzip folgt auch Ihr Film, der völlig in der Gegenwart bleibt und dennoch ganz ohne Rückblende ein ganzes Leben erzählt; er fokussiert auf das „kleine“ Leben  eines Menschen und beantwortet viele große Fragen der Existenz dabei.
 
RUTH KAASERER: Gwendolyn hat eine hochinteressante Familiengeschichte. Ihre Großmutter, die zu einer Zeit Ärztin war, wo noch kaum eine Frau diesen Beruf ergriffen hat, war eine wichtige Bezugsperson für sie. Die Großmutter war aus einem sehr wohlhabenden Haus aus den USA nach Österreich gekommen, um einen Offizier zu heiraten und hat hier ein ganz anderes Leben angenommen. Sie hat bereits Grenzen überschritten. Diese Herkunft spürt man im Auftreten von Gwendolyn, jedoch ohne jegliche Arroganz.
Für mich strahlt sie Ruhe aus – und doch scheint sie immer in Bewegung, alles um sich herum aufnehmend zu sein. Aufgrund ihrer Krankheit weiß sie besonders um die Vergänglichkeit des Lebens. Dieses Bewusstsein nimmt sie an und kann sich so eben an ganz einfachen Dingen wie einem Stück Blumenwiese freuen. Gleichzeitig sucht sie beim Gewichtheben ihre körperlichen Grenzen. Sie ist eine Frau voller Widersprüche, eben eine Abenteurerin.


Interview: Karin Schiefer
November 2017