Flavio Marchetti führt im Filmkollektiv La Banda in der Regel die Produktionsagenden. Für Tiere und andere Menschen hat er erstmals ins Regiefach gewechselt und sich einem Thema gewidmet, das ihm seit früher Kindheit nahe steht, auch wenn
letztlich ein zufälliger Besuch im Wiener Tierschutzhaus den Auslöser für seine filmischen Beobachtungen der Affinitäten zwischen
Mensch und Tier geliefert hat. Tiere und andere Menschen eröffnet einen ungeahnten Kosmos an Groß- und Kleingetier in einer ehrwürdigen Wiener Institution und setzt Gedanken
über den Umgang einer Gesellschaft mit dem Schwächeren in Gang.
Wie entdeckt man das Wiener Tierschutzhaus?
FLAVIO MARCHETTI: Die Geschichte ist sehr simpel. Uns ist vor einigen Jahren im Urlaub eine Katze zugelaufen und da wir wussten, dass Einzelhaltung
Katzen nicht gut tut, entschieden wir uns für eine zweite Katze. Eine kurze Internetrecherche führte uns dann schnell zum
Wiener Tierschutzhaus. Eine große Entdeckung für mich. Ich kannte Tierheime bisher nur aus Italien, die eher klein und eher
mangelhaft organisiert waren. Das Wiener Tierschutzhaus ist eine große Institution mit einer 170-jährigen Geschichte, die
nicht nur für Hunde und Katzen zuständig ist, sondern sich auch jedes Jahr tausenden von Wildtieren und teilweise Exoten kümmert,
die meist von Beschlagnahmungen stammen. Aber eben auch für Eigentümerabgaben, wenn sich z.B. kranke oder alte Leute nicht
mehr um ihre Haustiere kümmern können.
Wie hat dieses Schlüsselerlebnis der Katzensuche in der weiteren Folge den Anstoß zu einem Filmprojekt geliefert? Hat
es auch etwas mit der unsichtbaren Arbeit rund um eine Nebensächlichkeit zu tun, die öffentlich kaum wahrgenommen
wird?
FLAVIO MARCHETTI: Es hat mich genau diese soeben angesprochene Vielfalt so unheimlich begeistert. Ich kannte Hunde- oder Katzenheime, vielleicht
noch eine Greifvogelstation. Aber dass alles unter einem Dach ist und es sogar Primaten gibt, das hat mich begeistert. Was
mich zusätzlich beeindruckt hat, war die Haltung der Leute dort, als wir auf unserer Katzensuche waren. Ich spürte eine gewisse
Skepsis uns gegenüber, sie wollten nicht einfach nur schnell eines ihrer Tiere loswerden. Es überkam mich so ein Gefühl von
Arche Noah und ich verspürte den Wunsch, mehr Zeit dort zu verbringen. Der Verein gibt auch eine Zeitschrift voller kurioser
Geschichten heraus, die ich immer wieder gelesen habe. Bis die Filmidee konkrete Formen annahm, sind noch viele Jahre vergangen.
Dann begannen wir, regelmäßig hinzufahren, Fotos zu machen, bis der Moment da war, wo wir uns sicher waren, dass wir diesen
Film angehen sollten.
Wie stand die das Wiener Tierschutzhaus zur Filmidee?
FLAVIO MARCHETTI: Die Führung war natürlich begeistert. Ein Verein, der auf Spenden angewiesen ist, interessiert sich auch für Präsenz in der
Öffentlichkeit. Die Begeisterung der Mitarbeiter hat sich eher in Grenzen gehalten. Ein Tierschutzheim ist ein Ort, über den
sehr viel berichterstattet wird. Fernsehsender tauchen immer wieder auf, um in wenigen Minuten eine rührselige Geschichte
zu drehen. Journalisten gegenüber haben sie daher eine sehr distanzierte Haltung. Wir machten ihnen klar, dass wir ganz im
Gegenteil sehr viel Zeit dort verbringen würden und jederzeit gesprächsbereit waren, falls wir etwas lieber nicht drehen sollten.
Wir versuchten, so viel Vertrauen aufzubauen, dass wir nicht mehr wie ein Fremdkörper, sondern wie ein Teil des Hauses wahrgenommen
wurden.
Der Titel lautet Tiere und andere Menschen. Wann ist der Gedanke aufgetaucht, Tiere als etwas Menschengleiches
betrachten?
FLAVIO MARCHETTI: Ich glaube nicht, dass mir der Gedanke während dieses Projektes gekommen ist, es ist ein Gedanke, der mich immer schon begleitet
hat und der durch die Dreharbeiten ganz deutlich an die Oberfläche gekommen ist. In den Tieren menschlichen Züge zu erkennen,
ist für mich ein selbstverständlicher Gedanke, weil ich so aufgewachsen bin. Der Zugang zu Tieren und das Spiegelbild, das
sie dem Menschen zurückwerfen, haben mich immer fasziniert. Ich bin in Rom aufgewachsen, mein Großvater war und heute noch
meine Cousins sind Metzger. Gleichzeitig sind meine Eltern begeisterte Tierliebhaber; auf unserer Terrasse in Rom haben immer
mehrere Tiere gelebt manchmal viele Jahre, manchmal nur für kurze Zeit, ehe sie weitergegeben wurden. In meiner
Kindheit existierte auf dieser Terrasse ein Kosmos mit Papageien, Hunden, Katzen, Schildkröten, Enten und in der Stadt gefundenen
Wildtieren, wie eine verletzte Amsel o.ä. Für mich war es immer selbstverständlich, mit vielen Tieren aufzuwachsen.
War also das rätselhafte Verhältnis zwischen Mensch und Tier, das ja viele Facetten hat, ein Thema, das sie ganz allgemein
beschäftigt hat?
FLAVIO MARCHETTI: Dieses Verhältnis hat mich immer fasziniert, weil ich an den Tieren gewisse wesentliche Elemente des Menschenlebens wiedererkannte.
Die ersten Auseinandersetzungen mit dem Tod oder mit Geburt habe ich an Tieren erlebt. Ob nun unsere Kanarienvögel Junge bekommen
haben oder eine Katze gestorben ist, als ich noch sehr klein war es waren elementare Erfahrungen, die mir später in
der Konfrontation mit dem menschlichem Tod oder Geburt geholfen haben. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier hat in mir Fragen
ausgelöst, die mit meiner Identität und mit verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens zu tun haben, wie z.B. dem Umgang
mit den Schwächeren Gewalt, Macht, Empathie das kann man alles auch in menschlichen Beziehungen finden,
wenn man will.
Wie sehr kann man beim Porträtieren einer Institution, die noch dazu mit dem unberechenbaren Faktor Tier zu tun hat, im Vorhinein
dramaturgisch etwas entwerfen? Wie sehr haben Sie sich auf ein Drehabenteuer eingelassen?
FLAVIO MARCHETTI: Da ich ja in der Regel als Produzent tätig bin, ging ich davon aus, dass man die Dreharbeiten einfach genau durchplanen und
entsprechend umsetzen kann. Wir hatten ein relativ strenges Konzept, das selbstverständlich gescheitert ist. Man kann sich
beim Dreh mit Tieren Dinge wünschen, ob sie auch realisierbar sind, entscheiden die Tiere. Ähnlich ging es uns mit den Menschen.
Wir haben uns den Luxus erlaubt, ziemlich lange filmend zu recherchieren. Dabei ist uns klar geworden, dass wir den Spagat
schaffen mussten, zwischen Ideen aus dem Konzept umsetzen und flexibel genug sein, um andere Dinge einfach geschehen zu lassen.
Die Umstände ändern sich dort permanent: Keiner kann vorhersagen, dass ein erschöpfter und verletzter Reiher in der Ordination
landen würde. Man muss geduldig sein und darf keinen Stress entwickeln. Wir haben vieles, was im Konzept stand, gedreht, es
letztlich aber nicht in den Film aufgenommen, weil es einen Fremdkörper gebildet hätte.
Wie sah dieses ursprüngliche Konzept aus?
FLAVIO MARCHETTI: Wir wollten sehr nahe an den Tieren dran sein und vor allem immer auf der Augenhöhe der Tiere filmen. Bestimmte formale Wünsche
blieben sehr abstrakt. Wir mussten einsehen, dass wir nur ganz wenig vom Stativ aus filmen würden; das hätte nicht geklappt.
Also mussten wir einen Kompromiss finden und mit Handkamera filmen. Bei den Schimpansen haben wir mit fixen Kameraeinstellungen
experimentiert. Wir wollten eine Art Gemälde schaffen, was leider gar nicht funktioniert hat.
Ist somit das recherchierende Drehen fließend ins Drehen übergegangen?
FLAVIO MARCHETTI: Tiere und andere Menschen war meine erste Regiearbeit. Bisher kannte ich Dreharbeiten immer nur aus dem Produktionsbüro. Ich hatte das Glück, dass
ich mit Michael Schindegger meinen Firmenpartner und einen guten Freund als Kameramann an meiner Seite hatte. Wir haben es
uns geleistet, eine Woche lang nur Fotos und zwei Wochen nur Recherchedrehs zu machen. Das ist in einer regulären Produktionssituation
unbezahlbar. Für uns war es unabdingbar, um in die extrem strukturierten Abläufe hineinzufinden, Vertrauen bei den Menschen,
aber auch bei den Tieren aufzubauen, z.B. bei den Schimpansen, die alles andere als ungefährlich sind und die vor allem ihr
Territorium beanspruchen. Die Pfleger haben uns empfohlen, regelmäßig zu kommen und ihnen Geschenke zu bringen. Das haben
wir auch befolgt.
Als visuell besonders faszinierend entpuppen sich zum einen die aus nächster Nähe gefilmten Tiere, zum anderen die Gesten
des betreuenden und versorgenden Personals. Sehen Sie das ähnlich?
FLAVIO MARCHETTI: Es waren zwei Aspekte, die sowohl fürs Konzept als auch für die Kameraarbeit wichtig waren. Will man einen Film über Tiere
machen, der nichts mit dem konventionellen Tierfilm zu tun hat, dann muss man auch eine andere Bildsprache entwickeln. Tierdokumentationen
folgen einem Standard und man kann nur sehr wenig neu erfinden. Wir erkannten, dass die bildliche Auseinandersetzung mit dem
Tier dann an Spannung und Emotion gewinnt, wenn es haptisch wird. Wenn man das Gefühl bekommt, das Tier zu riechen oder den
dringlichen Wunsch verspürt, das Fell dieses Tieres zu streicheln. Und es ging uns auch darum, durch diese unglaubliche Nähe
einen entwaffnenden Blick herzustellen. Wir sind es ja selbst gewohnt, eine gewisse Distanz zu halten. Wenn man als Zuschauer
mit dieser Nähe konfrontiert wird, dann beginnt sich auch unsere Beziehung zum Tier zu verändern. Wenn Mensch und Tier gleichzeitig
im Bild sind, ist immer das Tier interessanter. Beobachtet man den Menschen, dann sind vor allem die Hände interessant, weil
sie viel über Zärtlichkeit, Macht, Kraft oder Kontrolle erzählen. Die Hand zu zeigen, genügt; sie steht für den Menschen und
bringt genug zum Ausdruck.
Beides bekommt in dieser fokussierten Betrachtung eine besondere Ästhetik.
FLAVIO MARCHETTI: Ein Wunsch von mir war der, dass man durch die Betrachtung des menschlichen Körpers aus nächster Nähe auch wieder das Tier
in ihm zur Geltung bringt. Wir versuchten auch, die Menschen so wie die Tiere zu drehen. Wir haben sehr viel makroskopisches
Material gedreht, das deutlich macht, dass der Mensch nur ein bisschen ein anderes Tier ist.
Sorgfalt und Respekt im Umgang mit den Tieren erzählt in einem sehr positiven Sinne auch etwas über die Gesellschaft. Sehen
Sie das ähnlich?
FLAVIO MARCHETTI: Es ist gewiss für die Leute, die dort arbeiten, nicht einfach. Grundsätzlich ist es so, dass versucht wird, unabhängig von
der Gattung einen gleichen Umgang mit jedem Tier zu pflegen. Das mag nun eine Taube sein, die man in Wien gerne als fliegende
Ratte bezeichnet oder ein wunderschöner Jagdhund aus Döbling. Es ist ein Sinnbild für die Bereitschaft zu gegenseitiger
Hilfe und Empathie. Große gesellschaftliche Themen, die hier in einem kleineren Maßstab abgehandelt werden und die die Frage
in den Raum stellen, ob und wann man die Tiere zu kategorisieren beginnt, ob sie es wert sind, in den Genuss einer Betreuung
zu kommen. Der Umstand, dass kein Unterschied gemacht wird, hat eine überwältigende Kraft. Es führt einen auf die menschliche
Ebene zurück und auf die Frage, wie gehen wir mit anderen Menschen in Schwierigkeiten um, die physisch oder psychisch verletzt
sind? Beginnen wir da auch in Kategorien zu denken? Dieser Gedanke taucht immer wieder auf, auch im Zusammenhang mit den Flüchtlingen.
Und natürlich schwingt immer wieder auch die Frage mit, ob das Geld für die Tiere nicht für wichtigere Dinge ausgegeben werden
könnte.
Der große Erzählbogen spannt sich von Gefangenschaft im Käfig zur Freiheit/Natur, dorthin, wo die Tiere hingehören. Wie sehr
hat Sie das Thema Gefangenschaft bzw. das Tier im urbanen, artfremden Raum beschäftigt?
FLAVIO MARCHETTI: Die Frage der Gefangenschaft/Freiheit ist im Tierschutzhaus ein großes Thema und sie hat uns auch in unserer filmischen Auseinandersetzung
ständig begleitet. Gitter, Stäbe, Netze machen grundsätzlich schon einmal das Filmen per se schwierig. Dann hängt es natürlich
auch von den Tieren ab; für Hunde ist das Gefangensein natürlich eine Katastrophe, auch wenn es im Tierschutzhaus für sie
z.B. einen Innen- und einen Außenzwinger sowie eine Bodenheizung gibt. Dass er nicht im Rudel leben kann, ist für einen Hund
eine Katastrophe. Wir hatten aber oft auch das Gefühl, dass die Zwinger eine Schutzfunktion erfüllen. Man kann die verschiedenen
Tiere nicht zusammenlassen. Es gibt immer Gründe, warum die Tiere im Wiener Tierschutzhaus gelandet sind entweder
weil unsere urbane Umwelt sie verletzt oder abgestoßen hat oder Menschen überfordert waren. Die räumliche Abtrennung dient
bei aller Widersprüchlichkeit auch dazu, dass sich das Tier sicher fühlt.
Wenn man die Zahl der Tiere, die im Abspann erwähnt werden, mit jener vergleicht, die im Film zu sehen sind, dann entsteht
da eine Diskrepanz, die auf große Mengen gefilmten Materials schließen lässt.
FLAVIO MARCHETTI: Wir haben in vier Drehblöcken zu je zwei Wochen und noch an einigen einzelnen Tagen gedreht. Ich denke, wir sind mit rund
130 Stunden Material in den Schnitt gegangen. Es kommen im Film absichtlich kaum Namen vor, weil ich vermeiden wollte, dass
sie vermenschlicht werden. Wir haben uns aber immer die Namen aufgeschrieben. So ist diese endlose Liste im Abspann entstanden.
Die Strukturierung des Materials war eine sehr lange Arbeit, weil wir verschiedenste Wege ausprobiert haben: Wir haben Tiere
tagelang begleitet und versucht, anhand eines einzelnen Tieres den Aufenthalt zu erzählen. Das hat uns letztlich aber nicht
gefallen. Die Schnittarbeit bestand vor allem darin, Ordnung zu machen und das Material sehr genau zu katalogisieren.
Anhand ausgedruckter Stills haben wir verschiedene dramaturgische Wege ausprobiert, die wir dann im Schnitt umgesetzt haben.
Die Makroaufnahmen, von denen ich zuvor gesprochen habe, die Haut, Fell, Federn oder Augen zeigten, haben wir probiert, aber
wieder verworfen. Fixe Bestandteile waren die Rettungszwinger, in denen sich gefundene Tiere befinden, die man ganz zu Beginn
des Films sieht und auch die beiden Schimpansen. Aber auch hier war nicht gleich klar, welche Szenen wir auswählen würden.
Sie haben mit Katharina Mückstein, Michael Schindegger und Natalie Schwager gemeinsam die Produktionsfirma La Banda Film,
mit der auch Tiere und andere Menschen entstand. Von der Synergie her ist es ein authentischer La Banda-Film: mit dem Input Ihrer KollegInnen in den wichtigen Departments
Buch/Dramaturgie, Kamera und Schnitt. Wie wichtig ist es für Sie, als Team Filme zu machen, wo Sie alle vier eingebunden sind?
Wie haben Sie Ihre erste Regieerfahrung erlebt?
FLAVIO MARCHETTI: Ich hätte diesen Film ohne La Banda ganz gewiss nicht gemacht. Ich hatte weder Träume noch Ansprüche darauf, selbst Regie
zu führen. Meine Domäne ist normalerweise die Produktion. Meine Begeisterung für das Tierthema ist bei La Banda auf fruchtbaren
Boden gefallen und jeder von ihnen hat mich in seinem Bereich unterstützt. Die Zusammenarbeit, die auch bei anderen Projekten
stattfindet, ist diesmal für mich in einer anderen Funktion wirksam geworden. Wir kennen uns sehr gut, sind nicht nur Kollegen,
sondern auch Freunde, haben zum Teil sogar gemeinsam studiert, das schafft ein solides Fundament sowohl für die kreative als
auch für die produktionstechnische Arbeit. Man muss sich nicht zuerst kennenlernen, Egos und Befindlichkeiten abtasten. Wir
sitzen gemeinsam an einem soliden Werkstatttisch, an dem wir sowieso unserer Arbeit nachgehen. In diesem Fall habe ich ausnahmsweise
die Rolle des Regisseurs übernommen.
Interview: Karin Schiefer
September 2017