INTERVIEW

«Man muss wie eine empfindliche Platte sein.»


 Peter Weiss erzählt in seinem autobiografischen Roman Abschied von den Eltern den Parcours eines Kindes des frühen 20. Jhs., sein von Flucht und Exil geprägtes Heranwachsen quer durch Europa, seine künstlerische Befreiung aus den großbürgerlichen Zwängen.
Astrid Johanna Ofner hat in ihrem ersten Langfilm Abschied von den Eltern die Poesie dieses ohne Dialog und Absatz verfassten Textes freigelegt und subtil getaktet für die Leinwand imaginiert.
 


War Abschied von den Eltern Ihre erste literarische Begegnung mit Peter Weiss?
 
ASTRID JOHANNA OFNER:  Meine erste literarische Begegnung mit Peter Weiss war Abschied von den Eltern. Sie liegt lange zurück. Als ich in Berlin studierte, ist mir das Buch zufällig in die Hände gefallen und hat mich beim Lesen sehr berührt. Alles, was mir damals als junger Frau und angehender Künstlerin durch den Kopf ging, von den Problemen mit den Eltern und deren Haltung zum Filmemachen angefangen, war darin angesprochen. Es spielte überhaupt keine Rolle für mich, dass es in Abschied von den Eltern um eine männliche Hauptfigur geht. Das Buch hat mich dann über lange Zeit hinweg begleitet. In meinen Filmen gehe ich immer gern von Literatur aus. Nach meinem Kafka-Film, Sag es mir Dienstag, kam ich ganz spontan auf die Idee, Abschied von den Eltern filmisch zu bearbeiten. Welch unglaubliche Herausforderung dieser Text darstellt, wenn man dafür eine filmische Form finden möchte, war mir damals noch nicht bewusst.
 
 
Warum ist in Ihrer künstlerischen Arbeit die Literatur so eng mit dem Film gekoppelt?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Meine erste künstlerische Heimat war die Literatur. Seit meiner Kindheit, vor allem in meiner Jugend waren die Bücher mein einziges Rückzugsgebiet. In meinem katholischen Elternhaus hatte ich keine Bibliothek zur Verfügung, die Religion war die wesentliche Basis meiner kulturellen Prägung. Mein erster Film basierte auf einem Text von Marguerite Duras. Ich habe beim Lesen immer Bilder gesehen und wollte filmen, ohne zu wissen, was Film ist. Es gab bei uns zu Hause kein Fernsehen und in dem kleinen Ort, aus dem ich stamme, gab es außer einer Kirche und einem Lebensmittelladen nichts, schon gar kein Kino. Was man mir sehr schnell nachsagte, war eine Begabung für Kadrierung. Ich mache bei meinen Filmen die Kamera immer selbst und versuche so lange zu warten, bis ich das Gefühl habe, dass in einem Bild, einer Atmosphäre, einem Ort oder Licht tatsächlich etwas existiert. Das versuche ich einzufangen, dem Zufall in gewisser Weise die Schlinge auszulegen. Jean Renoir hat mal gesagt: „ Es geht nicht darum, Avantgarde zu machen, sondern darum, nur das zu drehen, was direkt aus unserem Herzen kommt.“
 
 
Peter Weiss hat nach dem Tod seiner Eltern (sie sterben beide innerhalb eines halben Jahres) auf 150 Seiten einen sprachlichen Block ohne einen einzigen Absatz geschaffen. Ich stelle mir vor, wie Sie sich, mit diesem Sprachblock konfrontiert, einem Bildhauer gleich an die Arbeit machen mussten. Wie ist es Ihnen gelungen, diesen Text freizulegen.
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Ich habe mich in der Tat ein wenig wie ein Bildhauer gefühlt, der vor einem Block steht. Dieser Text ist aus einem einzigen Stück ohne Absätze, ohne Dialoge. Es ist ein hochkomplizierter, wunderschöner Text, der eine eigene Poesie hat. Eine sehr klare, unsentimentale Poesie, wo jedes Wort exakt gesetzt ist. Ich hatte mir die Bearbeitung um einiges leichter vorgestellt. Und an der Fassung, die nun diesem Film zugrunde liegt, drei Jahre gearbeitet. Ich habe das Buch wieder und wieder gelesen und bemühte mich, wie im Marmor die Adern, die mich am meisten berührten, freizulegen und gleichzeitig eine Chronologie beizubehalten. Die Vorgangsweise war so: ich habe mir die wichtigsten Textstellen im Buch markiert, diese dann kopiert, ausgeschnitten und auf ein Blatt Papier geklebt. Im Grunde habe ich gebastelt, aber gerade dieses haptische Moment war mir so wichtig. Die geklebten Blätter habe ich wiederum kopiert und davon ausgehend immer weiter reduziert und verdichtet, indem ich mich von vielen Absätzen und Szenen, oft verabschiedet habe, was mir oft alles andere als leicht gefallen ist. Dort, wo ich mich von Sätzen, die mir extrem wichtig waren, getrennt habe, ist der Zusammenprall zwischen einzelnen Textstellen viel stärker geworden. So habe ich mich immer weiter bis zur endgültigen Fassung vorgearbeitet. Es war ein langwieriger, aber zugleich sehr schöner Prozess. Man darf die Form nicht vor dem Gedanken erwarten, sagt Schönberg. Irgendwann ist beides da. Dass ich von diesen Originalschauplätzen, Orten Städten ausgehen werde, das war mir allerdings immer klar. Konkrete Bilder hatte ich in dieser Phase allerdings keine im Kopf.
 
 
Eine Herausforderung muss auch darin gelegen haben, dem Text, der eine Verstrickung aus biografischen Erinnerungen und einer Analyse der eigenen Befindlichkeit gerecht zu werden. Man verliert sich als Leser zwischen der Erzählung der Fakten und seiner Innenschau. Dieses Gefühl galt es wohl auch zu transponieren?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Ich finde, genau diese Verstrickung macht die Spannung und den Reiz dieses Textes aus. Es hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass er zum Zeitpunkt des Schreibens eine Psychoanalyse gemacht hat. In der Analyse folgt man nicht unbedingt einem roten Faden und behält dennoch eine Spur. Das Ineinandergleiten von Erzählung, Erinnerung und Reflexion hat mich sehr fasziniert. Das spiegelt sich auch in der Verwendung der Zeiten wieder: er wechselt vom Imperfekt in eine Vorzukunft oder Vorvergangenheit und hat aus diesem Hin und Her ein großes Kunstwerk geschaffen. Diese Struktur des Buches wollte ich auch in der Textauswahl beibehalten. Die Chronologie der Ereignisse ist dabei oft nicht so entscheidend: Wichtig ist, dass jeder Satz passt. Ich hoffe, dass ich es letztlich geschafft habe, für jeden Satz und für jeden Gedanken ein mögliches Bild zu finden. Eines das nicht beliebig ist, oder wie man so schön sagt „filmisch“, sondern wirklich Sinn macht.
 
 
Wie nahm dann die Bildersuche ihren Ausgang: Der Film vereint ja digitale Bilder und Super-8 Bilder, s/w- und Farbbilder, Fotos aus dem Archiv?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Grundsätzlich suche ich nicht nach Bildern. Was ich auch während der Arbeit an der Textfassung immer wieder gemacht habe, war, die Orte zu bereisen: Schweden, Bremen, Prag, Warnsdorf. Ich habe mich umgesehen, wie es dort aussah, ob die Häuser, wo er gewohnt hat, noch existierten. Die Häuser musste ich zum Teil ohne große Anhaltspunkte recherchieren, auch wenn das Berliner Peter Weiss-Archiv sehr hilfreich war. Die Villa in London spürte ich aufgrund einer Stelle in einem Buch seiner Schwester Irene auf, wo sie schildert, von wo aus der Milchmann mit seiner Lieferung kam. Ich habe zu den aktuellen Bewohnern dieser Häuser Kontakte geknüpft und dabei sehr viel Glück gehabt, da sie alle sehr freundlich und kooperativ waren.
 
 
Das Haus – innen wie außen – ist das dominierende Bild dieses Films, in einem weiteren Sinne auch die Architektur. Wie rückte der Topos des Hauses so stark in den Vordergrund?
 
ASTRID JOHANNA OFNER:  Es ist ein Text, in dem es tatsächlich sehr viel um Häuser geht. Seine Eltern haben es an allen Stationen, die sie durchlaufen haben, beginnend in Berlin, Bremen, London, Tschechoslowakei und dann im endgültigen Exil in Schweden, immer wieder geschafft, dieses großbürgerliche Heim, das in materieller Hinsicht dem Vater als Fabriksleiter zu verdanken war, über alle Übersiedelungen, Anpassungsschwierigkeiten und den Krieg hinweg, zu retten. Dass ich von diesen Originalschauplätzen ausgehen werde, das war klar. Ich habe mir also die Städte und die Häuser sehr genau angeschaut und ich wollte eine Verbindung von Historie zur Gegenwart herstellen. Es ging mir auch darum, von einem Europa von damals und von heute, von Städten früher und Städten heute zu erzählen. Um das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart. Wenn ich in den Häusern gefilmt habe, z.B. in London im Dachzimmer, wo Peter Weiss gewohnt, gezeichnet und gemalt hat, dann hab ich das nicht aus einem Streben nach Authentizität getan, sondern mir war da etwas anderes wichtig. In jenem Raum zu sein, wo vor einigen Jahrzehnten der Autor des Textes gewohnt hat, hat für mich eine Aura, oder besser vielleicht eine gewisse Magie. Das Wissen, dass dieses Haus noch genauso steht und ausschaut wie damals, macht auf seine Art deutlich, dass Geschichte sich in jedem Augenblick entscheidet. Seine Geschichte ebenso wie die Geschichte der Welt hätte sich jeden Augenblick anders passieren können. Die Kleinigkeiten entscheiden über die Kleinigkeiten, hat einmal jemand gesagt. Es sind Zufälle und Missverständnisse, die oft große Umwälzungen auslösen. Ich habe das Buch für mich neu gelesen, Bilder gefunden, die für mich den Text und die Geschichte neu definieren. In unserer gegenwärtigen Wirklichkeit, wo es kaum mehr möglich ist, Dinge, die geschehen, in Worte oder Bilder zu fassen, wo die verfügbaren Mittel unzulänglich sind, ist es fast vermessen, noch ein Bild zu machen. Man muss es trotzdem machen.
 
 
Sie zeigen Ihren Protagonisten mehrmals bei einem Museumsbesuch. Diese auszuwählen ist Ihnen völlig frei gestanden, wie fiel da die Wahl auf die gezeigten Werke?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Die Reliefe, die zu sehen sind, sind die des Pergamon-Altars, die für Peter Weiss besonders wichtig waren und später zentraler Gegenstand in seinem großen Werk  Die Ästhetik des Widerstands ist. Als ich in Berlin gelebt habe, habe ich das Pergamonmuseum oft besucht und dort viel fotografiert, ohne noch Peter Weiss und sein Werk zu kennen. Beim Museum in London handelt es sich um die Courtyard Gallery, ein privates Museum, direkt an der Thames, das eine einzigartige Sammlung impressionistischer Malerei hat. Cézanne ist für mich immer sehr wichtig gewesen, auch seine Schriften über Malerei. Er sagte sinngemäß: „Man darf sich beim Malen nicht dazwischen kommen. Man muss darauf achten, dass sich das, was ich sehe, wie auf eine empfindliche Platte überträgt.“ Das trifft sehr gut mein eigenes Vorgehen bei diesem Film. Wenn ich mit meinen Vorstellungen, Konzeptionen und Theorien dazwischen komme, ist alles kaputt . An einen Text wie Abschied von den Eltern kann ich nicht mit einer vorgefassten Meinung, einem Drehbuch oder Storyboard herangehen. Da muss man wirklich wie eine empfindliche Platte sein, was der analoge Film ja in der Tat ist. Film ist kein technischer, Film ist ein magischer Prozess, hat Jean-Luc Godard einmal gesagt. Man hört, dass die Kamera läuft, man schaut durch den Sucher und kadriert, man weiß aber nicht, wie die Emulsion sie Aufnahmen auf dem Streifen sichtbar machen wird.
 
 
Das führt uns auch wieder zum Einsatz des Drehmaterials – analog und digital – zurück?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Es ist für mich das erste Mal, dass ich digital gearbeitet habe. Sag es mir Dienstag ist vor sieben Jahren rein auf analogem Material entstanden. Mit ein Grund, dass ich so lange keinen weiteren Film gemacht habe, ist der Umstand, dass ich nicht digital arbeiten wollte. Ich hätte auch diesen Film gerne in Super-8, 16 mm bzw. 35 mm gedreht, das ließ sich leider gar nicht finanzieren. Ich musste auf HD drehen. Man arbeitet völlig anders, es war eine große Umstellung für mich zu wissen, dass das Licht, die Blenden, die gesamte Anmutung nicht als Bild existieren. Es ist eine digitale Zahlenkombination, die erst im Moment der Wiedergabe, als Bild erscheint. Ich kann das Bild nicht angreifen wie einen Zelluloid-Streifen. Ich versuchte auch in den Digitalaufnahmen, dennoch meine Art des Filmens, der Kadrierungen, der Lichtsituationen herzustellen, wissend, dass das ein völlig anderes Medium ist.
 
 
Abgesehen von den Szenen mit Jacques und den kurzen Sequenzen mit den Mädchen nimmt ein einziger Schauspieler, Sven Dolinski, der Peter Weiss verkörpert, die zentrale Rolle ein. Welche Anforderungen und Erwartungen hatten Sie an den Darsteller?
 
ASTRID OFNER:  Ich habe keine Casting gemacht. Eine mit mir befreundete Schauspielerin, Sylvie Rohrer, mit der ich den Kafka-Film gemacht habe und die am Burgtheater spielt, hat mich auf Sven Dolinski aufmerksam gemacht. Wir haben uns getroffen, eine erste Leseprobe gemacht und ich hab sofort gespürt, dass er nicht nur mit dem Text (was alles andere als leicht ist), sondern auch mit der Kamera in gutem Einvernehmen steht. Außerdem verstanden wir uns gut und damit war es abgemacht. Wir haben über drei Jahre immer wieder in Blöcken von vielleicht zehn Tagen gearbeitet. Es war eine schöne, geduldige und langsame Arbeit, weil meine Intention darin lag, alles Schauspielerische aus der Sprache rauszubringen. Der Text musste im Vordergrund stehen und nicht der Schauspieler mit seiner Interpretation und Intonation.
 
 
Der Zugang zum Text erfolgt ja auch immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen: aus dem Off, frei rezitiert, gelesen aus dem Buch oder vom Blatt, das wahrscheinlich die verdichtete Fassung enthält.
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Mir war klar, dass er Zeuge ist, gleichzeitig ist er aber auch eine Art Ermittler und vielleicht sogar Detektiv, der mit dem Text durch halb Europa unterwegs ist, diesen manchmal im On, manchmal im Off spricht. Diese drei Ebenen waren mir sehr wichtig. Es beginnt mit Passagen aus dem Off; wenn man ihn zum ersten Mal sieht und weiß, das ist die Person, die den Text liest und als Ermittler durch den Film führt, ist es fast wie ein Blick hinter den Film, hinter die Kulissen des Aufnahmeprozesses. Dann wollte ich unbedingt, dass er einmal direkt aus dem Buchexemplar, mit dem ich so lange gearbeitet habe, liest. Das haben wir in der Passage im Süden gemacht, wo viel Zeit war.
 
 
Der Film hat fiktive, essayistische, dokumentarische Elemente und immer wieder Schwarzfilm. Man spürt einen sehr subtilen Umgang mit Rhythmus und Tempo. Stellte der Montageprozess gleichwertig mit dem Textprozess die beiden Hauptsäulen Ihrer Arbeit dar?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Ich sehe drei wichtige Säulen: die komplexe Auseinandersetzung mit dem Text, die Recherche an den Orten und das Finden der für mich stimmigen Bilder, und schließlich die Montage. Es war ein sehr schwieriger Prozess, für den ich technische Unterstützung hatte.  Ich habe früher meine Filme und den Ton selbst analog geschnitten, diesen Film auf Final Cut geschnitten, was ich nicht kann. Es hat viel Zeit in Anspruch genommen, um den richtigen Rhythmus, die Kohärenz, das richtige Bild für den bestimmten Satz zu finden. Sowohl beim Drehen als auch beim Schneiden war mir wichtig, dass Abschied von den Eltern ohne Füllmaterial und ohne filmische Rhetorik auskommt. Ich wollte, dass jedes Bild für sich steht, jedes Bild an dem Platz steht, der für mein Gefühl richtig ist. Bei den schwarzen Sequenzen handelt es sich nicht um den klassischen, filmischen Schwarzfilm. Bei mir ist der Schwarzfilm ein Echoraum für die Sprache. Es gibt ausgewählte Passagen, für die ich kein Bild wollte, sondern, dass der Ton, die Sprache, der Text als Echo im Raum stehen.
 
 
Dem gelesenen und gesprochenen Text gilt in Abschied von den Eltern eine klare Vorrangstellung in der Tonebene. Wie haben sich Musik und Sounddesign da eingefügt?
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Ich habe immer wieder, aber nicht unbedingt gezielt auf den Film bezogen Musik gehört. Ein Stück, das mich einfach überwältigt hat, war vom Komponisten und Pianisten György Kurtág Gottes Zeit ist die schönste Zeit, eine Bach-Bearbeitung fürs Klavier, die er vierhändig mit seiner Frau spielt. Das wollte ich unbedingt mit den Bildern von der Pinie schneiden, auch deshalb weil unmittelbar vorher in der Erzählung eine Katastrophe passiert, jemand in Prag aus dem Fenster springt und Peter Kiehn fliehen musste und ermordet wird, der Erzähler aber sagen kann „Ich entkam.“ Es ist ein Bild nicht nur für den Süden, es ist eine große Bruchstelle, die Leben und Tod im Bild wie in der Musik in sich vereint. Eine weitere Musikpassage kommt nach London und zeigt eine Schwarzweiß-Sequenz in Warnsdorf. Es ist eine ungeschnittene Super-8-Passage mit Aufnahmen aus der Wohnung der Familie Weiss. Dafür habe ich mich für ein Musikstück von Webern entschieden. Das Ende ist von György Ligeti, eine Bearbeitung von alten Volksstücken, gespielt von Kit Armstrong. Auch eine Musik, die mich beim ersten Hören sehr berührt hat und die, so fand ich, zum Schlussbild mit den Wellen gut passt, weil sie etwas abschließt und zugleich doch offen lässt.
 
 
Das Faszinierende und Paradoxe an der Figur des Ich-Erzählers scheint daran zu liegen, dass er einerseits an seiner Gebundenheit an und Befangenheit durch das Elternhaus andererseits an der Nicht-Zugehörigkeit/ Entwurzelung, die durch das Exil auf der Flucht vor den Nazis bedingt war, gelitten hat und so lange unfähig war, sein Ich zu behaupten.
 
ASTRID JOHANNA OFNER: Das war mit ein entscheidender Grund für die Wahl des Buches und weshalb ich damit arbeiten wollte. Peter Weiss (1916 – 1982) ist heutzutage leider nicht mehr sehr bekannt. Er ist ein wenig aus der Wahrnehmung verschwunden. Dieses Buch ist für mich nicht nur ein Text über das Finden seiner Identität und seines Sich-Erarbeitens des großen Trotzdems, das durch den großbürgerlichen Hintergrund und die Erwartungen der Eltern bedingt war. Es ist nicht nur ein Befreiungsversuch, es ist im Grunde eine Schärfung, ein Lernprozess, eine Aufforderung seine eigenen Wahrnehmungen ernst zu nehmen. Entgegen aller Vorgaben von Lehrern und Eltern, dabei zu bleiben, sich in Büchern wiederzuerkennen. Für Peter Weiss waren Dostojewski, Hesse, Hamsun, Kafka und auch Kubin sehr wichtig. Die Bücher haben ihn gestärkt und ihm die Kraft gegeben trotz aller Widrigkeiten – das Ausgestoßen-Sein als Halbjude, die Repression durch die Eltern – , sich als Mensch, als Subjekt zu finden. Das hat mich motiviert, diesen Film heute zu machen, weil ich es für so wichtig halte, dass junge Leute in ihren eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen bestärkt werden angesichts der Flut an Bildern und Filmen, die über das heutige mediale Tempo auf sie hereinbrechen und nichts mit dem Einzelnen und seiner wahren Existenz zu tun haben. Neoliberalismus und Globalisierung wollen keine Subjekte, sondern Konsumenten. Dazu wird man erzogen, und es gibt wenig Chance auf Entkommen. Ich wollte mit einem anderen Bild, einem anderen Ton zumindest etwas dagegen setzen. Ob mir das gelungen ist, müssen aber andere beurteilen. Ein zentraler Aspekt an diesem Text ist der, dass es über die ersten Jahre hinweg bei Peter Weiss keine explizit politische Auseinandersetzung gibt. Das kommt erst zum Schluss. Er sagt gegen Ende: „Das Exil hat mich nichts gelehrt. Der Krieg, der draußen geführt wurde, betraf mich nicht, ich war nur damit beschäftigt, Ausdruck für mein eigenes Dasein zu finden.“ Da sehe ich den Übergang zur Politisierung von Peter Weiss. Der Kampf, den er zuvor um seine eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen, um seine Selbstbehauptung geführt hat, ist die Basis für die Möglichkeit einer echten Politisierung. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Welt, mit der Literatur ist die Voraussetzung für ein tiefes politisches Denken, Fühlen und Handeln.
 
 
 Interview: Karin Schiefer
Juli 2017
 
«Diese Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Welt, mit der Literatur ist die Voraussetzung für ein tiefes politisches Denken, Fühlen und Handeln.»