INTERVIEW

Susanne Brandstätter über THE FUTURE'S PAST

 

 

«Die drei Familien im Film haben alle Kinder unter 26, die jetzt erst durch das Tribunal erfahren, was passiert ist, indem sie ihre Eltern und Nachbarn zum ersten Mal mit ihren Fragen konfrontieren. Viele junge Menschen hatten ihren Eltern gar nicht geglaubt, weil sie nirgendwo anders davon gehört hatten.» Susanne Brandstätter über die Dreharbeiten zu THE FUTURE'S PAST, ihrem Dokumentarfilm, der anlässlich des Khmer Rouge-Prozesses Kambodschas jüngere und ältere Generation in ihrem Umgang mit der Geschichte beobachtet.


Sie haben sich in Rule of Law, in Ihrem letzten Film, mit dem Thema der internationalen Justiz bereits sehr intensiv auseinandergesetzt. Hat der Abschluss des letzten Films Sie direkt ins neue Thema geführt?
Susanne Brandstätter: Ja, das hat mit der Protagonistin von Rule of Law, Claudia Fenz, zu tun, die damals UN-Richterin im Kosovo gewesen ist. Claudia und ich sind durch die Filmarbeit Freunde geworden. Als man ihr nahe gelegt hat, sich für die Position als Richterin im Prozess gegen die Khmer Rouge zu bewerben, hat sie mir davon erzählt. Wir begannen über die Geschichte und unsere Erinnerungen an diese Zeit des Khmer Rouge-Regimes zu sprechen und daraus entstand die Idee, einen Film zu machen. Es war von Anfang an klar, dass Claudia Fenz im Film keine Rolle spielen würde, aber der Funke war übergesprungen.

Was interessiert Sie an diesem Thema der internationalen Rechtssprechung?
Susanne Brandstätter: Klarerweise interessiert mich der Aspekt der Menschenrechte. Im letzen Film behandelte ich vor allem die Problematik verschiedener Justizauffassungen, und auch die Frage, wie eine Tradition, eine Vergangenheit, eine Geschichte mit einer Justizauffassung in Konflikt geraten. Hier sind es auch die moralischen Fragen, die nicht nur in Zusammenhang mit Kambodscha ihre Gültigkeit haben. Es sind universelle Fragen der Menschlichkeit: Wie kann es zu so einem Genozid oder Massenmord kommen? Im Falle Kambodschas sind die Ereignisse rechtlich nicht als Genozid anerkannt, sondern man spricht hier juristisch von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wo liegen die Ursachen? Wo beginnt die persönliche Verantwortung und wo hört sie auf? Es bedarf nicht nur eines Führers oder einer kleinen Gruppe politischer Machthaber, die die Massenvernichtung anordnen - es war eine ganze Bevölkerung involviert. In Kambodscha scheint es so, dass man entweder Opfer oder Täter war, oder geflohen ist. Im Grunde war, so unfassbar es klingt, das ganze Land ein Konzentrationslager. Aber zwischen Opfern und Tätern gibt es auch eine Grauzone in Abstufungen. In vielen Fällen wurden Täter dann auch zum Opfer, die Khmer Rouge begannen die eigenen Leute umzubringen, da sich verschiedene Fraktionen gebildet hatten. Das Regime wurde völlig paranoid und viele Kader des Khmer Rouge wurden schließlich selbst zu Opfern. Die Gesellschaft in Kambodscha hat noch sehr viele Narben. Es gibt auf beiden Seiten viele Menschen mit starken psychischen Schäden.

Wer steht im Zuge dieses Prozesses nun vor Gericht?
Susanne Brandstätter: Das ist zum einen Kaing Geuk Eav alias Duch, der ehemalige Leiter von S21, Tuol Sleng, wo viele Kader der Khmer Rouge interniert, gefoltert und getötet worden sind, aber auch sehr viele ganz gewöhnliche Leute aus der Bevölkerung. Bevor man sie umgebracht hat, wurden sie zu einem Geständnis gezwungen, meistens, dass die Spione der CIA waren. Bei den letzten Dreharbeiten habe ich mit einem Mann gearbeitet, der sehr stark unter diesem Regime gelitten hat, der mehrere Male nur knapp dem Tod entronnen ist. Er weiß bis heute nicht, was CIA heißt. Das muss man sich vorstellen! Die Menschen wurden gezwungen zuzugeben, CIA-Spione zu sein, ohne je zu wissen, was es zu bedeuten hat. Sie wussten nur - das ist der Feind. Der Duch-Prozess ist Fall 1, dieser Fall wird im nächsten Jahr abgeschlossen. In Fall 2 kommen vier Personen auf einmal vor Gericht. Dabei handelt es sich vielmehr um politische Figuren - Nuon Chea, Khieu Samphan, Ieng Sary und seine Frau Ieng Thirith. Pol Pot ist leider schon verstorben, Ta Mok ebenfalls, und die Angeklagten, die demnächst vor dem Tribunal stehen sollten, sind schon sehr betagt. Duch ist der jüngste, er ist jetzt 67, die anderen sind alle über 80. Viele befürchten, dass es nie ein Urteil geben wird, wenn Fall 2 zu lange dauern sollte.
           
Als einmal das Filmprojekt eine beschlossene Sache war und mit den Recherchen begonnen werden konnte, wie haben Sie sich da der kambodschanischen Realität von heute angenähert? Mit welcher Fragestellung sind Sie an den Film herangegangen?
Susanne Brandstätter: Ich wollte mich diesmal von einem ganz anderen Blickwinkel an das Thema nähern, weniger den Fokus auf den Prozess setzen wie beim letzten Film, sondern vielmehr der Frage nachgehen, wie der Prozess bei der Bevölkerung ankommt. Denn das Tribunal wurde von der kambodschanischen Regierung sehr stark als Initiative für das Volk propagiert. Das ist auch die Forderung der internationalen Gemeinschaft, dass dem Volk Gerechtigkeit widerfahren muss. Ich möchte zeigen, was ein solches Tribunal bei einer Bevölkerung bewirken kann. Ich stellte mir auch die Frage, wie Geschichte im Interesse der kambodschanischen Regierung neu geschrieben wird. Als ich dann meine Recherche im Land begann, wurde mir ziemlich rasch klar, dass das keineswegs der zündende Punkt ist. Viele Menschen setzen große Erwartungen in den Ablauf und den Ausgang des Tribunals, andere weniger. Aber alle Kambodschaner, mit denen ich gesprochen habe, beschäftigt die quälende Frage ? warum? Was wirklich für die Menschen von absoluter Wichtigkeit ist, ist die Frage, wie ist es möglich gewesen, dass so etwas passieren konnte. Das verstehen sie selbst nicht. Weder die Opfer noch die Täter.

Wie erfährt die Bevölkerung von diesen Prozessen?
Susanne Brandstätter: Es gibt ein Outreach-Programm, um das Tribunal bei der Bevölkerung bekannt zu machen. Die Hauptverhandlung wird an allen Verhandlungstagen 1:1 im Fernsehen übertragen. Das Problem ist, dass es auch für jemanden mit höherer Schulbildung äußerst schwierig sein kann, einen solchen Prozess zu verfolgen. Man muss die Hintergründe kennen und die juristische Sprache verfolgen können, mit einer geringen Schulbildung ist das äußerst schwierig. Und einmal wöchentlich wird mit der Unterstützung des Tribunals eine halbstündige Zusammenfassung im Fernsehen ausgestrahlt. Im Radio wird es ebenfalls thematisiert, dazu kommen verschiedene Outreach-Events, und es gibt unzählige NGOs, die Informationsarbeit leisten. Problematisch dabei ist natürlich, dass Kambodscha eine überwiegend ländliche Bevölkerung hat, mit einem hohen Anteil an Analphabeten und Menschen, die nicht wirklich gut lesen können. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass das Khmer Rouge-Regime den Großteil der Bildungsschicht ausgelöscht hat. Unter den Khmer Rouge waren die Schulen geschlossen und Bücher verbrannt worden. Das bedarf einer langen Erholung.

Wie haben Sie Ihre Protagonisten ausgesucht und allgemein versucht, einen filmischen Zugang zu diesen Fragen zu finden?
Susanne Brandstätter: Meine Idee war es, Familien zu finden, die nicht nur einen einzigen Standpunkt vertreten. Ich suchte Familien mit Überlebenden des Regimes, wo aber auch eine junge Generation bis zum Alter von 26 vertreten ist, jene Generation, die danach geboren ist und von all den Geschehnissen fast oder überhaupt nichts weiß. Man muss bedenken, dass es tabuisiert war, über dieses Thema in der Öffentlichkeit zu sprechen, es wurde nichts davon in der Schule vermittelt. Viele Kinder und Jugendliche haben höchstens erfahren, dass es dieses Regime gegeben hat und dass sie Familienmitglieder verloren haben, mehr nicht. Viele derer, die das durchlebt haben, haben ihren Kindern nichts erzählt und zwar aus verschiedensten Gründen: sie waren entweder extrem traumatisiert oder die Eltern wollten die Kinder nicht mit diesen schrecklichen Geschehnissen belasten - oder sie hatten Angst, darüber zu sprechen, zum Teil aus berechtigten Gründen, zum Teil hängt es mit dem Trauma und dem Misstrauen anderen gegenüber zusammen. Es sitzen überall im Land noch Menschen, die ehemalige Khmer Rouge Anhänger waren und die auch heute noch an gewissen Schaltstellen tätig sind.

Ist es Ihnen gelungen, Opfer wie auch Täter vor die Kamera zu bringen?
Susanne Brandstätter: Ja. Ich hatte nicht vor, Familien mit einem ganz entsetzlichen Schicksal zu finden, sondern Durchschnittsfamilien. Meine Vermittler, die mich bei den Recherchen unterstützten, versuchten, zunächst besonders extreme Fälle zu finden. Ich sprach zwar mit diesen Leuten, um mein Wissen zu vertiefen, für den Film schien es mir nicht die richtige Wahl. Es ist mir schließlich gelungen, zwei Familien in Kambodscha und eine exilkambodschanische Familie in Paris zu finden. Das gibt ein sehr interessantes Bild. Diese drei Familien haben alle Kinder unter 26, die jetzt erst durch das Tribunal erfahren, was passiert ist, indem sie ihre Eltern und Nachbarn zum ersten Mal mit ihren Fragen konfrontieren. Viele junge Menschen hatten ihren Eltern gar nicht geglaubt, weil sie nirgendwo anders davon gehört hatten. Manche Kinder glaubten vielmehr, dass die Eltern einfach Schauermärchen als Erziehungsmittel erzählten, um sie dazu zu bewegen ihren Reis aufzuessen o.ä. Und jene Kinder, die es vielleicht doch geglaubt haben, wagten wiederum nicht nachzufragen, um nicht in einer offenen Wunde ihrer Eltern zu bohren.

Der Titel THE FUTURE'S PAST ist so gewählt, dass es das Aufeinandertreffen zweier Generationen direkt anspricht. Soll in Ihrem Film eher die Vergangenheit, oder eher die "Zukunft" in Person der jüngeren Generation zu Wort kommen?
Susanne Brandstätter: Ich glaube, man sollte das eine nicht ohne das andere betrachten. Die Thematik wird sehr häufig durch Beleuchten der Vergangenheit abgehandelt. Ich wollte es in die Jetztzeit holen, um klar zu machen, dass das, was jetzt passiert, die Zukunft sehr stark beeinflussen wird. Die Art und Weise, wie sich die junge Generation damit auseinandersetzt, wird im Grunde genommen das zukünftige Bewusstsein bezüglich des Geschehenen formen und einen enormen Einfluss haben. Auch, wenn man es unter den Teppich kehrt. Aufarbeitung oder Nicht-Aufarbeitung - beides wird einen starken Einfluss auf die Zukunft haben. Im Grunde geht das uns alle an. Auch wir werden mit solchen Fragen - in geschichtlichen wie in privaten Bereichen - konfrontiert.

Die Gesellschaft in Österreich ist ebenfalls mit der Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert. Haben Sie Unterschiede im Umgang mit der Geschichtsaufarbeitung entdecken können?
Susanne Brandstätter: Ich glaube, es gibt sehr starke Parallelen, es wurde bis jetzt in beiden Ländern sehr viel verdrängt. In Kambodscha geben einige Täter zu, was sie gemacht haben und stellen sich die Frage, wie es passieren konnte. Aber der Großteil von ihnen erklären ihr Handeln mit der Entschuldigung - "Ich konnte nicht anders, ich musste Befehle ausführen." Es gibt aber auch in Kambodscha sehr viele Menschen, die nicht wollen, dass andere etwas über ihre Mittäterschaft erfahren. Das Gute an diesem Tribunal ist, dass es das Thema an die Öffentlichkeit bringt und die Leute darüber zu sprechen beginnen. Verschweigen und Verleugnen war bis jetzt auch in Kambodscha ein sehr weit verbreitetes Phänomen. Oft sind nicht einmal die Opfer bereit zu sprechen, die Profile der Täter sind so vielschichtig wie im Nazi-Regime. Es gab v.a. unendlich viele Mitläufer, ohne die das Ganze nicht funktioniert hätte. Es gab Spitzel, die überall gelauert haben, sogar nachts unter den mit durchlässigen Böden auf Stelzen gebauten Häusern und die dann behaupteten, dass etwas gegen das Regime gesagt worden sei. Das ging sogar so weit, dass bei Zwangsehen ausspioniert wurde, ob die Ehe tatsächlich vollzogen wurde. Wenn nicht, wurde das weitergegeben, die Leute dann zu "Umschulungen" verschickt, was meistens bedeutete, dass sie exekutiert wurden. Die Leute gingen oft bereitwillig mit, in der Meinung tatsächlich zu einer Schulung zu gehen, und wussten nicht, was sie erwartete.

Haben Sie den Eindruck, dass es ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung bei den Opfern gibt?
Susanne Brandstätter: Ja, aber die Erwartungen der Bevölkerung sind oft zu unrealistisch. Sie entsprechen nicht den Möglichkeiten, die das Tribunal tatsächlich leisten kann. Da tut sich eine Schere auf. Man versucht klarzumachen, dass es keine finanzielle Wiedergutmachung geben kann, weil das ins Unermessliche steigen würde und in der Praxis nicht umsetzbar wäre. Die Menschen, die weniger gut informiert sind, hegen noch die Hoffnung auf eine finanzielle Entschädigung. Es ist von anderen Formen der Wiedergutmachung die Rede, im Sinne symbolischer Handlungen - wie eine Entschuldigung, ein Monument, Schulen, Krankenhäuser, Krankenbetreuung, Dinge in dieser Art. Was tatsächlich passieren wird, wissen wir nicht.

Wie gestaltet sich dort Ihre Arbeit als Filmemacherin? Wohnen Sie den Prozessen bei?
Susanne Brandstätter:  Es gibt im Gerichtssaal fünf Kameras, die das alles aufzeichnen, im Gerichtsaal selbst dürfen wir nicht mit der Kamera sein. Beim Gericht habe ich den Medienrummel rundherum gedreht. Wichtig war mir zu zeigen, wie das Tribunal in der Bevölkerung ankommt, wie es transportiert wird. Den Prozess zu verfolgen, ist nicht schwierig. Man besorgt sich eine Akkreditierung und man kann dort teilnehmen. Das internationale Medieninteresse ist nur bei punktuellen Ereignissen sehr hoch, am Beginn, bei sehr wichtigen und bekannten Zeugen, sonst war ich oft an Tagen dort, wo es kaum besucht war. Das war nicht anders zu erwarten. Der Prozess dauert schon sehr lange. Duch hat sich ja von Beginn an für schuldig bekannt, der Fall ist dennoch extrem spannend, weil er sich trotz des Schuldbekenntnisses auch um seine Verteidigung bemüht und sehr oft zu Wort kommt. Er baut seine Verteidigung darauf auf, in einer Extremsituation zum Handeln gezwungen gewesen zu sein, weil er sonst sein Leben riskiert hätte. Er versucht immer wieder zu beweisen, dass er keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann. Im Gegenzug versuchen die Staatsanwälte manchmal mit Fangfragen zu beweisen, dass es so nicht gewesen ist. Duch als Persönlichkeit zu verfolgen, ist wirklich faszinierend.

Können Sie die Familien beschreiben, die Sie ausgesucht haben?
Susanne Brandstätter: In alle drei Familien gibt es einen jungen Menschen, der herausfinden möchte, was passiert ist und warum. Die 20-jährige Sopha z.B. hatte sich nie besonders für die Vergangenheit interessiert. Als das Tribunal seine Arbeit aufnahm und ihre Mutter bei einer NGO, die die Bevölkerung informiert, freiwillig zu arbeiten begann hat Sopha auf einmal angefangen, ihren Eltern und Bekannten Fragen zu stellen. Das hat sie nicht nur mit der Vergangenheit konfrontiert, im selben Maß wie ihr Wissenstand wächst, ist sie gezwungen darüber zu reflektieren ? auch darüber, was es für sie persönlich bedeutet. Die Familien, mit denen ich drehe, sind keine Täterfamilien, aber es gibt einen Nachbarn, der Täter war. Sophany, einer der jungen Protagonisten, der Mönch ist, ist mehrfach zu ihm gegangen und hat ihn vor laufender Kamera befragt. In Kambodscha ist es üblich, dass junge Männer für eine gewisse Zeit in die Pagode gehen und buddhistische Mönche werden. Manchmal machen sie es für sechs oder zwölf Monate, Sophany ist schon acht Jahre in der Pagode, wo er auch seine Schulausbildung fertig macht. Als Mönch gilt man als Respektsperson und das macht die Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Täter so interessant. Man hört die Ambivalenz in diesem Mann, der versucht, vor Sophany und sich selbst Ausreden für sein Handeln zu finden und plötzlich entsteht wieder eine Situation, wo er zugibt und sagt, dass er gesündigt hat. Diese Gespaltenheit ist sehr spannend.
 

Warum haben Sie sich entschieden, auch eine exil-kambodschanische Familie einzubeziehen?
Susanne Brandstätter:  Es schien mir schwierig, gewisse Aspekte im Land anzusprechen und in den Film hineinzubringen. Ich dachte mir, dass eine Familie, die im Ausland lebt, einen anderen, kritischen Blick von außen auf die Geschehnisse werfen kann. Die Eltern waren damals in den siebziger Jahren geflohen, der Vater war Soldat in Lon Nols niedergeschlagener Armee. Er ist am Tag nach dem Einmarsch in Phnom Penh mit seiner Familie geflohen, hat es zum Glück bis Frankreich geschafft und sich dort eine Existenz aufgebaut. In der Pariser Familie kommen drei Schwestern vor, die ältere, sie ist um die 40, die beiden jüngeren, die in Paris geboren sind, sind jetzt 21 und 23. Das sind zwei sehr moderne, aufgeschlossene, freche junge Pariserinnen, die zwar die kambodschanische Tradition von zu Hause mitbekommen haben, gleichzeitig sind sie aber absolut starke westliche Frauen, die mit ihren Eltern einen "westlichen" Umgang haben. Die kambodschanische Gesellschaft ist so organisiert, dass die Hierarchie es schwermacht, dass die junge Generation die ältere Generation befragt. Die Pariser Familie steht für moderne Eltern, die ihre Töchter zu sehr selbstbewussten, kritisch denkenden jungen Frauen erzogen haben.

Über welchen Zeitraum erstrecken sich die Dreharbeiten, wie lange arbeiten Sie insgesamt schon am Projekt?
Susanne Brandstätter: Ich habe 2006 ohne Produktionsfirma mit der Recherche begonnen, die sich dann mit der Entscheidung, mit Amour Fou als Produktionsfirma zusammenzuarbeiten, intensiviert hat. Ich war dann das erste Mal für ca. eineinhalb Monate in Kambodscha, in der letzten Recherche-Woche kam das Team dazu. Wir mussten schauen, wie diese Familien vor der Kamera agieren, ob sie sich dabei wohlfühlen, da es sich ja um einen "observational documentary" handelt. Da ist es notwendig, dass sich die Leute vor der Kamera natürlich benehmen. Es war nicht leicht, die richtigen Familien zu finden. Die Menschen sind zwar sehr freundlich, wenn es aber darum geht, über längere Zeit einen Film zu machen, da wird es ziemlich schwierig. Die Leute haben Dinge erlebt, die man nicht so einfach ansprechen kann. Man braucht also Leute, denen die Aufarbeitung der Vergangenheit ein Anliegen ist. Manchmal fand ich Jugendliche, die unheimlich interessiert gewesen wären, aber die Eltern wollten nicht über das Regime reden, weil sie ihre Erlebnisse lieber vergessen möchten oder Angst hatten, Probleme mit den Behörden zu bekommen. Und dann hatte ich die umgekehrten Fälle, wo die Eltern sehr gerne über ihre Erfahrungen gesprochen hätten, aber die Jugendlichen nicht mitmachen wollten. Der Zugang zu den Menschen war überhaupt nur durch Vermittler möglich, deren Vertrauen ich gewonnen hatte und die mich bei den Familien als Filmemacherin vorstellten und fragten, ob sie bereit wären, mit mir zu sprechen. Da war noch keine Rede vom Filmen, aber zumindest war die Tür offen. Mittlerweile habe ich zu den Familien eine wirklich gute Beziehung entwickelt. Dennoch beginnt die Vorarbeit bei jedem Drehblock wieder von Neuem. Vieles muss wieder abgeklärt werden, da ja immer wieder einige Monate zwischen den Drehblöcken verstreichen.

Wie verlaufen dann die Dreharbeiten selbst?
Susanne Brandstätter: Ich bin meistens zwei, drei Wochen vor dem Team schon dort, sobald das Team da ist, drehen wir drei Wochen lang. Bis jetzt hatten wir in Kambodscha eine Woche Recherche-Dreh und zwei Drehblöcke. Dort zu arbeiten, ist sehr schwierig. Die Wohnbedingungen am Land sind meistens sehr rudimentär, auch die klimatischen Bedingungen sind sehr anstrengend. Es herrscht eine Kombination von Hitze und Feuchtigkeit und wir haben während der ärgsten Hitzeperiode, wo dort üblicherweise niemand arbeitet, gedreht und zwar in einer winzigen Notbehausung mit Wellblechdach, wo wir aufgrund der Lichtverhältnisse jede Öffnung abdecken mussten. Es war wie in einem Ofen.
Es passieren auch immer wieder recht unerwartete Dinge. Nach dem ersten Recherche-Dreh habe ich eine meiner Protagonistinnen getroffen, die in Phnom Penh wohnt, deren Eltern aber weit außerhalb leben. Als ich mit ihnen von Phnom Penh aus telefonierte, erwähnten sie, dass sie beim Haus etwas umgebaut hätten und luden mich zur Housewarming-Party ein. Als ich mit dem Team hinkam, war ich total erschüttert: das ganze Haus, in dem wir vorher gedreht hatten - ein schönes, traditionelles Stelzen-Haus - war abgetragen und nur rudimentär wieder im Aufbau, die Housewarming-Party auf unbestimmt verschoben. Es ist ein Schock, wenn das ganze Drehmotiv nicht mehr da ist. Aber solche Dinge passieren, das ist Dokumentarfilm, das ist echtes Leben und immerhin sieht man durch die Fortschritte am Hausbau sehr deutlich, wie die Zeit vergeht.

Wann werden Sie das nächste Mal in Kambodscha drehen?
Susanne Brandstätter: Rund um die Urteilsverkündung. Ich werde etwas früher hinfahren, das Team kommt zur Urteilsverkündung und dann möchten wir in den Wochen danach noch die Reaktionen der Bevölkerung und unserer Familien einfangen. Das wird in der ersten Hälfte 2010 sein. 

Haben Sie das Gefühl, der Frage nach dem "Warum" näher gekommen zu sein?
Susanne Brandstätter: Diese grauenhaften Erfahrungen sind etwas, was uns so weit weg erscheint. Es ist aber gar nicht so weit weg. Ich bin in diesen Film mit Ideen hineingegangen, aber vor allem mit Fragen. Man fragt sich, wie soviel Unmenschlichkeit passieren kann. Ja, ich bin dem ?Warum? näher gekommen. Es gibt identifizierbare Muster. Ich glaube, es geht auch darum, dass wir Antennen entwickeln, diese Muster, diese Gefahren zu erkennen und auch zu erkennen, dass eine Gesellschaft eine sehr fragile Sache ist und ein derartiges Schreckensregime nicht nur in weiter Ferne passieren kann. Wenn verschiedenste Faktoren zusammentreffen, kann es überall passieren.

Interview: Karin Schiefer
Oktober 2009