Ich denke, es ist ein zeitloses Thema. Pädophilie und sexueller Kindesmissbrauch existieren zu jeder Zeit durch alle Schichten
der verschiedenen Gesellschaftsformen. Sebastian Meise, über sein Spielfilmdebüt STILLLEBEN.
In STILLLEBEN wie auch in früheren Kurzfilmen von Ihnen geht es um familiäre Beziehungen. Ist die Familie als Zelle allen
Ursprungs für Sie ein wesentlicher Ausgangspunkt Ihres filmischen Erzählens?
Sebastian Meise: Generell würde ich das nicht sagen. Im Fall von Stillleben hat der Drehbuchautor Thomas Reider eine Geschichte
geschrieben, die ihren Ausgangspunkt in einem Projekt der Berliner Charité nahm, wo Pädophile Therapie in Anspruch nehmen
können, ehe sie zu Tätern werden. Einen solchen Fall in die Familie zu heben, erschien uns für den Film als der interessanteste
Ansatz, da die Pädophilie generell ein Thema ist, das nach wie vor stark tabuisiert wird. Wenn aber so ein Fall bzw. so eine
Problematik in einer Familie ans Tageslicht kommt, sind die Menschen in dieser Familie gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen,
da sie alle in der ein oder anderen Form davon betroffen sind.
Wie die Auseinandersetzung stattfindet, bleibt dennoch offen?
Sebastian Meise: Ich denke deshalb, weil die Menschen dieser Familie Probleme haben eine eindeutige Haltung dazu zu finden.
Was mir an der Geschichte besonders schien, war der Umstand, dass es Menschen gibt, die ihre Fantasien nicht ausleben wollen.
Das war mir bis dahin nicht bewusst und mir wurde klar, dass ich zwischen der Tat und der Neigung nicht wirklich differenziert
habe. Als das Projekt in Berlin 2005 startete, waren nach dem ersten Wochenende beinahe alle Plätze belegt. Die Nachfrage
war also enorm hoch und es gab bis dato keine relevanten Studien diesbezüglich, weil man sich in der Regel erst mit den Menschen
zu beschäftigen beginnt, wenn sie schon zu Tätern geworden sind. Die Forschung geht heute davon aus, dass es sich um eine
gestörte sexuelle Ausrichtung handelt, die nicht veränderbar ist, d.h die sich in der Regel im Lauf der Pubertät ausprägt
und dann bis ans Lebensende bestehen bleibt. Selbst wenn Menschen vereinzelt so weit gehen, sich kastrieren zu lassen, um
ihre Triebe zu kontrollieren, bleiben ihre Phantasien dennoch bestehen. Im Rahmen des Charité-Projekts wurden auch erste Erhebungen
veröffentlicht, die davon ausgehen, dass es alleine in Deutschland rund eine viertel Million Pädophile gibt. Das ist eine
erschreckende Zahl und es tat sich für uns generell die Frage auf, welchen Umgang eine Gesellschaft mit solchen Menschen finden
kann.
Das bedeutet auch, dass die Zahl derer hoch ist, die eine pädophile Neigung in sich auch zugeben.
Sebastian Meise: Die Zahl derer, die sie zunächst einmal erkennen das ist ja der erste Schritt scheint groß
zu sein. Sie auszuleben oder nicht ist aber eine moralische Frage und die Motive, warum jemand ein Gewaltverbrechen begeht,
sind meines Erachtens komplexer und gehen über die Neigung hinaus.
Parallel zu STILLLEBEN entstand und entsteht ein Dokumentarfilm-Projekt mit dem Titel Outing. Welches Projekt ging welchem
voran?
Sebastian Meise: Erst war der Spielfilm. Wir begannen zum Charité-Projekt zu recherchieren und sind dann über Umwege auf einen
jungen Mann gestoßen, der eben diesen Grundsatz lebt, seine pädophile Neigung nicht ausleben zu wollen. Er hat sich nach den
ersten Gesprächen bereit erklärt, in einem Dokumentarfilm aufzutreten und offen über das zu sprechen, was in ihm vorgeht.
Das hat uns zunächst verstört und wir waren uns auch der Verantwortung ihm gegenüber bewusst, ihn einer Öffentlichkeit auszusetzen,
die das einerseits nicht hören will und die ihn andererseits dafür verachten wird. Als wir dann verstanden, was hinter diesem
Outing steckt, haben wir uns entschlossen, die Gesprächen mit ihm zu filmen und je länger wir uns mit ihm beschäftigten,
desto länger wurde der Film. Wie jeder Mensch sucht auch er die Akzeptanz. Für seine Neigung kann er nichts und indem er sich
nun ehrlich zu ihr bekennt, hofft er, dass die Menschen das anerkennen. Allerdings haben wir im kontinuierlichen Kontakt mit
ihm bemerkt, wie schwierig es teilweise ist, diese Akzeptanz aufzubringen und wie oft man dabei an seine eigenen Grenzen stößt.
Hat der Protagonist des Dokumentarfilms die Hauptfigur des Spielfilms genährt?
Sebastian Meise: Nicht konkret, aber durch die Gespräche mit ihm haben wir zu verstehen gelernt, was in einem solchen Menschen
vorgeht, und er hat uns auch geholfen, die Figur des Vaters in Stillleben ständig zu überprüfen.
Jetzt kommen mit MICHAEL von Markus Schleinzer, Poliezei von Maïwenn Filme ins Kino, die das Thema der Gewalt an Kindern zum
Thema haben. Das sind Filme, die zeitlich mehr oder weniger parallel entstanden sind. Warum kommt dieses Thema Ihrer Meinung
nach gerade jetzt in der künstlerischen Aufarbeitung so verstärkt an die Oberfläche?
Sebastian Meise: Ich denke, es ist ein zeitloses Thema. Pädophilie und sexueller Kindesmissbrauch existieren zu jeder Zeit
durch alle Schichten der verschiedenen Gesellschaftsformen. Auch in der filmischen Aufarbeitung gibt es da viele Vorbilder,
wie etwa Kubriks Lolita oder Nicole Kassells The Woodsman. Ich glaube, dass das Bekanntwerden der vielen und teilweise extremen
Missbrauchsfälle die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung schürt und dass dabei auch das Bedürfnis nach Differenzierung entsteht.
Der Film wirft ja auch die philosophische Frage auf, wo die Schuld beginnt. Machen Gedanken schuldig? Welches Recht hat ein
Mensch auf sein Geheimnis?
Sebastian Meise: Die Schuld des Vaters in Stillleben ist ja keine rechtliche Frage, denn wir leben in einem System,
in dem man für seine Gedanken nicht verurteilt werden kann. Gleichzeitig wird der Mensch in unserer Gesellschaft aber immer
durchlässiger und die Gesellschaft ihrerseits fordert mit den Argumenten der Risikominimierung die immer stärkere Kontrolle
über das Individuum. Vor allem bei dem Thema Pädophilie fand ich faszinierend, wie der Grundsatz des freien Menschen beginnt,
ins Wanken zu geraten. Würde man die hypothetische Frage stellen, ob ein Pädophiler, der seine Phantasien offen zugibt, in
einem Kindergarten arbeiten darf, würde jeder vermutlich nein sagen. Selbst, wenn dieser beteuert, seine Phantasien
im Griff zu haben, wir würden das Risiko, dass er sich eines Tages nicht mehr unter Kontrolle hat, als zu groß einschätzen.
Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber wo zieht man da die Grenze, ab wo soll und darf eine Gesellschaft über das potentielle
Risiko, das von einem Menschen ausgeht, urteilen? Da ein Pädophiler weiß, dass er von uns in der Regel als tickende Zeitbombe
gesehen wird, wird er alles daran setzen, seine Phantasien geheim zu halten und wird damit vielleicht sogar zu einer noch
größeren Gefahr. Der Vater in Stillleben wirft seinerseits die Frage auf Darf ein Vater überhaupt ein Vater sein, wenn
er solche Gedanken hat? Nicht nur, weil er sein Kind einer Gefahr ausgesetzt hat, sondern für die Familie stellt sich,
denke ich, zwangsläufig die Frage, ob er zu väterlicher Liebe überhaupt fähig war, wenn er die ständige Lust verspürt hat,
mit seinem Kind sexuell zu werden. Und genau diese Frage ist auch der jahrelange Konflikt des Vaters, aus dem sein Schuldgefühl
resultiert.
Was in STILLLEBEN sehr gut gelingt, ist, den Vater in seinen inneren Kämpfen und als sehr berührende Figur darzustellen. Sind
die inzestuösen Gedanken nicht auch Metapher für einen Graubereich in einer Familie, der nicht angesprochen werden darf und
der eben durch das Schweigen die Beziehungen innerhalb der Familie unterminiert?
Sebastian Meise: Ich glaube ja, denn ich persönlich kenne ich kaum eine Familie, in deren Dynamik die Verdrängung nicht maßgeblich
bestimmend wäre und meist macht erst ein Ausnahmezustand die Verdrängung deutlich. Die Menschen im Film mögen sich und es
ging uns nicht darum zu zeigen, dass sie nicht miteinander sprechen können oder wollen, sondern darum, wie hilflos sie diese
Situation macht. Sie müssen alles, was sie für den Vater jemals empfunden haben in Frage stellen und neu bewerten. Sie wissen
aber nicht, wie sie mit dieser Neudeutung umgehen sollen und ob sie diesen Mann für schuldig erklären können. Sie finden keine
Worte dafür und nur der Vater kann diese Hilflosigkeit am Ende auflösen.
Welche Idee verbirgt sich demnach hinter dem Titel STILLLEBEN?
Sebastian Meise: Der Titel erlaubt für mich mehrere Deutungsmöglichkeiten. Das Bild einer schockierten Familie im Stillstand,
das stille Leben des Vaters, die Oberfläche eines erstarrten Idylls, für mich persönlich würden sie alle passen.
Wie verlief der Drehbuch-Prozess in Zusammenarbeit mit Thomas Reider? Wie wuchsen diese vier Figuren, die sehr gleichwertig
die Geschichte tragen?
Sebastian Meise: Die Geschichte war ursprünglich stärker mit Fokus auf die Geschwister gedacht. Der Vater stand zwar immer
im Zentrum, von dem alles ausgeht, er war als Person aber weitgehend ausgespart. Im Laufe der Zeit ist dieses Gleichgewicht
der Figuren entstanden. Thomas Reider hat den ersten Entwurf für das Drehbuch geschrieben und dafür den Carl-Mayer-Drehbuchpreis
bekommen. Ab dem Zeitpunkt haben wir dann gemeinsam die Geschichte weiterentwickelt, indem wir manchmal gemeinsam geschrieben,
manchmal Versionen hin- und hergeschickt und vor allem viele Gespräche geführt haben. Insgesamt haben wir beinahe drei Jahre
am Drehbuch gearbeitet.
Haben Sie, als das Buch in einer fertigen Fassung bestand, mit den Schauspielern noch an den Figuren weitergearbeitet?
Sebastian Meise: Ja, sehr intensiv. Wir haben allerdings sehr wenig theoretisch über das Thema gesprochen, sondern wollten
in der gemeinsamen Arbeit einen persönlichen Zugang dazu entwickeln. Jeder der Schauspieler sollte eine eigene Haltung zu
dem, was da passiert, finden. Daher ist von Seiten der Schauspieler sehr viel in die Figuren eingeflossen.
War es eine schwierige Suche, den Darsteller für den Vater zu finden?
Sebastian Meise: Für die Rolle des Vaters war mir wichtig, dass sie von jemanden gespielt wird, mit dem man nichts verbinden
kann, der also im Film unbekannt ist. Anfangs wollte ich einen Laien, aber Eva Roth, die den Film gecastet hat, hat mir in
diesem Fall davon abgeraten und mir in einem der ersten Castings Fritz Hörtenhuber vorgestellt, der zwar eine langjährige
Bühnenerfahrung hat, für den dieser Film aber bislang seine erste Filmrolle ist. Die Sorgfalt und Genauigkeit, mit der
er sich von Anfang an dieser Figur genähert hat, hat mich sehr beeindruckt.
In der Bildarbeit wird sehr viel mit Halbschatten mit den dunklen Zonen in Räumen gearbeitet. Wie haben Sie mit Gerald Kerkletz
an der Bildsprache gearbeitet?
Sebastian Meise: Die teilweise langen und statischen Tableaus und der große Kontrast im Licht schien für uns am besten den
Zustand wiederzugeben, in dem sich diese Figuren befinden.
Gerade in der vermeintlichen Idylle des Sommers findet man diesen Kontrast. Draußen die pralle Sonne und kaum kommt man in
ein Haus, hat man das Gefühl die eigene Hand vor Augen nicht mehr zu sehen. Dieses natürliche Erleben von Lichtstimmungen
wurde für uns zum Prinzip, auch was die Nachtszenen oder etwa das Bordell betrifft.
STILLLEBEN spielt sehr stark auf einer emotionalen Ebene, bekommt aber im zweiten Teil, wenn das Geheimnis auf dem Tisch liegt
und man nicht weiß, wer wann wie reagieren wird, einen starken Suspense-Faktor. War es eine Absicht, möglichst lange eine
Spannung zu halten, bis eine Reaktion im Sinne einer Handlung sichtbar wird?
Sebastian Meise: Suspense ist nicht das Wort, das ich verwenden würde. Die Figuren befinden sich in einer Art Pattstellung,
sie alle wünschen sich, dass etwas passiert, sind aber nicht wirklich fähig, den ersten Schritt zu machen. Wir wussten selbst
lange nicht, wie wir das auflösen sollten und die Idee zum Schluss, die Lösung, die der Vater findet, kam erst relativ spät
im Drehbuchprozess. Der Vater war für uns immer ein Mensch, der sehr eigentümliche Wege findet, mit seinem Problem umzugehen.
Dem wollten wir irgendwie gerecht werden.
Ist seine Gefangennahme eine Befreiung für ihn?
Sebastian Meise: Ich glaube ja, denn er hasst sich ja permanent selbst für seine Gedanken.
Findet man als Filmemacher selbst zu einer Haltung zu diesem Thema, wenn man sich so lange damit auseinandersetzt?
Sebastian Meise: Ich habe keine eindeutige gefunden, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Protagonisten unseres
Dokumentarfilms. Da es für uns unmöglich war, einen Film über jemanden zu machen, den wir von Grund auf negativ bewerten,
haben wir uns ihm gegenüber den vorurteilsfreien Umgang auferlegt, denn solange er nichts Unrechtes tut, können wir ihm moralisch
gesehen auch nichts vorwerfen. Allerdings sind wir in dieser Haltung stark auf die Probe gestellt worden. Vor allem jetzt
zum Ende hin, wo er in unseren Augen begonnen hat, seine eigenen Grenzen zu verschieben und aufzuweichen, sind auch wir auf
unsere Grenzen gestoßen. Dieses Dilemma in der eigenen Positionierung wollten wir vor Augen führen. Allerdings konnten wir
mit ihm auch offen über dieses Dilemma sprechen und ich persönlich glaube, dass dieser gegenseitige Dialog sehr wichtig ist.
Interview: Karin Schiefer
September 2011