«Es hat mich die Frage interessiert: Wie leben wir? Wie sehen die Grundlagen und Hintergründe unserer Zivilisationsform aus?
Welche Prozesse laufen da im Hintergrund, die dieses Leben ermöglichen, ausgehend von der These, dass dieses Leben nur so
funktionieren kann, weil wir andere davon abhalten?» Nikolaus Geyrhalter im Gespräch über Abendland.
Die Arbeit des Filmemachers besteht darin, etwas, das ihn gerade bewegt, sichtbar zu machen. Was veranlasst einen Filmemacher
die Nacht/die Dunkelheit zu wählen, um etwas sichtbar zu machen, etwas ans Licht zu bringen?
Nikolaus Geyrhalter: Es hat mich weniger die Nacht interessiert als unser Leben, die Grundlagen und Hintergründe unseres Lebens,
unserer Zivilisationsform. Wie leben wir und welche Prozesse laufen da im Hintergrund, die dieses Leben ermöglichen? Natürlich
ausgehend von der These, dass dieses Leben nur so funktionieren kann, weil wir andere davon abhalten.
Die Themen und Drehorte sind sehr assoziativ, wie haben sich die Themen herauskristallisiert? Welche Zeit und logistischen
Aufwand haben die Dreharbeiten verlangt?
Nikolaus Geyrhalter: Es waren zwei Kreise: der eine bewegte sich rund um die Frage: Wie leben wir? Was ist der Stand unseres
Lebens in Bezug auf Abendland, ein Begriff, der verwendet wird, um unsere Kulturform als eine höher stehende zu
definieren, um das Abendland vom Morgenland abzugrenzen. Was ist Abendland 2011 wirklich? Warum glauben wir, dass
es so überlegen ist? Der zweite Kreis bewegte sich um die Frage - wenn es so ist, warum wollen wir niemanden daran teilhaben
lassen? Diese beiden Themenkreise, die einander ein bisschen überlappen, bildeten den Ausgangspunkt. Die Nacht hat sich im
Rechercheprozess ergeben. Der Arbeitstitel lautete zunächst Europe, und Maria Arlamovsky, die für den Film am
Anfang sehr viel recherchierte, brachte irgendwann den Begriff Abendland als Gedankenmodell ein und damit wurden
sehr viele Richtungen klar: u.a. die Innen-/Außengeschichte und die Idee, dieses große Thema in der Nacht anzusetzen. Mit
dem Ansatz, das ist ein Film über Europa in der Nacht, wurde er auch für uns greifbarer. Die Nacht hat sich in der Folge als
Schlüssel im Zugang herauskristallisiert, weil sehr viele Dinge sehr bewusst in der Nacht passierten, weil Systeme und Prozesse,
die 24 Stunden laufen, in der Nacht viel sichtbarer werden und klarer offen liegen. Es ist wie eine offene Wunde, die Nacht
spart den Alltag aus. Die Nacht war mir weniger als Analyse der Nacht wichtig, sondern um genauer hinschauen zu können.
Man gewinnt den Eindruck, dass der Prozess des Drehs weniger nach einem linearen Konzept, sondern organisch gewachsen ist.
Wie ist der Routenplan für den Dreh entstanden?
Nikolaus Geyrhalter: Wir haben über zwei Jahre gedreht und parallel dazu geschnitten. Das Projekt hat sich natürlich in Rücksprache
und Rückwirkung mit Wolfgang Widerhofer, der den Schnitt gemacht hat, weiterentwickelt. Wir haben Material gesichtet, Richtungen
festgestellt, geschärft, nachgedreht. Die Wahl und Recherche der Orte erfolgte in intensivem Teamwork. Ich habe auch Leute
innerhalb und außerhalb des Teams immer wieder ermutigt nachzudenken, was interessant wäre. Wir hatten gewisse Rechercherichtlinien
und dann gab es in den diversen Ländern Teams, die eigenständig weitersuchten und Vorschläge machten. Wir haben an viel mehr
Orten gedreht als letztlich im Film zu sehen sind, aber genau durch diesen Prozess hat der Film erst seine Form und seine
Richtung finden können. Es gab gewisse Schlüsselszenen, die mir sehr wichtig waren, andere die gut gepasst haben und andere,
die sich ergeben haben. Wichtig war, dass das eine Grundthema - unser Leben, wir im Kontext des großen Ganzen, im Kontext
zum Seriellen, zur Maschine - vorhanden war; das andere betraf Behörden, Apparate, Sicherheit, Sicherheitstraining etc.
In vielen Punkten haben Sie die Gesellschaft auf ihre Funktionen reduziert und zutiefst menschliche Belange (Geburt/Tod) in
ihrer Erfassung durch das System dargestellt. Individualität und Emotion scheinen bewusst ausgeklammert. Kommunikation zeigen
Sie als antrainierte Kommunikation. Der Film scheint etwas anzusprechen, was jenseits der Einsamkeit liegt und eine Gesellschaft
zu beschreiben, die ihre spontane Menschlichkeit verloren hat.
Nikolaus Geyrhalter: Das ist natürlich eine These. Der Film ist immer so gebaut, dass man gezwungen ist, auf bestimmte Aspekte
des Lebens hinzuschauen. Bei der Uraufführung in Graz meldete sich ein Zuschauer zu Wort, der sehr ungehalten war, aber nicht
genau sagen konnte, ob er nun sauer auf Europa sei, weil die Filmbilder seiner Wahrnehmung völlig widersprechen oder ob er
nun auf mich sauer sein sollte, weil ich ihm sein Bild von Europa zerstört habe. DAs muss er für sich lösen. Der Film behauptet
ja nicht eine einzige Wahrheit, ich beanspruche ja nicht, die universelle Wahrheit über Europa zu erzählen. Ich finde es gibt
Zusammenhänge und Aspekte, die man gerne übersieht, dennoch aber nicht wegleugnen kann. Jeder, der sich dem Thema Europa stellt,
würde darüber einen anderen Film drehen.
Die EU, die politische Struktur und Trägerin der Idee eines vereinten Europa, zeigen Sie festgefahren im babylonischen Sprachengewirr,
in ihrer Unfähigkeit zu kommunizieren und in ihrem Verlust der gemeinsamen Sprache, die die Grundlage jeder Aktion sein muss.
Sehen Sie die Verständigungsschwierigkeiten als Symptom für das Zersplittern der gemeinsamen Ziele?
Nikolaus Geyrhalter: Das ist eine Interpretation, die ich dem Zuschauer überlassen möchte. Aber dass das System, in dem wir
stecken, einerseits sehr mächtig und andererseits sehr brüchig ist, ist auch für uns eine Erfahrung gewesen. Ich denke an
den Überwachungswagen, der ganz zu Beginn das Bild verlässt und einfach abstirbt, bevor er anfährt. Das sind so kleine Dinge,
wo das große System wieder menschlich wird und auch nicht perfekt funktioniert. Es ist nie etwas schwarz oder weiß, sondern
immer grau.
Neben die EU haben Sie eine zweite Grundstruktur der abendländischen Kultur gestellt - die katholische Kirche, die ihre Mission
auch grundlegend in Frage stellt.
Nikolaus Geyrhalter: Da geht es sehr viel um Kultur, Tradition, Geschichte und um Macht. Wie präsentiert sich Macht? Wie geht
die Macht damit um, dass sie bröckelt? Wie spiegelt sich das in der Inszenierung in der Öffentlichkeit wider? Dass wir genau
diesen Moment vor die Kamera bekommen haben, ist dann wieder ein Geschenk des Zufalls. Es gibt nicht so viele Veranstaltungen,
wo der Papst eine Messe am Petersplatz hält. Dass sich innerhalb dieser Fragestunde, wo Priester aus aller Welt ihre Fragen
stellen, ein Moment ergibt, der sich im Film als richtungsweisend entpuppt hat, das kann man beim Dreh gar nicht beeinflussen,
nur hoffen, dass es passt. Es hat auch viele tolle Drehorte gegeben, wo nicht das passiert ist, was uns dem Film entsprechende
Bildern geliefert hätte.
Es sind kaum Episoden in Österreich gedreht, nach welchen Kriterien habt ihr Drehorte, dort wo es nicht um ortsgebundene Ereignisse
handelt, ausgewählt Telefonseelsorge in Holland, Newsroom in England, Disco in Deutschland.
Nikolaus Geyrhalter: Wir haben unterschieden zwischen Orten, die eindeutig wieder erkennbar sind wie der Petersplatz, das
Oktoberfest oder der Grenzzaun von Ceuta. Bei den anderen Orten ist es egal, wo sie gedreht sind, weil sie austauschbar sind.
Die Seelsorge haben wir deshalb in Holland gedreht, weil wir in vielen Ländern angefragt haben, aber nur dort eine Drehgenehmigung
erhielten. Sobald Bilder klar waren, nach denen wir suchten, ging das an die Rechercheteams hinaus, die dem in die verschiedensten
Richtungen nachgingen.
Der Film zieht einen Spannungsbogen vom Alles-Sehen (totale Überwachung an den Außengrenzen oder in den Straßen Londons) zum
Nicht-Sehen-(Wollen) z.B. bei der Massenbetäubung durch Massenunterhaltung beim Oktoberfest. Eine Gesellschaft verschließt
sich, auch indem sie nicht sehen will, was vorgeht.
Nikolaus Geyrhalter: Da versuchen wir auch das Publikum abzuholen. Ich halte es für die Aufgabe von Dokumentarfilm, genauer
dort hinzuschauen, wo man gerne wegschaut und das, ohne es besser zu wissen. Ich habe auch keine Lösungen. Ich will aber auf
Wahrheiten hinweisen, denen man sich nicht zu verschließen braucht. Der Film macht keine Schuldzuweisungen, weder ans System
noch ans Publikum, das ist ein Prozess, der, wenn er passiert, in den Köpfen der Zuschauer geschieht.
Geht es bei den Castor-Transporten darum, zu zeigen, dass selbst der Widerstand innerhalb der Gesellschaft sich zu einem Ritual
zwischen Demonstranten und Polizei stilisiert hat, weil es keine echten Reibungsflächen in der Gesellschaft mehr gibt?
Nikolaus Geyrhalter: Genau so ist es mir auch vorgekommen. Es ist eine große Inszenierung, wo das Ergebnis von Anfang an klar
ist. Der Transport wird durchkommen. Das Volk darf sich ein bisschen aufführen, aber es sind Demonstration, die sich nicht
durchsetzen werden. Es ist ein kleines Zugeständnis der Macht, dass Demonstrationen möglich sind, aber sie sind nicht dazu
da, damit eine Veränderung herbeizurufen. Wenn man sich dagegen Demonstrationen im arabischen Raum anschaut, wo es um Demokratie
geht, da spürt man eine ganz andere Kraft dahinter. Das ist ein Eindruck, dessen ich mich nicht erwehren konnte, dass Europa
sehr kraft- und saftlos geworden ist. Das war auch eine Frage, die den Recherchen zugrunde gelegen ist: Woher kommt
in Europa die Energie her?
Das ist auch etwas, das sehr stark in den beiden Episoden, wo es um die Zerstreuung in der Freizeit geht, zum Ausdruck kommt.
Ich denke an die Massenunterhaltung und Massenbetäubung beim Oktoberfest und bei der Techno-Party
Nikolaus Geyrhalter: Das stimmt. Da ist auch keine Energie mehr vorhanden. Ich habe oft das Gefühl gehabt, dass wir Europäer
einfach satt und zufrieden und deshalb schwerfällig sind, da gibt es kein großes Wollen und keine Notwendigkeit mehr. Und
dann reduziert sich der Energieaufwand auf ein darauf schauen, dass alles bleibt wie es ist: Grenzen sperren und nicht nachdenken.
Wir haben es geschafft, nach dem Krieg alles wieder aufzubauen und jetzt wollen wir es alleine genießen, das ist die dominierende
Haltung. Wir kämpfen nicht für Demokratie und auch nicht für Umweltschutz, weil wir es noch nicht stark genug spüren, dass
wir das sollten. Wir gehören zur Generation, die das, was die Eltern nach dem Krieg aufgebaut haben, erben. Deshalb schauen
wir darauf, dass uns niemand unsere Lebenspläne verpfuscht. Ich habe nicht das Gefühl, dass Europa noch große Visionen hat,
wohin es gehen soll. Es ist auch schwer. Es geht uns schon viel zu gut. Dass man innerhalb eines Systems, wo es einem zu gut
geht, auch frustriert sein kann, ist eine andere Geschichte.
Zwei Fragen zum Dreh selbst: Filmen in der Dunkelheit ist auch eine technische Herausforderung, wie sind Sie an die fototechnische
Herausforderung herangegangen?
Ich gehe davon aus, dass die verschiedenen Drehorte auch einen unterschiedlichen Zugang im Dreh verlangt haben ich
denke an bewegtes Drehen im Flüchtlingslager oder bei der Techno-Party einerseits und die fixen Einstellungen andererseits.
Nikolaus Geyrhalter: Den Umgang mit der Kamera habe ich nicht als sehr unterschiedlich erlebt. Das Ziel war immer, Räume und
Situationen zu öffnen und möglichst viel erlebbar zu machen und zwar mit möglichst wenigen Schnitten, Plansequenzen und weiten
großen Bildern. Die einzige Entscheidung, die zu treffen war, lautete: wo mache ich eine Handkamera, wo mache ich keine? Das
bietet sich dann durch den Ort an, das ist in keiner Weise im Vorhinein planbar. Früher habe ich viel häufiger mit Handkamera
gefilmt und ich mache es auch gern. Es muss nur auch einen Grund und einen Sinn haben, sie vermittelt noch einmal einen viel
subjektiveren Eindruck. Technisch war es natürlich oft an der Grenze des Machbaren. Die erste Szene mit dem Überwachungsbus
auf dem Feld, ist die einzige Szene, die wir noch einmal gedreht haben, weil sie tatsächlich zu dunkel war. Da haben wir dann
noch einmal gedreht und künstliches Licht erzeugt und die Szene nachgebaut. Deshalb steht sie auch am Beginn des Films, weil
sie etwas sehr Filmisches und Artifizielles hat und gleichzeitig einen Rhythmus vorgibt. Das hätte später im Film nicht mehr
funktioniert, als quasi Prolog tut sie das ganz gut.
Ist ABENDLAND wie auch frühere Projekten in einem ständigen Dialog mit Wolfgang Widerhofer entstanden, der den Schnitt gemacht
hat?
Nikolaus Geyrhalter: Es funktioniert mehr oder weniger immer gleich. Das Material landet unkommentiert bei ihm. Wolfgang sucht
zunächst einmal Seines darin. Ich glaube, bei diesem Projekt war es sehr hart oder anders gesagt: ich denke, er hat genauso
gesucht wie ich. Wir mussten alle erst unsere Position finden, was wir wirklich erzählen wollten. Wie kann man Themen unterbringen,
ohne dass es zu plump ist. Das war dieses Mal die große Kunst, die Geschichten so zurückgenommen zu erzählen, dass alles vorkommt,
was mir wichtig war, ohne dass es zu dick aufgetragen wirkt. Das hat entsprechend Zeit gebraucht. Unsere Arbeitsweise ist
sehr aufgabengeteilt, daher ist Wolfgang immer auch schon beim Buch dabei, weil der Film dort seine Form gewinnt. Durch den
Umstand, dass es ein so offener, verwundbarer Film war, war es für Wolfgang der aufwändigste Schnitt, weil es ganz genau stimmen
muss: dass die Fragilität einerseits erhalten bleibt und der Film dennoch seine klar erkennbare Logik hat. Es war sicherlich
das offenste Projekt im Vergleich zu anderen. Die Themen kommen und dann muss sich die Form einfach ergeben.
In einem Text zum Film ist vom Prinzip Abendland die Rede, ist Ihre Vision dazu eher eine pessimistische?
Nikolaus Geyrhalter: Ja, wahrscheinlich schon. Ich habe überhaupt einen pessimistischen Blick auf unsere Lebensform. Es ist
sehr, sehr lange nichts passiert, wenn man aktuell betrachtet, was gerade alles geschieht? Ich bin eigentlich ein großer Optimist,
insgesamt kann man es nicht wirklich sein. Wenn man sich den Lauf der Geschichte anschaut, dann ist noch jede Hochkultur niedergegangen
und die Welt dreht sich weiter. Ich hoffe, dass sie sich nach uns auch weiter dreht. Es wird langsam jedem, der hier lebt,
klar, dass der Bogen überspannt ist und dass es so nicht mehr gehen wird, egal wo. Das spürt man an allen Ecken und Enden.
Wer das leugnet, ist wirklich weltfremd. Ich will hier nicht die große Katastrophe prophezeien. Ich bin allerdings davon überzeugt,
dass wir uns etwas überlegen müssen. Das ist kein Pessimismus, sondern ein Realismus.
Interview: Karin Schiefer
März 2011