INTERVIEW

 

 

Es war uns auch nicht klar, wie unterschiedlich die Nachkommen der beiden Seiten mit der Geschichte umgehen. Als Nachkomme von Holocaust-
überlebenden oder von Widerstands-
kämpfer_innen kann man sich nicht aussuchen, ob man sich mit dem NS und der Shoah beschäftigt.

Ein Gespräch mit Simone Bader und Jo Schmeiser



Der Titel Liebe Geschichte mutet wie ein Briefbeginn an oder auch wie etwas Befremdliches, wenn man es als zwei Substantiva nebeneinander verstehen würde, da etwas dabei nicht genau zusammenpasst - so, wie die Liebe zu den Eltern und die historische Wirklichkeit einander (ver)stören und sich nicht einfach glatt aneinander fügen? Wie habt ihr zu diesem Titel gefunden?
Simone Bader: Zuerst gab es den englischen Titel Love History und durch die Übersetzung wurde deutlich, dass sich im Deutschen eine neue Perspektive ergibt, in der die Geschichte zur Adressatin wird. Wir hätten den englischen Titel anpassen und Dear History daraus machen können, dann wäre aber die Nähe zur Love(hi)story und Liebe(s)geschichte nicht mehr da gewesen und auch das ist eine wichtige Komponente.

Jo Schmeiser: Ich mag die Mehrdeutigkeit des Titels. Man kann Liebe Geschichte auch als Aufforderung verstehen. Das heißt, sich zur eigenen Geschichte in Bezug zu setzen, und zwar nicht nur rational, sondern auch emotional. Ein Fokus unseres Films ist Sexualität und Beziehungen: wie die belastete Familienvergangenheit in diese (emotionalen) Lebensbereiche hineinwirkt. So ist der Titel entstanden.


Euer Film hat eine sehr klare Struktur auf mehreren Ebenen - die Interviews der Protagonistinnen stehen in einem starken Bezug zur Architektur, und zwar wird jede Protagonistin mit einem speziellen Gebäude oder einer Anlage in Beziehung gesetzt. Ehe wir im Detail auf die einzelnen Bauten und ihre Auswahl eingehen - was hat euch dazu veranlasst, die Gespräche mit euren Interviewpartnerinnen grundsätzlich mit Architektur in Bezug zu setzen?
Jo Schmeiser: Wir zeigen unsere Gesprächspartnerinnen in öffentlichen Räumen, um die Nachwirkungen des Nationalsozialismus und der Shoah in den Familien der Täter und Täterinnen öffentlich sichtbarer und damit zum Thema zu machen. In der Öffentlichkeit wird ja noch viel zu wenig darüber gesprochen, wie die NS-Vergangenheit in der Gegenwart weiterwirkt. Außerdem wollten wir die Aussagen der Protagonistinnen in ihrem gesellschaftlichen Kontext verankern. Viele andere Menschen in Österreich haben die gleiche Geschichte wie unsere Interviewpartnerinnen. Der Film stellt zur Diskussion, wie gesellschaftliche und familiäre Prägungen zusammenhängen.

Simone Bader: Auch in Things. Places. Years, unserem ersten Dokumentarfilm über jüdische Frauen in London gibt es die Ebene des öffentlichen Raumes im Film. Wir haben unsere Protagonistinnen nach Orten in London gefragt, die ihnen wichtig sind und diese zwischen die Interviews geschnitten, die in Innenräumen aufgenommen wurden. Dieses Konzept der Zwischenräume zum Reflektieren und Nachdenken wollten wir in Liebe Geschichte fortsetzen. Die Architekturen verknüpfen die individuellen Geschichten der Interviewpartnerinnen mit der gesellschaftlichen Ebene. Die einzelnen Bauten stehen jeweils für eine Nachkriegsdekade von den 1950er bis zu den 2000er Jahren, was durch die eingesprochenen Informationstexte zu den jeweiligen zeithistorischen Hintergründen der Dekaden unterstützt wird.


Wie seid ihr an die Auswahl der Bauten herangegangen, um für das jeweilige Dezennium einen auszuwählen? Ich hatte den Eindruck, dass das jeweilige Jahrzehnt mit der Entstehung des Baus in Verbindung  steht, einzig das Juridicum hätte ich eher mit den frühen achtziger Jahren in Verbindung gebracht?
Jo Schmeiser: Luciano Parodi und Karoline Streeruwitz haben eine sehr umfassende und interessante Architekturrecherche für den Film gemacht. Pro Dekade haben sich mehrere Bauten als Drehorte angeboten. Für unsere Auswahl war ausschlaggebend, ob es Anknüpfungspunkte zur spezifischen Geschichte und Problematik der Interviewpartnerinnen gab. Ein weiteres Kriterium war, welche Verbindungen oder Assoziationen zwischen dem ausgewählten Bau und den historisch-politischen Ereignissen seiner Entstehungsdekade hergestellt werden können. Wichtig war natürlich auch, ob sich der Bau für Dreharbeiten überhaupt eignet. Manche architektonisch interessante Bauten sind aufgrund ihres Standortes in einer lauten Umgebung weggefallen. Andere, weil wir keine Drehgenehmigung bekommen konnten.

Simone Bader: Das Juridicum ist in den 1960er Jahren geplant worden und hatte eine sehr lange Bauphase. Es wurde tatsächlich erst in den 1980er Jahren eröffnet. Luciano Parodi und Karoline Streeruwitz, die beide auch als Architekt_innen tätig sind, fanden, dass ein Gebäude mehr der Zeit seiner Planung entspricht. Als juristische Fakultät passt das Juridicum sehr gut zum Interview mit Dietlinde Polach und Jeanette Toussaint. Im Rahmen eines Forschungsprojektes hatte Jeanette die Zeuginnenaussagen zweier Häftlinge gefunden, die von Dietlindes Mutter, einer Aufseherin im KZ Ravensbrück, gequält worden waren. Dietlinde liest diese Zeuginnenaussagen im Film vor.


Welche Bezüge haben die anderen Interviewpartnerinnen zu den Orten, an denen ihr sie aufgenommen habt?
Simone Bader: Bei Helga Hofbauer steht das Gänsehäufel als Badeanstalt der 1950er Jahre in Bezug zu ihrer Kindheit. Helga bekam von ihren Eltern Saisonkarten für zwei verschiedene Badeanstalten. Auch ihre Beschäftigung mit Körperbildern im Nationalsozialismus entspricht diesem Ort. Die UNO-City der 1970er Jahre passt zur Dekade, in der die beiden Deutschland, die BRD und die DDR, Mitglieder der UNO wurden. Patricia Reschenbach erzählt, dass sie durch das Gedenkjahr 1988 politisiert wurde. Ihr filmischer Hintergrund ist das Haashaus bzw. der Stephansplatz als Zentrum politischen Protests. Ein Bild vom Stephansplatz haben wir aus diesem Grund auch für die Postkarte zum Film ausgewählt.

 

Frauen als Täterinnen, die während des Nationalsozialismus keineswegs nur politisch passiv und unwissend als Familienmütter im Abseits standen, ist nur einer der Punkte, der in Liebe Geschichte thematisiert wird. Was war euer thematischer Ansatz, als ihr die Recherche zu diesem Film begonnen habt?
Simone Bader: Der thematische Ansatz waren die Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf die Nachkommen beider Seiten. Katherine Klinger, eine unserer Interviewpartnerinnen in Things. Places. Years hat in London, Berlin und Wien Konferenzen organisiert, bei denen sich Kinder von hochrangigen Nazis und Kinder von jüdischen Überlebenden begegneten. Der israelische Wissenschaftler Dan Bar-On hat auf der psychosozialen Ebene sehr viel in diese Richtung getan. Einige seiner Gruppen treffen sich heute noch. Hannah Fröhlich, unsere Interviewpartnerin in Response Ability. Antworten können, einer Videoinstallation, die 2005 in der Wiener Secession zu sehen war, steht diesen Gruppen als Wiener Jüdin skeptisch gegenüber. Sie bezieht sich auf Ingrid Strobl und spricht von einem Graben aus Bergen von Leichen, der die Nachkommen der beiden Seiten voneinander trennt.

Jo Schmeiser: Die Protagonistinnen in London und Wien haben uns auf den markanten Unterschied hingewiesen, der zwischen den Nachkommen der Täter_innen und der Opfer des Nationalszialismus besteht. Wir haben viel von ihnen gelernt. Als wir Things. Places. Years drehten, wussten wir noch wenig über die aktuellen Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Es war uns auch nicht klar, wie unterschiedlich die Nachkommen der beiden Seiten mit der Geschichte umgehen. Als Nachkomme von Holocaustüberlebenden oder von Widerstandskämpfer_innen kann man sich nicht aussuchen, ob man sich mit dem NS und der Shoah beschäftigt. Als Nachkomme von Täter_innen hat man das Privileg hinzuschauen, oder eben nicht hinzuschauen. Man hat auch das Privileg, sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinanderzusetzen und die eigene Familiengeschichte dabei auszusparen.


Im Nachspann erfährt man auch, dass es zahlreiche Mitarbeiterinnen in der Recherche gab. Wie lange und ausführlich und in welche Richtungen habt ihr die Recherche eingesetzt?
Simone Bader: Die Recherchen kann man als Geschichtssplitter sehen, die in den Film eingestreut sind. Bei den historischen Fakten mussten wir uns auf ein Minimum beschränken. Die Kürzungen waren sehr schwierig, weil es in Österreich so viele skandalöse Umgangsformen mit dem Nationalsozialismus gibt, dass es wirklich schwer fällt, nicht alle aufzuzählen. Hier haben wir versucht, einen Schwerpunkt auf die Rolle der Frauen und Forscherinnen zu legen. Anfangs wollten wir auch über die Architekturen informieren. Im Film konnten wir das dann leider nicht unterbringen. Geplant ist aber auch ein Buch, in dem wir diese Informationen verwenden möchten.

Jo Schmeiser: Durch die Entwicklungsförderung vom BMUKK konnten wir komplexe Recherchen in mehrere Richtungen durchführen. Dagmar Fink hat z.B. eine umfassende Recherche zum Thema Sexualität in Österreich gemacht. Davon ist dann aber wenig in den Film eingeflossen. Ursprünglich sollten die Ergebnisse in die politischen Informationstexte zu jeder Dekade integriert werden. Doch konnten wir am Ende nur Informationen einbeziehen, die in direktem Zusammenhang zum Thema Nationalsozialismus stehen und in der Kürze der Sprecher_innentexte auch verständlich sind. Interessante Fragen, wie Dagmar Herzogs These zur Verbindung zwischen dem Umgang mit Sexualität und dem Weiterwirken des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit, fanden im Film keinen Platz, waren aber für die Gespräche mit den Protagonistinnen sehr inspirierend.


Obwohl es in den Gesprächen um Beziehungen zu Müttern und Vätern geht, habt ihr als Gesprächspartnerinnen nur Frauen ausgewählt, allerdings aus verschiedenen Generationen. Könnt ihr etwas zum Thema Generationen und deren Umgang mit der Erkenntnis eine/n Nazi-Täter/In in der Familie zu haben sagen? Warum habt ihr nur mit Frauen gesprochen?
Simone Bader: Maria Pohn-Weidinger, eine unserer Interviewpartnerinnen, beantwortet diese Frage für uns. Sie sagt, dass es einen Unterschied macht, ob sie als Biografieforscherin Frauen oder Männer befragt und dass es umgekehrt auch einen Unterschied macht, ob die Interviews ein Mann oder eine Frau führt. Die geschlechtliche Interaktion spielt im Gespräch eine wichtige Rolle.

Jo Schmeiser: Wir haben mit Frauen gesprochen, weil sie im öffentlichen Diskurs zu den Nachwirkungen des NS und der Shoah nach wie vor unterrepräsentiert sind. Oft sind es aber die Frauen, welche die mühsame und unbequeme Arbeit der Nachforschung und Beschäftigung mit der belasteten Familiengeschichte übernehmen. Der Film wirft auch die Frage auf, ob Frauen und Männer unterschiedlich mit der NS-Familienvergangenheit umgehen, ob sich ihr Forschen und Sprechen unterscheidet.

Simone Bader: Zum Thema Generationen ist der Hinweis interessant, dass Lenka Reschenbach mit ihren vierzehn Jahren der Generation von Katrin Himmler und Maria Pohn-Weidinger entspricht, die beide schon Mütter sind und wie Lenka der Enkelinnengeneration angehören. Hier wird deutlich, wie schwer es ist, die Generationen wirklich als Gruppen zu erfassen.

Jo Schmeiser: Für die Kinder der Täterinnen und Täter ist eine Reflexion viel schwieriger als für die Enkelkinder. Der Film bestätigt damit auch die Forschung von Wissenschaftler_innen wie z.B. Margit Reiter. Sie hat ein wichtiges Buch mit dem Titel Die Generation danach geschrieben und die historische Recherche für unseren Film gemacht. Die Enkelkinder haben also mehr Distanz und dadurch mehr Möglichkeit zur Reflexion. Manches bleibt aber auch über einen langen Zeitraum konstant. Die Ambivalenzen im Umgang mit der Familiengeschichte tradieren sich oft über die Generationen hinweg. Das Problem, eine Person aufgrund ihrer Taten im NS zu verurteilen, an sie aber auch schöne Kindheitserinnerungen zu haben, die sich nicht wegdenken lassen, ist bei den Kindern wie den Enkelkindern ein Thema.

 

Habt ihr nur nach Frauen gesucht, die ihrerseits entweder als Historikerinnen oder aus persönlichem Interesse (das ist meine Annahme bei Patricia) Recherchen zur Familiengeschichte bzw. Nazivergangenheit innerhalb der eigenen Geschichte angestellt hatten?
Simone Bader: Wir haben Frauen gesucht, die mit ihrer Recherche an die Öffentlichkeit gehen möchten und dies zum Großteil auch schon getan haben. Katrin Himmler hat das Buch Die Brüder Himmler geschrieben. Jeanette Toussaint und Maria Pohn-Weidinger haben zum Thema publiziert. Dietlinde Polach hat zusammen mit ihrer Tochter im Dokumentarfilm Was bleibt von Gesa Knolle und Birthe Templin mitgewirkt. Patricia Reschenbach und Helga Hofbauer haben sich auf einer künstlerischen Ebene mit ihrer Familiengeschichte auseinandergesetzt und sind auch die Protagonistinnen von Väter - Täter, einer 3-Kanal-Videoinstallation, die bei den Ausstellungen Normal Love in Berlin und bei Data Recovery in Bergamo zu sehen war.

Jo Schmeiser: Es gibt diese zwei Ebenen, die du mit deiner Frage ansprichst, bei allen Interviewpartnerinnen. Sie haben einerseits ein persönliches Interesse an ihrer (Familien)Geschichte, andererseits reflektieren sie in ihrer Arbeit - als Wissenschaftlerin, als Kunstlehrerin, als Künstlerin - wie diese Geschichte ihr Leben beeinflusst. Die beiden Ebenen sind eng miteinander verflochten. Die Protagonistinnen setzen sich damit auseinander, wie die belastete (Familien)Geschichte ihre Berufsentscheidung, ihre Arbeitsschwerpunkte, oder wie im Fall der vierzehnjährigen Lenka Reschenbach ihre Interessen geprägt hat.

Ich nehme an, es war nicht sehr einfach, Frauen zu finden, die über Familientabus und schmerzhafte Entdeckungen in der Familiengeschichte auch noch bereit sind, vor der Kamera zu sprechen.
Jo Schmeiser: Es war leichter, als wir dachten. Wenn man beginnt, sich mit dem Thema zu beschäftigen, trifft man auf immer mehr Personen, die sich mit Ähnlichem auseinandersetzen und den Wunsch teilen, diese Auseinandersetzung weiterzugeben, mit anderen darüber nachzudenken und zu diskutieren.
Simone Bader: Allen Frauen ist auch bewusst, dass das Sprechen darüber auch ein Stück Erleichterung bringt.

Die Kamerafrau Sophie Maintigneux hat sehr klare bestechende Architekturbilder gemacht, insgesamt eine sehr ruhige Kamera für diesen Film geführt. Könnt ihr etwas über die Zusammenarbeit mit Sophie erzählen?
Simone Bader: Bei der ersten Begegnung mit Sophie ist schon nach einem kurzen Gespräch eine lebendige filmische Umsetzung in unseren Köpfen entstanden. Sie hat uns vorgeschlagen, für jeden Fragenkomplex eine bestimmte Einstellungsnähe zu finden und Totale, Halbtotale und Nahaufnahme thematisch einzusetzen. Uns hat begeistert, wie Sophie Interviews mit Handkamera filmt und welche Nähe dadurch entsteht.

Jo Schmeiser: Es war wunderbar, mit Sophie zu arbeiten. Sie hat eine filmische Herangehensweise erfunden, die über einen Stil oder ein Konzept hinausgeht. Die NS-Vergangenheit ist in der Gegenwart präsent, sie wirkt heute weiter ? mehr als viele von uns sehen können oder vielleicht wahrhaben wollen. Das Zusammentreffen historischer und aktueller architektonischer Elemente in der Kadrierung von Sophie Maintigneux entspricht dem Grundgedanken unseres Films. Sie hat diesen Gedanken in eine filmische Struktur übersetzt. Inhaltlich war von Anfang an ein unmittelbares Verständnis zwischen uns da: Die Möglichkeit, sich auf der gleichen Ebene zu bewegen.


Helga Hofbauer sagt ganz zu Beginn „das Nichtwissen und das Schweigen sind hier die Volkskrankheit.“ Könnte man behaupten, dass eben das Schweigen und das Nichtaussprechen der historischen und biografischen Fakten umso stärker auf die Generationen danach seine Auswirkungen hat?
Simone Bader: Es hat immer eine Auswirkung, wenn Teile der Familiengeschichte verschwiegen werden. Dieses Schweigen muss nicht immer mit dem Nationalsozialismus zu tun haben. Das gesellschaftliche Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen, die Unfähigkeit darüber zu sprechen, ist jedenfalls fatal.

Jo Schmeiser: Das Schweigen wiegt vielleicht deswegen so schwer, weil die Nachkommen der Täter und Täterinnen natürlich spüren und wissen, dass da etwas ist, das ihnen nicht gesagt wird. Das löst eine ganze Menge und vielleicht auch furchtbarere Phantasien aus, als wenn konkrete Fakten auf dem Tisch liegen.

Simone Bader: Helga Hofbauer sagt auch, dass die Opfer immer einfordern müssen, dass über sie geredet wird. Mit dem zunehmenden Versuch der Viktimisierung der Täter_innen und Mitläufer_innen, z.B. mit den Fernsehserien über deren Flucht oder dem Bombenhagel auf Dresden, wird das Sprechen über die Opfer des Nazi-Terrors geradezu verunmöglicht. Auch in meiner Ungarn-deutschen Familiengeschichte gibt es dazu ein Beispiel, weil die Vertreibung 1946 aus Ungarn und der Verlust der vertrauten Umgebung immerzu Thema, aber der freiwillige Beitritt meines Onkels zur Waffen-SS nicht einmal seinen Töchtern bekannt war.

 

Interessant ist, dass einige der interviewten Frauen von ihren Ängsten sprechen, dass etwas aus ihnen herausbrechen könnte, dass ein Gewaltpotenzial in ihnen ruht.
Jo Schmeiser: Die Frauen wissen, dass es Prägungen gibt, die sich dem Rationalen, dem Bewusstsein entziehen. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass die gesellschaftlichen und die familiären Umstände oder Zustände, in denen wir leben, nicht spurlos an uns vorübergehen, sie färben auf uns ab. Nur wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht frei sind von problematischen Prägungen, können wir diese auch erkennen und politisch progressiv mit ihnen umgehen lernen. In meiner Familiengeschichte gibt es Täter_innen und Widerstandskämpfer_innen. Die Großmutter meiner Mutter war als Kommunistin im KZ Ravensbrück interniert. Von der anderen Großmutter wusste ich, dass sie eine Nazi gewesen war, doch hatte ich sie immer als unpolitisch eingestuft. Nachdem ich mir die Familiengeschichte in den Archiven angesehen hatte, musste ich feststellen, dass meine Oma offenbar schon in der illegalen Zeit vor 1938 Flugblätter für die NSDAP verteilt hat.

Simone Bader: Es ist wichtig den Erzählungen und Bildern, mit denen wir aufgewachsen sind und die sich in die Familiengeschichte eingeschrieben haben, zu misstrauen und sie zu überprüfen. Im Film spielen Bilder, von denen die Interviewpartnerinnen sprechen, eine wichtige Rolle. Mir stockt der Atem, wenn Dietlinde Polach davon spricht, wie sie das erste Mal nach Ravensbrück kam und was in ihr vorging, als sie durch die Landschaft fuhr und sich vorstellte, dass ihre Mutter auch diesen Weg nahm, bevor sie an diesen schrecklichen Ort kam. Für mich ist das Sprechen über die „liebliche“ Landschaft viel stärker, als wenn ich sie im Film vorgeführt bekäme. Dietlinde spricht auch darüber, dass sie einem Weinkrampf nahe war, als sie in der Ausstellung in Ravensbrück die Fotos gesehen hat.

Jo Schmeiser: Als meine Mutter unseren Film sah, hat sie vor allem auf diese Szene reagiert. Sie war vor ein paar Jahren in Begleitung einer Freundin zum ersten Mal in der Gedenkstätte Ravensbrück. Die Freundin sagte ein paar Worte zur idyllischen Landschaft, die meine Mutter einfach sprachlos gemacht haben. Das ist mit dem Graben gemeint, mit der Wahl, die Verbrechen zu sehen oder auszublenden. Die Freundin meiner Mutter konnte auch die liebliche Landschaft wahrnehmen, meiner Mutter war das unmöglich.


Wie lange hat euch die Arbeit an diesem Film beschäftigt? Welche Schlussfolgerungen, welche Erkenntnis zieht ihr aus dieser Arbeit? Welche Auswirkungen hat eurer Meinung nach diese „Volkskrankheit“ des Nichtwissens und Schweigens auf die Nachfahren der Generation der Nazis?
Simone Bader: Wie schon erwähnt, sind wir durch die Arbeit an unserem ersten Film Things. Places. Years zum Film Liebe Geschichte gekommen. Wir wussten damals noch nicht, wie der neue Film heißen und wie er aussehen wird, aber wir wussten, dass wir einen weiteren Film über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus machen wollen. Im Zuge der Auseinandersetzung wurde klar, wie wichtig es ist, in einem eigenen Film mit den Nachkommen der „anderen Seite des Grabens“ zu sprechen, den Nachkommen derer, die die Leichen zu verantworten haben. Dieses Sprechen über die belastete Familiengeschichte ist oft ein Stottern und muss noch geübt werden. Das Thema der Nachwirkungen beschäftigt uns mittlerweile seit zehn Jahren, vielleicht auch deshalb die Betonung der Dekaden in Liebe Geschichte.

Jo Schmeiser: Die Protagonistinnen von Things. Places. Years haben durch ihre Skepsis und ihr kritisches Interesse an uns, an unseren Familien und an unseren Herkunftsländern Österreich und Deutschland die Auseinandersetzung mit der anderen Seite, den Nachkommen der Täter und Täterinnen, motiviert. Eine Schlussfolgerung aus unserer Beschäftigung mit den Nachwirkungen des NS ist vielleicht, dass diese Arbeit nicht abschließbar ist, sondern dass es darum geht, sich immer wieder erneut zur eigenen Familie(ngeschichte), zur eigenen Gesellschaft(sgeschichte) kritisch in Bezug zu setzen.

Interview: Karin Schiefer
April 2010
© Austrian Film Commission