Interessant ist, dass einige der interviewten Frauen von ihren Ängsten sprechen, dass etwas aus ihnen herausbrechen könnte,
dass ein Gewaltpotenzial in ihnen ruht.
Jo Schmeiser: Die Frauen wissen, dass es Prägungen gibt, die sich dem Rationalen, dem Bewusstsein entziehen. Sie machen uns
darauf aufmerksam, dass die gesellschaftlichen und die familiären Umstände oder Zustände, in denen wir leben, nicht spurlos
an uns vorübergehen, sie färben auf uns ab. Nur wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht frei sind von problematischen Prägungen,
können wir diese auch erkennen und politisch progressiv mit ihnen umgehen lernen. In meiner Familiengeschichte gibt es Täter_innen
und Widerstandskämpfer_innen. Die Großmutter meiner Mutter war als Kommunistin im KZ Ravensbrück interniert. Von der anderen
Großmutter wusste ich, dass sie eine Nazi gewesen war, doch hatte ich sie immer als unpolitisch eingestuft. Nachdem ich mir
die Familiengeschichte in den Archiven angesehen hatte, musste ich feststellen, dass meine Oma offenbar schon in der illegalen
Zeit vor 1938 Flugblätter für die NSDAP verteilt hat.
Simone Bader: Es ist wichtig den Erzählungen und Bildern, mit denen wir aufgewachsen sind und die sich in die Familiengeschichte
eingeschrieben haben, zu misstrauen und sie zu überprüfen. Im Film spielen Bilder, von denen die Interviewpartnerinnen sprechen,
eine wichtige Rolle. Mir stockt der Atem, wenn Dietlinde Polach davon spricht, wie sie das erste Mal nach Ravensbrück kam
und was in ihr vorging, als sie durch die Landschaft fuhr und sich vorstellte, dass ihre Mutter auch diesen Weg nahm, bevor
sie an diesen schrecklichen Ort kam. Für mich ist das Sprechen über die liebliche Landschaft viel stärker, als
wenn ich sie im Film vorgeführt bekäme. Dietlinde spricht auch darüber, dass sie einem Weinkrampf nahe war, als sie in der
Ausstellung in Ravensbrück die Fotos gesehen hat.
Jo Schmeiser: Als meine Mutter unseren Film sah, hat sie vor allem auf diese Szene reagiert. Sie war vor ein paar Jahren
in Begleitung einer Freundin zum ersten Mal in der Gedenkstätte Ravensbrück. Die Freundin sagte ein paar Worte zur idyllischen
Landschaft, die meine Mutter einfach sprachlos gemacht haben. Das ist mit dem Graben gemeint, mit der Wahl, die Verbrechen
zu sehen oder auszublenden. Die Freundin meiner Mutter konnte auch die liebliche Landschaft wahrnehmen, meiner Mutter war
das unmöglich.
Wie lange hat euch die Arbeit an diesem Film beschäftigt? Welche Schlussfolgerungen, welche Erkenntnis zieht ihr aus dieser
Arbeit? Welche Auswirkungen hat eurer Meinung nach diese Volkskrankheit des Nichtwissens und Schweigens auf die
Nachfahren der Generation der Nazis?
Simone Bader: Wie schon erwähnt, sind wir durch die Arbeit an unserem ersten Film Things. Places. Years zum Film Liebe Geschichte gekommen. Wir wussten damals noch nicht, wie der neue Film heißen und wie er aussehen wird, aber
wir wussten, dass wir einen weiteren Film über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus machen wollen. Im Zuge der Auseinandersetzung
wurde klar, wie wichtig es ist, in einem eigenen Film mit den Nachkommen der anderen Seite des Grabens zu sprechen,
den Nachkommen derer, die die Leichen zu verantworten haben. Dieses Sprechen über die belastete Familiengeschichte ist oft
ein Stottern und muss noch geübt werden. Das Thema der Nachwirkungen beschäftigt uns mittlerweile seit zehn Jahren, vielleicht
auch deshalb die Betonung der Dekaden in Liebe Geschichte.
Jo Schmeiser: Die Protagonistinnen von Things. Places. Years haben durch ihre Skepsis und ihr kritisches Interesse an uns, an unseren Familien und an unseren Herkunftsländern Österreich
und Deutschland die Auseinandersetzung mit der anderen Seite, den Nachkommen der Täter und Täterinnen, motiviert. Eine Schlussfolgerung
aus unserer Beschäftigung mit den Nachwirkungen des NS ist vielleicht, dass diese Arbeit nicht abschließbar ist, sondern dass
es darum geht, sich immer wieder erneut zur eigenen Familie(ngeschichte), zur eigenen Gesellschaft(sgeschichte) kritisch in
Bezug zu setzen.
Interview: Karin Schiefer
April 2010
© Austrian Film Commission