Schmerz und Verlust in der eigenen Familie führten Juri Rechinsky auf eine Reise nach Innen. In Ugly sucht er nach einer filmischen Sprache für das Unsagbare und kadriert, was unwiederbringlich am Entgleiten ist.
2013 gewannen Sie mit Ihrem Dokumentarfilm sickfuckpeople u.a. den Heart of Sarajewo Prize. Sie erzählten damals, dass sehr dramatische und schmerzhafte Ereignisse in Ihrer Familie Sie veranlasst hatten, zunächst Ihre
Aufmerksamkeit auf die Welt um Sie herum zu richten. Das autobiografische Projekt Ugly verschoben Sie auf später. Wann war der Zeitpunkt gekommen, dass Sie einen erzählerischen Fokus auf Ihre eigene Familie richten
konnten. Inwiefern war sickfuckpeople dabei hilfreich gewesen?
JURI RECHINSKY: Der Film half mir, meine Aufmerksamkeit auf etwas außerhalb meines persönlichen Wahrnehmungskreises zu richten und er beschäftigte
mich drei Jahre lang Jahre, die mich zwangen, mich grundlegend zu verändern. Als sickfuckpeople fertig war, kam die Familiengeschichte wieder zurück. Ich hatte gehofft, sie hätte mich in der Zwischenzeit verlassen, aber
es war nicht der Fall. Ich schrieb die Geschichte nieder und es sah nach einem Film aus.
Inwiefern war Film das geeignete Vehikel für Sie, mit diesen Erfahrungen umzugehen? Anstelle eines literarischen Zugangs z.B?
JURI RECHINSKY: Filmemachen ist das künstlerische Ausdrucksmittel, das mir am meisten entspricht. Es ist eine Ausdrucksform, in der ich
mich lebendig fühle und ich der ich Dinge in all ihren Dimensionen erkunden und ausdrücken kann. Das Schreiben ist für mich
immer nur eine Zwischenstufe zwischen einer Idee und einem Film. Der Film sollte keinesfalls die Funktion einer Psychotherapie
für mich selbst erfüllen. Wenn man versucht, ein Filmprojekt ins Laufen zu bringen, wird einem bewusst, dass es beträchtliche
Lebenszeit in Anspruch nehmen und eine Menge Energie abziehen wird und ein schmerzhafter, wenn nicht selbstzerstörerischer
Prozess einem bevorsteht. Ich wollte diese Jahre und diese Anstrengung nicht vergeuden. Es geht um Dinge, die mich über einen
gewissen Zeitraum hinweg zutiefst bewegten und denen ich auf den Grund gehen wollte, um möglicherweise einige Antworten zu
finden.
Welche Themen beschäftigten Sie dabei besonders intensiv? Die Frage, Schmerz erzählbar zu machen? Ging es um eine Schau nach
innen? Welche Form von Drehbuch haben Sie vor dem Dreh verfasst?
JURI RECHINSKY: Die Themen, die im Vordergrund standen, waren Verlust an Kontrolle, Verlust an Sicherheit, Verlust von jeglicher Gewissheit,
dass das, was mich in diesem Moment mit all meinen Sorgen, Plänen und Sehnsüchten ausmacht, in einer Stunde auch noch Gültigkeit
haben kann. Schmerz war ein Thema. Schmerz, den jeder von uns erleben wird, weil die Zeit voranrückt und uns nahe Menschen
älter werden. Es fällt mir in diesem Zusammenhang ein Zitat von Chuck Palahniuk ein: This is your life and its
ending one minute at a time.
Wie sehr hat Sie das Thema Rettung beschäftigt?
JURI RECHINSKY: Es gibt keine Rettung. Jedenfalls ist Rettung eine so persönliche Erfahrung, dass sie mit niemandem geteilt werden kann.
Sobald man versucht, sie in Worte zu fassen, beginnt sie sich aufzulösen. Was mich mehr beschäftigt hat, war der Versuch,
weiterzuleben, über etwas hinwegzukommen, neue Hoffnung zu schöpfen und mich selbst zu überzeugen, dass es Gründe zu bleiben
gibt. Die Figur in meinem Film, die etwas wie Rettung am nächsten kommt, ist Hannah, als sie das Spital verlässt. Sie hat
nicht nur ihr Baby im Gepäck sondern auch eine neue Erfahrung, den Tod besiegt zu haben. Die männlichen Figuren haben etwas
wie eine Mission zu retten, aber diese Mission, bricht ihnen das Genick.
Der Film hat sehr wenige Dialoge. Wenn es Gespräche gibt, dann werden sehr große Lebensfragen besprochen. Die Stille und die
Sprachlosigkeit zeugen auch davon, wieviel Ungesagtes es gibt, für wie viele Dinge es unwiederbringlich zu spät ist.
JURI RECHINSKY: Es gehört zur Tragödie des Menschseins ebenso wie die Unfähigkeit, die Zeit anzuhalten. Es wurde mir durch diese Erfahrungen
unsere plötzliche Sterblichkeit so schmerzhaft bewusst. Dieses Bewusstsein bewirkt, dass man einerseits mit der eigenen Zeit
anders umgeht, andererseits macht es einen verrückt, ständig sich vor Augen zu halten, dass das Leben jederzeit zu Ende sein
kann. Es ist eine schöne Erfahrung, wenn etwas Ödes plötzlich wertvoll wird. Diese Momente sind sehr rar und müssen
manchmal erzwungen werden, sonst bleibt zuviel Reue, zuviel Ungesagtes im Leben. Es bleibt dann immer noch genug. Hin und
wieder genügt ein Versuch, um ein bisschen Erleichterung zu schaffen. Für die Menschen, die jemanden verlieren, ist die Reue
das größte Problem. Das beobachte ich und erlebe ich ständig.
Sie brauchten für Ugly gewiss Schauspieler, die auch jenseits der Sprache sehr ausdrucksstark waren. Welche Schauspielerpersönlichkeiten suchten
Sie?
JURI RECHINSKI: Ich hielt Ausschau nach Persönlichkeiten, die den Menschen im Film (die ja wiederum der Realität entnommen sind) auf irgendeine
Weise ähnlich waren. Es war mein erster Spielfilm und ich hatte kaum eine Vorstellung von Schauspielführung. Ich versuchte
verschiedenste Ansätze, um ein hohes Maß an Authentizität herzustellen. Dieser Anspruch war meine einzige Prämisse. Ich hatte
zuvor nur Dokumentarfilme gemacht, wo man ein gutes Gespür dafür bekommt, ob ein Protagonist nun gerade spielt oder doch sehr
bei sich selbst bleibt. Wir hatten keine Proben im klassischen Sinn, da ich den Schauspielern das Drehbuch nicht zur Gänze
zum Lesen gab, aber wir hatten eine intensive Vorbereitungszeit, in der wir an den Figuren arbeiteten und die Schauspieler
betrieben ihrerseits sehr viel Recherche, sie hatten ja keine leichten Aufgaben vor sich: Maria Hofstätter spielte eine Frau,
die an Alzheimer erkrankt, Angela Gregović eine Frau, die ein Hirntrauma erlitten hat. Ich hatte auch die Freiheit, sie
ein bisschen zu quälen (lacht). Manchmal wurden sie in eine Situation hineingeworfen, ohne zu wissen, was genau passieren
würde.
Welche Information erhielten die Schauspieler vor dem Dreh?
JURI RECHINSKI: Ich erzählte ihnen zum einen meine ganz persönliche Geschichte, gleichzeitig aber auch, dass das Drehbuch davon deutlich
abweichen würde. Dann verwendeten wir unglaublich viel Zeit dafür, die Figuren zu konkretisieren und auch Situationen auszudenken,
in die diese Figuren versetzt werden können. Manchmal entsprachen die Ergebnisse dann nicht meiner Vision der Figuren und
so wurde das Ganze zu einem sehr langen Prozess.
Wie gingen Sie damit um, dass Sie einen Schauspieler hatten, der Sie im Film verkörperte.
JURI RECHINSKI: In diesem langen Prozess wurde mir bewusst, dass die Figur unmöglich in meine Identität schlüpfen konnte und je näher wir
zum Dreh kamen, desto besser konnte ich mich von ihr distanzieren. Jura im Film ist letztendlich eine andere Person. Umgekehrt
war es für mich sehr einfach, ihm in der Konstellation der Figuren den richtigen Platz zuzuweisen. Da wusste ich sofort, ob
es stimmig war.
Der Film hat wie auch schon sickfuckpeople, sehr fotografische Elemente. Sie haben einmal Michael Glawogger erwähnt, dessen Blick Sie sehr inspiriert hat. Nun haben
Sie mit einem seiner Kameramänner Wolfgang Thaler und dessen Sohn Sebastian Thaler zusammengearbeitet. Wie frei waren sie
in der Bildgestaltung. Sie gehen in manchen Situationen sehr nahe an die Körper heran, dass sie beinahe zu abstrakten Formen
werden
JURI RECHINSKY: Es war mein Wunsch, mit den Bildern das einzufangen, was sich im Inneren der Figuren abspielt. Meine Kameramänner wurden in
eine Situation hineingeworfen, sie konnte eine halbe Stunde, aber auch acht Stunden dauern, ohne Unterbrechung. Wir wählten
die Locations gemeinsam aus, bereiteten sie gemeinsam vor und überlegten uns einige mögliche Einstellungen. Dann war es aber
ein dokumentarisches Filmen und Wolfgang hat da eine viel größere Erfahrung als ich. Seine dokumentarischen Bilder schauen
aus, als wären sie ein halbes Jahr vorbereitet worden. Dass die Bilder einen immer stärker fotografischen Charakter bekamen,
hat mit unserer Arbeit an den Figuren und dieser Suche nach ihrer inneren Welt zu tun. Es schaut beinahe wie ein Film aus,
für den es Storyboards gegeben hat. Was angesichts meiner Arbeitsweise absurd klingt.
Gab es eine Entwicklung im Laufe des Drehs, die sich über eine zunehmende Langsamkeit zu einem Stillstand hinbewegte?
JURI RECHINSKY: Es gab eine Entwicklung, aber die hatte nicht den Stillstand zum Ziel. Ich hatte immer ein Gefühl für das Tempo, das ich
im Film herstellen wollte und die Schauspieler halfen mir sehr dabei, mir aufzuzeigen, was möglich war und was nicht.
Die Bilder haben zum Teil eine sehr starke Farbigkeit, die möglicherweise ein Geschenk der Locations waren, die sie aufgespürt
hatten?
JURI RECHINSKI: Es gab nicht nur, was die Farben betrifft, einiges an Geschenken in diesem Drehprozess. Die zum Teil wirklich unglaublichen
Farben wurden von den Locations vorgegeben. Meine Aufgabe bestand darin, sie zu finden, alles Störende zu entfernen und Situationen
herzustellen. Auch das Wetter hat uns einige Geschenke bereitet. Wind und Regen waren da, wenn wir es brauchten. Unglaublich
war die Szene im Totenzimmer. Wir hatten drei Monate auf Schnee gewartet, es war der schneeärmste Winter, an den ich mich
je in der Ukraine erinnern konnte. Und ich hatte einfach eine Intuition, dass wir eine Szene mit dem Schauspieler drehen sollten,
obwohl sie nicht im Drehbuch stand. Wir hatten Zeit und ich schlug vor, einen Versuch zu wagen, auch wenn es mir an einer
konkreten Idee fehlte. Wir fuhren an den Drehort und dann legte dieser Schneesturm los und unsere Szene entstand wie von selbst.
Eine andere Szene war die Familienszene mit Juras Mutter und Großvater. Über Wochen zerbrach ich mir mit Wolfgang Thaler den
Kopf, wie wir diese Szene in der Wohnung hinbringen könnten. Es war ein Nachtdreh und schon die Fahrt dorthin war ziemlich
unheimlich. Wir nahmen uns vor, auch völlig abstruse Ideen zuzulassen, um zu einer Lösung zu kommen. Zehn Minuten nach Drehbeginn
fiel der Strom aus und wir erlebten den Raum mit Kerzenlicht und mit einem Schlag war die Lösung da. Hätte ich es ins Drehbuch
geschrieben, hätten wahrscheinlich viele gesagt Eine Szene im Kerzenlicht so was Lächerliches...!
Der Wind, das Atmen, die Luft sind ein sehr präsentes bildliches wie akustisches Element. Was verbinden Sie damit?
JURI RECHINSKY: Luftbewegung ist in der Tat sehr stark präsent. Darüber ließe sich so viel sagen. Ich halte es aber für eine Metapher, die
zu interpretieren, ich gerne jedem einzelnen überlassen würde. Ich finde, dass das Atmen ein menschliches Wesen sehr zart
und zerbrechlich macht. Natürlich ist das Atmen eine Metapher des Lebens, etwas, das unkontrollierbar, extrem fragil und vage
ist. Etwas, von dem man nicht weiß, wann es aufhören wird. Den stürmischen Wind, der durch die Felder bläst, sehe ich einfach
als jemanden anderen, der da atmet. Wir sind im Gegensatz dazu nur Partikel, die auf chaotische Weise zerstört, bewegt, ausgetauscht
werden. Es geht in Ugly ja nicht nur um Wind, sondern auch um Feuer, Wasser ... Elemente. Die Elemente boten eine Möglichkeit, dem Film eine taktile
Dimension zu geben. Etwas ertasten, etwas spüren zu können, kann einem Film mehr Kraft geben als ein geschriebener Gedanke.
Was hat Sie veranlasst als Filmtitel Ugly zu wählen?
JURI RECHINSKY: Es gibt etwas wie den Fluch des Arbeitstitels. Man benennt etwas am Anfang eines Projekts ohne lange zu überlegen, weil man
sich sicher ist, dass man es noch ändern würde. Dann lebt man jahrelang damit und plötzlich hat man nur noch eine Frage zu
regeln nämlich einen neuen Titel zu finden. Man probiert hunderte Optionen und keine passt punktgenau. Dass ich das
Projekt anfangs so nannte, geht wie bei sickfuckpeople auf ein Zitat im Film zurück, das in beiden Fällen letztendlich rausgefallen ist. Warum habe ich dieses Wort zum Titel gewählt?
Meine Figuren machen sehr hässliche Erfahrungen, es ist sehr grausam, Figuren all diesen Erfahrungen auszusetzen. Geliebte
Menschen zu verlieren, ist hässlich. Den Glauben zu verlieren, ist hässlich. Die Hässlichkeit ist immer noch Teil des Films,
auch wenn das Wort nicht mehr vorkommt. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Fokus stärker auf Hannas Rettung gesetzt, aber
der Film wollte das nicht.
Interview: Karin Schiefer
Februar 2017