INTERVIEW

Gustav Deutsch über SHIRLEY – VISIONS OF REALITY

 

Ich möchte das, was Hoppers Malerei ausmacht, nämlich dieses faszinierende Spiel mit Kalt und Warm, auf die Leinwand tragen. Gustav Deutsch im Gespräch über Shirley - Visions of Reality, seinem ersten Spielfilm, einem außergewöhnlichen Experiment zwischen Malerei und Narration.




Bisher sind viele Ihrer Arbeiten auf der Basis von aufgestöbertem oder gezielt gesuchtem Bildmaterial entstanden. Diesmal ist Ihr „gefundenes Objekt“ Edward Hopper. Was hat Sie an ihm so fasziniert?

GUSTAV DEUTSCH: Edward Hopper ist nicht jemand, den ich gesucht habe, ich habe ihn gefunden. Ich kannte ihn zwar aus den siebziger Jahren, wo Reproduktionen seiner Bilder in jeder WG gehangen sind. Ich habe mich aber nie mit ihm richtig auseinander gesetzt, bis ich 2004 eine Retrospektive in Köln sah. Damals dachte ich mir, sollte ich je einen Spielfilm machen, dann wären das schon die dazugehörigen Bilder. Die meisten seiner Gemälde, vor allem jene, die Innenräume und Menschen zeigen, schienen alle aus dem gleichen Guss. Tatsächlich hat er über vierzig Jahre weder seinen Malstil noch das Modell, das seine eigene Frau war, verändert. An Hopper faszinierten mich zweierlei Dinge, die mir nicht sofort bewusst waren: zum einen ließ er sich als begeisterter Kinogänger sehr stark vom Film beeinflussen. In seinen Lichtsetzungen und seiner Ausschnittswahl gibt es klare Referenzen zum film noir. Das geht soweit, dass er Kameraperspektiven einnimmt - etwas, das vor ihm kein Maler, der der realistischen Malerei verpflichtet war, getan hat. Zum anderen hatte er durch seine Bilder wiederum Einfluss auf Filmschaffende. Alfred Hitchcock hat sich für Psycho ganz klar an Hoppers House on a Railroad orientiert. Bis heute beziehen sich Filmschaffende wie Wim Wenders oder Jim Jarmusch auf ihn. Ein zweiter faszinierender Punkt war der, dass Hopper als realistischer Maler gilt, was sich bei meiner tieferen Auseinandersetzung mit seinen Gemälden  nicht bewahrheitet hat. Hopper bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern er inszeniert sie. Er macht sehr genaue Detailstudien, das geht bis zu Türgriffen, Lampenschirmen oder Teppichmustern in Kinos. In New York Movie findet man Detailstudien, die aber nicht aus einem, sondern drei, vier verschiedenen Kinos stammen. Wirklichkeit zu inszenieren und zusammenzusetzen ist etwas, das dem Film inhärent ist. Dazu kommt, dass seine Gemälde weder perspektivischen Regeln noch Licht-Regeln folgen. Untersucht man seine Bilder, stellt man fest, dass sie vollkommen anamorphotisch sind. Es gibt keine rechten Winkel oder zwei bis drei Sonnen, die Lichteffekte erzeugen. Das alles fällt beim ersten Blick nicht auf. Man glaubt ihm alles, was er uns zu sehen gibt - ebenfalls ein Charakteristikum, das dem Film eigen ist. Dem Film glaubt man auch alles, obwohl man weiß, dass alles Erfindung ist.


Sie haben nicht nur einen Schritt getan vom Found Footage-Material zur Malerei, sie haben sich auch vom essayistisch-experimentellen Arbeiten zum fiktiven Erzählen bewegt. Was hat sie zur Fiktion geführt?

GUSTAV DEUTSCH: Die Bilder waren da. Allerdings nur die Bilder und nicht der Kontext. In meinen vorangehenden Arbeiten bringe ich Bilder aus verschiedensten Filmen in Zusammenhang. Ausschnitte aus bis zu 190 verschiedenen Filmen für einen Film. Ich erzeuge durch die Montage Bedeutungszusammenhänge und versuche etwas aufzuspüren, was ursprünglich von den FilmemacherInnen nicht intendiert war. Es ging mir um das Erzählen von neuen Geschichten, dieser Ansatz ist Shirley - Visions of Reality nicht so fern. Ich erzähle ja auch mit Hoppers Bildern „andere“ Geschichten. Ich folge weder seinen oft rezitierten und vielleicht auch überbewerteten Haltungen von der Einsamkeit und dem Elend der Großstädte. Mir ging es darum, die Bilder herzunehmen und anhand einer Figur (das ist bei Edward Hopper meist eine Frau) dreißig Jahre amerikanischer Geschichte zu erzählen, und zwar jene Zeit, die sich mit der Entstehung der Bilder deckt: im Spiegel dieser Person und durch die Augen dieser Person. So kann ich auch Dinge einbringen, die in den Bildern nicht abgebildet sind. Faszinierend bei Hopper ist, dass seine Protagonisten etwas erleben oder beobachten, das sie mit uns nicht teilen, weil es nicht dargestellt ist. Viele der dargestellten Frauen schauen aus dem Fenster, sehen etwas, reagieren auf etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist und das kann ich natürlich erfinden. Ich kann es über den Ton oder den inneren Monolog dieser Frau einbringen. Damit kann ich erzählen, was bei Edward Hopper ausgespart ist. Ich kann ihm sozusagen entgegenarbeiten. Edward Hopper war ein politisch sehr konservativ denkender Mensch, etwas, das ich gar nicht mit ihm teile. Das kann ich durch meine Protagonistin auch umkehren und in eine andere Richtung führen.


Anders als beim filmischen Bild, das quasi ein Kontinuum ergibt, sind zwischen den Bildern aus der Malerei sehr klare Zäsuren. Wie haben Sie die Anordnung der Bilder getroffen. Entstand zunächst die Geschichte, für die Sie die Bilder auswählten oder haben die Bilder den Fortgang der Geschichte definiert?

GUSTAV DEUTSCH: Für die Auswahl der Bilder spielten verschiedene Gründe eine Rolle. Zunächst der ganz pragmatische Aspekt der Machbarkeit. Alle Bilder wären nicht umsetzbar gewesen. In Visions of Reality gibt es ein Bild mit einer Außenansicht, das einzige, das auch umsetzbar war. Und das war schon an der Grenze, da dafür ein 5x6 Meter großes Hintergrundgemälde, das den Central Park darstellt, notwendig war. Da ich die Geschichte einer Frau erzählen wollte, habe ich auch Bilder ausgewählt, in denen diese Frau etwas erlebt und die mir eine Möglichkeit bieten, einen Bogen ihres Lebens zu erzählen. Das erste Bild stammt aus dem Jahr 1931, das letzte entstand 1965. Mehr wäre auch von der Darstellung nicht möglich gewesen. Ich hatte keinen besonderen Ehrgeiz, nun Alterungsprozesse durch Maske, sondern wollte das vielmehr über Gestik, Mimik und Körperhaltung transportieren. Man sieht auch bei Edward Hopper, dass seine Modelle altern. Die Darstellbarkeit spielte also auch eine Rolle. Bilder geben Tageszeiten vor. Ich wollte zunächst die Geschichte so erzählen, dass sie an einem fiktiven Tag immer der Tageszeit auf dem Bild entsprechend spielt und dann über die Nacht und wieder bis zum Morgen des nächsten Tages geht, das Entstehungsjahr dabei außer Acht lassend. Das hätte aber bedeutet, dass man im Leben dieser Frau hin- und her springen muss. Jetzt spielt es aber immer in dem Jahr, in dem das Bild gemalt wurde. Ich habe aber die Abfolge erst in einer späteren Phase dank meines Script-Consultants, Tom Schlesinger, in eine chronologische Reihenfolge gebracht, weil es einfacher ist. Manche Hopper-Bilder schieden deshalb aus, weil man nicht in sie eindringen kann. Denken wir nur an eines seiner berühmtesten Gemälde, Nighthawks, wo ein Paar in einer Bar sitzt und mit dem Barkeeper spricht. Da wäre die Kamera auf der Straße und dazwischen eine Glaswand. Mit dieser Perspektive konnte ich aber die Frau keinen inneren Monolog sprechen lassen. Das Prinzip des Films ist, dass die Kamera Hoppers Standpunkt nicht verlassen darf, weil sich ja alle Hintergründe und Perspektiven verschieben würden.


Wie hat das Drehbuch, das gewiss kein „klassisches“ Drehbuch war, ausgesehen?

GUSTAV DEUTSCH: Es hat so begonnen, dass ich von etwas ausgegangen bin, was mich in meinem Schaffen immer wieder beschäftigt:   die Reflexion über die Geschichte des Kinos und des Films. Das Tableau vivant ist ein Vorläufer der Kinematographie. Es war ein beliebtes gesellschaftliches Vergnügen im 19.Jh., berühmte Gemälde nachzustellen und der Film hat in seinen Anfängen dieses Unterhaltungselement übernommen. Bei mir stand die Idee, Bilder zum Leben zu erwecken im Zentrum. Ich wollte mir ausdenken, was kurz vor und kurz nach diesem Moment, wo das Bild in Hoppers Gemälde eingefroren ist, passiert. Das heißt in einer ca. sechsminütigen Episode zu erzählen, was vorangeht oder wie es weitergehen könnte. Das war zunächst sehr skizzenhaft, ohne durchgehenden Monolog. Am Beginn drehten sich meine Gedanken darum, welche Bewegungsabfolgen die Frau vollziehen könnte - setzt sie sich hin oder kommt sie herein? Sehr früh hatte ich daher die Idee, nicht mit einer Schauspielerin, sondern mit einer Tänzerin zu arbeiten, weil es ja vielmehr eine Arbeit über Gestik, über Bewegung ist. Erst in einer späteren Phase begann ich, mir die Figur zu überlegen. Welchen Beruf hat diese Frau? Was interessiert sie? In dieser Phase habe ich dann einiges gelesen, u.a. auch John Dos Passos, einen Zeitgenossen Hoppers, der in seiner U.S.A. Trilogy, einer Art von Collage-Roman, der sehr filmisch funktioniert, anhand mehrerer Protagonisten und ihrer Schicksale die amerikanische Geschichte erzählt. Das hat mich sehr inspiriert. Ich begann mir, die dreißig Jahre des Lebens dieser Frau auszudenken. Ihr Vorleben hat mich überhaupt nicht beschäftigt, sondern nur diese 30 Jahre ihres beruflichen und persönlichen Lebens. Im Beruf meiner beiden Protagonisten - es gibt auch eine männliche Hauptfigur, ihren Lebenspartner - sollte sich das Thema, um das es mir geht, widerspiegeln: Auseinandersetzung mit, Abbildung/ Inszenierung von Realität. Meine Protagonistin ist Schauspielerin, ihr Lebenspartner ist Fotojournalist.


Diese Frau ist aber nicht nur eine Schauspielerin, die darauf schaut, Rollen zu kriegen, sie lebt diese dreißig Jahre mit einer politischen Überzeugung und Engagement?

GUSTAV DEUTSCH: Das war mir im Hinblick auf Edward Hopper und seine Frau Josephine Nivison sehr wichtig. Als sie ein Paar wurden, waren sie beide schon um die vierzig. Gekannt haben sie sich aus Studienzeiten, weil sie beim gleichen Professor Malerei studiert hatten. Sie war eine sehr engagierte Frau, die ein emanzipiertes, selbständiges Leben geführt hat. Nachdem sie Hopper geheiratet hat, ist sie ins Gegenteil gekippt, wurde nicht nur sein Modell, auch seine Muse, die ihn permanent unterstützt hat. Er hat nicht nur ihre Karriere zu verhindern gewusst, nach Hoppers Tod hat Josephine Nivison seinen Nachlass geregelt, hat dabei seine bis dahin unverkauften Arbeiten, seine Bibliothek und Briefe sowie ihre eigenen Werke dem Whitney-Museum überantwortet und hat ein Jahr später Selbstmord begangen. Das Whitney-Museum ist mit diesem Vermächtnis sehr verantwortungslos umgegangen und hat bis auf Hoppers Werke alles vernichtet. Man würde nicht glauben, dass 1967/68 so ein Umgang mit der künstlerischen Arbeit einer Frau noch passieren konnte. Angesichts dieser Umstände wollte ich hier eine starke Frauenfigur entgegensetzen, die kompromisslos agiert und einen Weg geht, der vom Gedanken getragen ist, dass man das Leben nicht als Schicksal annimmt, sondern als etwas, das man gestalten kann, auch in dieser Zeit und auch als Frau. In ihrem Beruf schien mir dafür wichtig, dass sie das nicht alleine realisiert, sondern in einer Gruppe. Im Theaterbereich gab es damals das von Konstantin Stanislavski inspirierte Group Theatre, der das Method Acting entwickelt hat. Das Group Theatre ging später ins berühmte Actors Studio über, wo viele herausragende Hollywood-Schauspieler der sechziger und siebziger Jahren ausgebildet wurden. Diese Methoden bedingten, dass sich die Schauspieler nicht nur auf der Bühne und den Proben treffen, sondern auch Wohngemeinschaften bilden, um sich auch persönlich nahe zu sein. Diesen Weg geht auch meine Protagonistin, die über eine gewisse Zeit nicht bei ihrem Partner lebt, sondern sich der Gruppe anschließt. Ihr Lebenspartner unterstützt sie dabei sehr, er hat als Fotojournalist auch den viel kompromissfähigeren Beruf, er hat ein ständiges Einkommen und kann sie in Zeiten, wo sie arbeitslos ist und das Group Theatre zerbricht, aufnehmen. Es gibt ja unter den dreizehn Hopper-Bilder welche, wo es mir unmöglich war, Shirley als Schauspielerin zu definieren - sie arbeitet dann als Sekretärin bei der Zeitung ihres Partners oder als Kino-Billeteurin. Ihre Phasen der Arbeitslosigkeit fallen mit der Zeit der Depression der dreißiger Jahre zusammen, wo sie aufgrund der Krise nicht als Schauspielerein arbeiten kann, aber sich auch aufgrund ihrer politischen Haltung gewissen Tendenzen verweigert und nicht wie viele ihrer Kollegen des Group Theatres nach Hollywood geht.


Wie haben Sie Ihre Hauptdarstellerin Stephanie Cumming gefunden?

GUSTAV DEUTSCH: Sie tanzt und choreografiert seit geraumer Zeit bei der Company Liquid Loft. Ich wurde auf sie durch Mara Mattuschkas Filme aufmerksam, die auf der Basis von Tanzstücken entstanden sind, die Chris Haring mit Stephanie choreografisch inszeniert hat. Stephanie fiel mir nicht nur tänzerisch, sondern auch schauspielerisch auf, weil sie z.B. in Running Sushi eine Sprechrolle hat, die sehr improvisatorisch gesprochen ist. Bei Maras Projekten ist sie sehr aktiv, zum Teil auch androgyn, während sie bei mir sehr weiblich und eher ruhig und zurückhaltend inszeniert ist. Stephanie hat zu meiner Freude ohne zu zögern zugesagt.


Wie haben sie in diesen inszenierten Bildern die Ton- und Bildebene und auch die Zeitperspektive gelöst?

GUSTAV DEUTSCH: Wir drehten einen Pilotfilm, damit sich die Fördergeber ein Bild von diesem Projekt machen konnten. Dabei kam uns zugute, dass die kunsthalle wien ein Set anlässlich der Ausstellung Edward Hopper und die zeitgenössische Kunst gezeigt hat. In diesem Set haben wir die erste Episode gedreht. Damals entschied ich, dass der Soundtrack bzw. das, was für diese Episode bereits existierte, schon als Grundlage da sein sollte. Ich wollte, dass beim Dreh der Ton die Bewegungen steuert und die Einsätze gibt. Ich möchte nicht ins Set „Action“ hineinschreien. Es ist eine choreografische Sache, etwas, was mehr mit Musik und Tanz zu tun hat. Die Tonbearbeitung macht sicherlich 80 Prozent des Films aus. Da arbeite ich mit Christian Fennesz, der mich schon durch frühere Filme begleitet hat. Dazu entstanden drei Lieder, die David Sylvian singt und die auf Texten von Emily Dickinson beruhen. Sie war auch Edward Hoppers Lieblingsschriftstellerin, im Film wiederum spielt ein Emily Dickinson-Buchcover, der von Shirleys Mann gestaltet worden ist, eine wesentliche Rolle.


Sie gelten als akribischer Präzisionsarbeiter. Wie sind Sie mit diesen hohen Ansprüchen an Genauigkeit an Element wie Farbe, Licht und Raum herangegangen. Welche Lösungen haben Sie gefunden?

GUSTAV DEUTSCH:  Beginnen wir mit der Farbe, da wir ja von der Malerei her ansetzen. Ich begann mit Hanna Schimek, meiner Gefährtin im Leben und in der Kunst, 2004 am Projekt zu arbeiten. Wir arbeiten jeder für sich an eigenen Projekten, manchmal an gemeinsamen Projekten. In diesem Fall habe ich sie gebeten, nicht nur die Malerin für alles, was malerisch dargestellt werden muss, zu sein, sondern auch das farbliche Gesamtkonzept zu entwerfen und mit mir gemeinsam der Frage nachzugehen, worin die faszinierende Wirkung der Farben bei Edward Hopper liegt. Wenn man einen Museumsraum betritt und es hängen noch vier, fünf andere Bilder da, dann knallt Hoppers Bild heraus. Das liegt hauptsächlich an den Farben. Er hat eine raffinierte und ausgefeilte Kombination von warmen und kalten Farben - ein Spiel, das ich hinterfragen wollte. Im Laufe einer Amerikareise haben wir uns die Bilder in den Museen angeschaut und haben von den Originalgemälden mit Farbfächerkarten die Farben abgenommen. Drei der dreizehn Gemälde waren leider nicht verfügbar, weil sie in Privatbesitz sind. Die Reproduktionen weichen viel zu stark von den Originalen ab. Mit Hannas Farbvorgaben arbeiten wir nun am Set. Sie ist dann da und bestimmt die Farben, die sich durch das darauf fallende Licht wieder völlig verändern und dann schaut man sich die digital gedrehten Bilder am Monitor an und es ist wieder ganz anders. Wir befinden uns in einer permanenten Auseinandersetzung mit Farben und Farbkarten und das wird bis zur Lichtbestimmung so weitergehen. Ich möchte das, was Hoppers Malerei ausmacht, nämlich dieses faszinierende Spiel mit Kalt und Warm, auf die Leinwand tragen.


Ist es letztlich eine Gratwanderung zwischen genauem Nachempfinden des Originals und einer Interpretation des Originals.

GUSTAV DEUTSCH: Es ist ja gar nicht möglich, dem Original hundertprozentig zu entsprechen. Man kann etwas, das digital gefilmt und dann möglicherweise auf einer 35 mm-Kopie ausbelichtet wurde und dann auf der Kinoleinwand projiziert wird, in keiner Weise mit Ölfarbe vergleichen. Man kann nur versuchen, der Atmosphäre, die er mit diesen Farben und den Lichtern erzeugt, nahezukommen. Wir versuchen in keiner Weise dogmatisch, alles wiederherzustellen. Denn Menschen werfen ganz einfach manchmal dort Schatten, wo sie bei Hopper keine werfen. Das werden wir nicht digital wegnehmen. Shirley - Visions of Reality ist eine Transformation. Sie muss genau, sorgfältig und mit großer Achtung vor dem, was Hopper gemacht hat, vollzogen werden.


Die Transformation des Raums von der Malerei in den Film stellte Sie gewiss auch als Architekt vor einige Herausforderungen?

GUSTAV DEUTSCH: Der Raum ist ein Spiel mit dem Machbaren. Hopper hat im Fall von Office at Night z.B. eine Blickperspektive, die der einer Überwachungskamera gleichkommt. Um das, was er malt, darzustellen, mussten wir alle Möbel so stark kippen, dass durch die Schrägstellung beinahe nichts mehr auf den Tischen hielt. Es wird uns speziell bei diesem Bild nicht gelingen, alle Fluchten herauszubringen und wir werden sie auch akzeptieren müssen. Bei Hopper gibt es in den Vertikalen keinerlei Fluchten, das ist bei der Kameraperspektive aus einer Überwachungsposition ein Ding der Unmöglichkeit. Die Beschäftigung mit Hoppers Räumen hat mich natürlich als Architekt sehr interessiert: Wie kann man solche Räume dreidimensional nachbauen? Ich musste mehrere Modelle bauen, um mich überhaupt anzunähern. Natürlich könnte man das auch alles virtuell erzeugen. Das hat mich aber nicht interessiert: ich wollte ein zweidimensionales Bild in eine dreidimensionalen Wirklichkeit überführen und dann wieder in ein zweidimensionales Bild rücktransferieren. Dieser Transformationsprozess fasziniert mich sehr, weil er mit Materialität zu tun hat.


Ist vieles von Hoppers subversiven Raumanordnungen erst beim Bauen zu Tage getreten?

GUSTAV DEUTSCH: Ja. Es ist unglaublich, mit welchen Dimensionen er arbeitet. Oft sind Betten drei Meter lang, dann gibt es wieder so enge und schmale Fauteuils, dass man kaum drin sitzen kann. Man musste überlegen, welche Elemente bespielt werden, was von den Vorgaben praktikabel ist und was nicht. Was nicht benutzt wird, kann man auch so bauen, dass es so aussieht als ob, ohne dass es funktionieren muss. Bei Shirley - Visions of Reality ist mir wichtug zu betonen, dass es sich ja nicht nur um ein Filmprojekt handelt, sondern auch um ein Ausstellungsprojekt. Nicht nur die Malereien sind Kunstwerke, die als solche eingesetzt werden sollen, sondern jedes hergestellte Detail wird aufgehoben. Vom kleinsten Utensil, z.B. einem Programm, in dem Shirley liest, ohne dass der Text tatsächlich lesbar ist, bis hin zu einem Telefon, das kein echtes Telefon, sondern ein geschnitztes, bildhauerisches Objekt ist. Es wird als gesamtes Werk betrachtet. Ich dachte nie daran, bestimmte Möbel aus einem Fundus zu holen, sie sollten als Objekte nachgebaut werden. Jedes einzelne Ding ist ein künstlerisches Objekt. Wir legen das Projekt auch so an, dass es auch eine Verwertung im Kunstkontext gibt, so hat es ja auch begonnen. Zwei Sets wurden 2008 in der kunsthalle wien bereits gezeigt und dann im Rahmen einer anderen Hopper-Ausstellung im Palazzo Reale in Mailand und das funktionierte gut. Wir hoffen, dass wir mit dem, was wir bis hin zu den Kostümen erzeugt haben, Ausstellungen gestalten können.


Vor welche Aufgaben stellte sie das Licht?

GUSTAV DEUTSCH: Das Licht ist neben den Figuren ein Hauptdarsteller, es erfordert ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Inszenierung der Schauspieler oder die Farbgestaltung des Sets. Wir arbeiten daran ungefähr genauso lange, wie dann die Drehzeit ausmacht, d.h. ca. einen bis eineinhalb Tage. Dominik Danner begleitet das Projekt seit dem Pilotfilm. Auch er ist davon besessen, die Darstellung soweit es geht möglich zu machen. Wir sind permanent vor Fragen gestellt - Was wollen wir zulassen? Was nicht? Wirft unsere Hauptfigur, wenn sie vor dem Fenster steht, einen Schatten oder nicht? Wie machen wir es glaubhaft, selbst wenn es nicht dem Hopper-Bild entspricht. Unsere Arbeit muss ja auch im filmischen Sinn glaubhaft sein, so wie ein Hopper-Bild als Gemälde. Wir müssen arbeiten wie er.


Bleiben die Kameraeinstellungen in der Totalen?

GUSTAV DEUTSCH: Nein. Mindestens ein Frame stimmt im Laufe der sechs Minuten in der Totalen exakt mit dem Hopper-Bild überein. Für den Kameramann Jerzey Palacz bedeutet das, dass die Kameraposition nicht bewegt werden darf, auch nicht um drei Zentimeter, weil sonst nichts mehr übereinstimmt. Aber wir können einzoomen, Ausschnitte nehmen und im Rahmen des Möglichen auch schwenken. Es gibt ganz kleine Schwenks zwischen den Protagonisten und sehr langsame und lange Ein- und Auszooms aus den Bildern. Es ist natürlich eine unheimlich statische Sache, die dem Kameramann  sehr wenig Handlungsspielraum ließ. Es ging bei diesem Projekt in allen Departments  darum, mit dem Vorhandenen zu arbeiten und sich ins Detail zu vertiefen.


... und reizt damit die Möglichkeiten des Kinos bis an seine Grenzen aus?

GUSTAV DEUTSCH: Wir sind limitiert. Wir können weder mit der Handkamera herumgehen, noch Schuss und Gegenschuss machen. Wir sind stets in der Beobachter-Position. Es ist Hopper sehr inhärent, eine eher voyeuristische und beobachtende Position einzunehmen. Die Herausforderung liegt natürlich darin, dass das nicht langweilig wird, sondern dass man minimalistisch Spannung erzeugt. Wie das beim Publikum ankommt, wird man erst beurteilen können, wenn man 90 Minuten auf der Leinwand gesehen hat. Klarerweise bleibt es ein Experiment. Ich hab so einen Film noch nicht gesehen und freue mich darauf, ihn zu sehen. Ich hoffe, dass er gut wird. Ich lerne täglich daran und das ist mir sehr wichtig. Ich bin sehr froh, dass ich ein Team habe, das mich lernen lässt. Ich habe das Gefühl, dass jeder jeden unterstützt und wir an etwas Gemeinsamem arbeiten.


Wie viele Bilder umfasst das Oeuvre von Edward Hopper, aus dem Sie schöpfen konnten?

GUSTAV DEUTSCH: Er war kein sehr schneller und fleißiger Maler. Er hat durchschnittlich ein, maximal zwei Ölgemälde pro Jahr gemacht. Lange Phasen der Untätigkeit. Ich habe nicht gezählt, aber ich würde es auf dreißig bis vierzig schätzen. Er hat dann ja auch Ölgemälde geschaffen, in denen keine Menschen vorkommen - Landschaften, Leuchttürme. Er hatte einen Sommerwohnsitz in Cape Cod in Massachusetts, wo er sehr viele Landschaften gebaut hat.


Wie kam es zur Festlegung des Datums, dass alle Szenen zwischen 28. und 29. August spielen?

GUSTAV DEUTSCH: Das hat einen politischen Grund. Am 28. August 1963 war der erste große Marsch auf Washington der Bürgerrechtsbewegung und Manifestation der Schwarzen Amerikas. Mit diesem Datum wollte ich Edward Hoppers rassistischer Haltung etwas entgegen halten. Es kommen bei ihm keine schwarzen Menschen vor. Es gibt ein Bild, Intermission, wo sich die Tonebene mit diesem Tag deckt. Deshalb habe ich für alle Bilder den 28. und die Nacht auf den 29. August gewählt.


So sehr der Film Edward Hopper als Maler nahe kommen möchte, so sehr scheint er als Mensch in Visions of Reality konterkariert?

GUSTAV DEUTSCH: Er ist mehr als konterkariert. Hopper vertrat eine extrem rechtslastige Haltung und war sogar politisch aktiv. Ich bin da sehr vorsichtig, denn man muss immer das Werk vom Menschen trennen. Als Mensch war Hopper für mich eine sehr fragwürdige Person, ob das nun seine politische Ausrichtung oder die Beziehung zu seiner Frau betrifft. Er war alles andere als sympathisch. Interessanterweise ist er im Alter ein Freund von John Dos Passos geworden, der Kommunist gewesen war, im Alter aber in die andere politische Richtung kippte und somit ein Naheverhältnis zu Edward Hopper entwickeln konnte.


Interview: Karin Schiefer
März 2012