Vor zwanzig Jahren fuhren die Leute auf drei Monate dorthin, um ihr Abenteuer zu suchen. Jetzt fliegen sie auf drei Tage,
denn es wird ihnen alles geboten und schnell konsumiert. Auch die Freizeit ist hektisch und stressig geworden. Günter Schwaiger
im Gespräch über IBIZA Occidente
Wie sah Ihr Bild von Ibiza aus, ehe Sie begonnen haben, sich mit dieser Insel auseinanderzusetzen?
Günter Schwaiger: Ibiza war auch für mich lange Zeit schwer mit kommerziellen Klischees behaftet, die mir den Blick auf die
Hintergründe verstellt haben. In den letzten Jahren habe ich mich aber immer mehr mit Welten auseinandergesetzt, die stark
mit Vorurteilen behaften sind und habe daraus gelernt, dass gerade dort die meisten Überraschungen zu finden sind. Eine Insel,
die in den letzten 40 Jahren die verschiedensten Arten von Gegenkulturen angezogen hat, die sich dabei zur Welthauptstadt
einer Musikkultur entwickelte und nebenbei auch noch im Big Business mitmischt, muss einfach komplex sein. Das kann man nicht
einfach mit Party-Sex-Drogen Frivolität erklären. Orte wie Ibiza oder die elektronische Musikszene geringzuschätzen, weil
es um Zelebration geht, ist arrogant und obendrein kurzsichtig.
Was hat Sie vom archaischen, traditionsbeladenen Ritual des Stierkampfs Ihres letzten Films in eine Arena des Zeitgeists geführt?
Günter Schwaiger: Sowohl Ibiza als auch der Stierkampf sind Teil unserer Kulturgeschichte. Der Mensch des 21.Jhs. sucht kollektive
Erfahrungen, die ihre Wurzeln in der Archaik haben. Das kollektive Erleben des Tanzens und Feierns und das körperliche Erleben
spielen in der elektronischen Musik eine zentrale Rolle. Wie auch im Stierkampf hat man es hier primär nicht mit einem intellektuellen
Kunstwerk zu tun, das man beobachtet und am Ende beurteilt und beklatscht, sondern mit einem interaktiven Ritual, das über
den Kopf und die Sinne in den Körper geht. Man tanzt (mit oder ohne Stimulatoren) die ganze Nacht durch. Das hat sehr viel
mit archaischen Vorstellungen von Zelebration und Kunst zu tun, denn Kunst, Intellekt, Körper, Fest und Ritus greifen ineinander
und spalten sich nicht auf. So steht die elektronische Musik dem archaischen Erleben sehr nahe und ist daher auch gewissermaßen
demokratisch. Denn die Aufspaltung in "hohe Kunst" und "Volkskunst" ging ja Hand in Hand mit der Feudalisierung der archaischen
Gesellschaften. Bis heute gilt in vielen intellektuell-elitären Kreisen: wer die Kunst betrachten und beurteilen kann, hebt
sich ab von jenen, die sie scheinbar nur spüren, also intuitiv erfassen können. Besonders interessant ist nun, dass viele
junge Leute im 21. Jh. gerade jene Erfahrungen suchen, die nicht über die Ratio, sondern vielmehr über die Sinne und den Körper
gehen. Das zeigt, wie stark wir immer wieder an unsere Wurzeln zurückgehen müssen, um aus der tiefen Unzufriedenheit auszubrechen,
die die kapitalistische Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft geschaffen hat.
Ibiza ist eine Insel, die kurioserweise Exklusivität und Massenvergnügen miteinander vereint und beides weiterhin anzieht.
Ist dies nur einer der vielen Widersprüche oder auch Extreme, die diese Insel in sich birgt. War es Ihnen ein Anliegen, Ibiza
als einen Ort der Extreme zu porträtieren?
Günter Schwaiger: Es sind die Extreme, die mich am meisten interessieren, da die Grenzsituationen den Menschen ja am allerbesten
charakterisieren und beschreiben. Die Dinge, die wir suchen wie auch die Dinge, die uns fehlen, zeichnen ein sehr klares Bild
von uns. Die Insel ist ein Ort der Träume und Sehnsüchte, aber auch der Flucht und der Gegensätze. Wir suchen das Paradies,
die Erfüllung und das Glück. Aber dieses Glück muss organisiert und begehbar sein. Es muss unseren Vorstellungen von Bequemlichkeit
und Zivilisation entsprechen. In Ibiza herrscht ein großer Gegensatz zwischen dem extrem raffinierten System der Club- und
Partywelt und einer teilweise noch unberührten Landschaft, zwischen Schönheit und Big Business. Die Insel lebt von ständigen
Kontrasten zwischen Tag und Nacht, Sonne und Finsternis, Lärm und Ruhe - Kontraste, die eine gutes Paradigma für das sind,
was wir als Gesellschaft in uns tragen.
Hört man Leuten zu, die die Insel in den siebziger oder achtziger Jahren kannten, dann klingt etwas von einem verlorenen Paradies
durch?
Günter Schwaiger: Beginnt man sich mit der Literatur über Ibiza auseinanderzusetzen, dann ist das verlorene Paradies bereits
in den ersten Büchern, die Anfang des 20. Jhs. über die Insel geschrieben wurden, ein Thema. In den zwanziger Jahren schwärmte
man vom Paradies der Jahrhundertwende, in den sechziger Jahren idealisierte man das Paradies der dreißiger Jahre. Und so geht
das bis heute weiter. Die Sehnsucht nach und die Melancholie gegenüber der Vergangenheit ist berechtigt, aber nichts Außergewöhnliches.
Wir idealisieren nur allzu leicht die Vergangenheit, weil wir sie mit unserer Jugend verwechseln. Tatsache ist jedoch, dass
die Sechziger und Siebziger, die Zeit der Hippies und der sexuellen Revolution eine besondere Zeit der Toleranz war. In den
Siebzigern war Ibiza beispielsweise vielleicht der freieste Ort der Welt für die internationale Gay-Community. Diese Epoche
der Toleranz und Freiheit hat sich in Spanien und besonders in Ibiza bis weit in die Neunziger gehalten. Gerade deshalb hat
sich die elektronische Musikszene in Ibiza sofort wohl gefühlt. Denn überall sonst in Europa wurde sie von Polizei und Ordnungshütern
angegriffen. Die "Rezession der Freiheit", wie sie Manel im Film nennt, ist heute überall zu spüren, auch auf Ibiza. Wenn
es auch dort noch weit liberaler zugeht als an den meisten Orten des von den neuen Puritanern, wie ich sie gerne nenne, immer
mehr dominierten Westens. In jedem Fall spielt auch die Vermassung der Welt eine bedeutende Rolle. Es gibt heute kaum noch
unberührte Orte, die ein Gefühl von Einsamkeit und Ruhe vermitteln können.
Haben Sie nicht in dieser Masse der Menschen, in dieser Explosion des Immobiliengeschäfts auch einen Aspekt der Unmenschlichkeit
verspürt?
Günter Schwaiger: Doch. Aber Spekulation und Geldgier sind ja nicht unmenschlich, sondern leider nur allzu menschlich. Überraschenderweise
ist Ibiza ist im Vergleich zu anderen Orten an der spanischen Mittelmeerküste noch relativ unberührt. Dennoch, das Big Business,
die Immobilienspekulation, die Vermarktung von Ibiza hat viel zerstört, das ist klar. Vor zwanzig Jahren fuhren die Leute
auf drei Monate dorthin, um ihr Abenteuer zu suchen. Jetzt fliegen sie auf drei Tage, denn es wird ihnen alles geboten und
schnell konsumiert. Auch die Freizeit ist hektisch und stressig geworden. Das sagt auch Alfredo im Film. Diese Veränderung
ist nichts anderes als ein Spiegel der Welt: der Stress, das Massenphänomen, der extreme Konsum, die Unzufriedenheit, das
Bedürfnis, alles sofort haben zu wollen - all das ist das Resultat einer Gesellschaft, die genau diese Kurzlebigkeit produziert
und Menschen hervorbringt, die alles sofort und in der Masse erleben wollen, weil sie aus einer Massengesellschaft kommen.
Was die Leute auf der Insel suchen, kehrt das hervor, was sie in ihrem täglichen Leben nicht haben, wie nach dem Motto: "Sag
mir, was dir fehlt und ich sag Dir, wer du bist". Was suchen die Leute in den Nächten von Ibiza, in der Musik, im Feiern,
im Sich-Auflösen im Tanz, in der Natur? Die aktuelle Gesellschaft ist sehr kurzlebig und schafft sehr viel Unzufriedenheit.
Es ist eine Welt, in der es immer weniger Zeit für alles gibt. Ibiza ist ein Ort, wo die Menschen das erleben wollen, was
sie sonst nicht erleben können, wo sie jemand sind, der sie sonst nicht sein können, wo sie loslassen, was sie sonst halten
müssen. Aber auch Ibiza muss sich dem Tempo dieser Menschen anpassen, deren Rhythmus ist immer gestresster, hektischer und
härter wird. Dabei geht viel verloren, besonders die essentiellen Dinge einer wirklichen Befreiung.
Der Film beginnt mit einer sehr archaischen, traditionellen Musik und weist darauf hin, dass die Verbindung zwischen Musik
und diesem Ort nicht erst eine Geschichte der letzten drei Jahrzehnte ist. Können Sie ein bisschen über die Geschichte zwischen
Ibiza und der Musik erzählen?
Günter Schwaiger: Für mich war die Begegnung mit dieser in der Tat archaischen Musik eine absolute Entdeckung. Dass eine Insel
eine Musik erhalten konnte, die so weit zurückliegende Wurzeln hat, war für mich etwas sehr Bezeichnendes. Es erzählt vom
Bezug der Menschen zur Musik, zur Schönheit, die dahinter steckt und von der Liebe zur eigenen Tradition. Es charakterisiert
eine Insel, in der die Musik eine ganz besondere Bedeutung hat. Der Inhalt der Lieder ist ebenso vielsagend: es geht immer
um Texte erotischer Natur, um das Werben um den anderen mit sehr vielen Anspielungen auf die Sexualität. Und die Sexualität
ist in Ibiza natürlich ein Thema, das mit dem Feiern und der Musik Hand in Hand geht. Das Sich-Öffnen, das Körperliche, das
Sinnliche steckt auch in dieser alten Musik. In diesen einfachen, antiken Gesängen, die sehr stark an afrikanische aber auch
an tibetanische Singtechniken erinnern, ist die tiefe Identität der Insel verborgen. Wenn man diesen Liedern zuhört, dann
versteht man, dass die Ureinwohner den Nährboden dafür geschaffen haben, dass dieser Ort sich so vielen Menschen und Kunstformen
geöffnet hat, die reibungslos nebeneinander existieren.
Musik hat auf Ibiza etwas Fröhliches und Leichtes und auch immer Erotisches. Ganz gleich, welche Musikrichtung auf Ibiza auftaucht
und gelebt wird. Auf der Insel wird sie immer dahingehend variiert, dass sie tanzbar und erotisierend ist. Deshalb wird der
Insel vom urbanen Underground auch oft vorgeworfen, sie produziere einen zu weichen Sound. Vielleicht aber setzt sie nur die
Sonne der Dunkelheit der Großstadtkeller gegenüber. Kommt man in Madrid oder Frankfurt am Morgen aus einem Club, sieht man
sich vielleicht einer Autobahn gegenüber, in Ibiza steht man vor dem blauen Meer.
Wann haben sich Studios und Produzenten begonnen, sich in Ibiza anzusiedeln?
Günter Schwaiger: Ab den sechziger sind viele englische Gruppen nach Ibiza gegangen, um dort aufzunehmen. Zu den ersten, die
dort gearbeitet haben, gehörten Ende der Sechziger Pink Floyd. In den siebziger Jahren ist es vor allem bei den Engländern
zum Geheimtipp geworden, dass man sich dort zurückziehen konnte, um zu produzieren. Der große Durchbruch für die Musikproduktion
vollzog sich jedoch in den neunziger Jahren durch die elektronische Musik, die sich auf der Insel niedergelassen und Musiker
aus der ganzen Welt angezogen hat. Mittlerweile ist es einer der Orte in Europa, mit den meisten Soundstudios überhaupt.
Welchen Akteuren wollten Sie unbedingt begegnen? Haben Sie viele Entdeckungen und Begegnungen auch erst im Zuge der Dreharbeiten
gemacht.
Günter Schwaiger: In einem ersten Schritt wollte ich mich mit den Inselbewohnern auseinandersetzen. Ich wollte jenen Menschen
begegnen, die dort aufgewachsen sind, die Insel durch ihr Leben dort kennen und nicht vom Urlaub her. Mein Ausgangspunkt war
die Musik und über die Inselbewohner bin ich dann auf Alfredo gestoßen, der eine zentrale Figur in der Geschichte der elektronischen
Musik, insbesondere der Dance-Music ist. Er ist in Österreich und Deutschland zwar wenig bekannt, in England ist er ein Mythos.
Seine Bedeutung als Katalysator der europäischen Club-Kultur darf nicht unterschätzt werden. Seine legendären Sets im Amnesia-Club
Ende der Achtiziger haben die englische Clubkultur entscheidend geprägt.
Über ihn sind dann nach und nach die anderen Figuren in den Film gekommen. Ich hatte zu Beginn der Recherche keine fixen Vorstellungen
von Personen, die ich unbedingt dabei haben wollte. Die bekannten DJs von Ibiza waren mir natürlich ein Begriff. Ich wollte
aber nicht von oben nach unten ins Thema einsteigen. Mein Zugang ist immer einer von innen nach außen.
Ich versuche, bei Recherchen an die Wurzel vorzudringen, um dann sozusagen durch den Stängel in die Blume zu schlüpfen. Als
ich über Bewohner von Ibiza auf Alfredo traf, war mir klar, dass ich da ganz tief drinnen war. Dann tauchten im Zuge der Recherche
Figuren wie Manumission, Manel Aragonés oder Ricardo Urgell auf. Von da an wusste ich, wie ich den Film konzipieren wollte.
Auf der Insel entsteht viel spontan. Diese Offenheit und die täglichen Impulse waren für mich auch für den Film sehr wichtig.
Ich hatte ein genaues Konzept geschrieben und war gerade deshalb frei für spontane Begegnungen, die ja in Ibiza so häufig
sind. Die Leute sind sehr offen, reden gern über sich und ihr Leben und haben wenig Verklemmtes. So sind Nuwella, Ricoloop
oder Laura in den Film gekommen. Für mich war es auch wichtig, dass nicht nur bekannte Ibiza-Größen oder Stars im Film sind,
sondern auch jene, die welche werden wollen, oder die einfach nur im Hintergrund der Maschinerie arbeiten und gerade deshalb
unersetzlich sind.
Gleichzeitig belassen Sie die Masse an Inselbesuchern und Partyvolk in ihrer Anonymität?
Günter Schwaiger: Es war mir ein Anliegen, durch die Künstler, Promoter und jene, die dahinter stehen, von der elektronischen
Musik zu sprechen und dadurch zu zeigen, dass hinter so einem Apparat immer sehr komplexe und interessante Leute stehen müssen,
sonst würde er nicht funktionieren. Andererseits wollte ich niemanden aus der Masse herausnehmen, um ein ?Publikumsbeispiel?
zu bringen. Die Leute, die zum Feiern hinfahren, suchen etwas Kollektives im Tanzerlebnis, im gemeinsamen Sich-im-Körper-Verlieren
und Abdriften. Dem kann ich nur gerecht werden, wenn ich sie auch als Kollektiv behandle. Ich sah keinerlei Anlass, da nun
einen Menschen herauszunehmen. Wir tendieren oft dazu, Phänomene durch Einzelbespiele abzuqualifizieren, die doch nur im Kollektiv
begriffen werden können. Ich halte es für konsequenter, das Publikum als Ganzes zu belassen und sie den individuellen Künstlern,
Promotern und Clubbesitzern gegenüberzustellen.
Wie kann man sich diesen Massenevents filmisch annähern?
Günter Schwaiger: Es war für diesen Film sehr wichtig, dass wir bis zu einem gewissen Grad, ohne dabei die Distanz zu verlieren,
einfach mitleben. Wir waren schon im Zuge der Recherche auf unzähligen Partys und Festen und in der Natur unterwegs. Auch
das Team war schon vor Drehbeginn da. Ich wollte, dass sie die Leute verstehen, etwas spüren und dem Ganzen nicht nur distanziert
gegenüberstehen.
Ich war 2010 über ein halbes Jahr auf Ibiza, das Team insgesamt zwölf Wochen, wovon wir acht Wochen sehr intensiv gedreht
und nachher noch einige Zusatzdrehs gemacht haben. Wir haben die Dreharbeiten im Block vom Hochsommer bis Saisonschluss durchgezogen,
weil ich wollte, dass wir spüren und miterleben, was da abläuft. Und das heißt aber nicht nur Party feiern, sondern viel zuhören,
Menschen kennen lernen und sich aufmachen. Anfangs war es nicht leicht Drehgenehmigungen in den Clubs zu bekommen, weil die
Clubs sehr schlechte Erfahrungen mit der Boulevardpresse gemacht haben, die ständig die Techno-Szene mit der Drogenszene assoziieren
will, weil sich das besser verkauft. Als man uns dann aber arbeiten sah, hat sich das herumgesprochen und langsam gingen immer
mehr Türen auf und alles wurde sehr leicht. Wenn die Menschen spüren, dass man sie ernst nimmt und respektiert, erhält man
ähnliches im Austausch. Mich interessiert es nicht, mich in Filmen über andere lustig zu machen oder sie reinzulegen. Das
ist viel zu einfach und erzeugt beim Publikum nicht viel mehr als Schadenfreude. Auch wenn ich nicht alles teile, was ich
darstelle, so ist mir der Respekt vor dem Dargestellten doch am wichtigsten. Das heißt aber nicht, dass die Darstellung nicht
kritisch sein kann. Diese Kritik soll aber vom Zuschauer ausgehen und nicht von mir vorgefiltert sein.
Man gewinnt bei diesen Super-DJs, die groß im Geschäft sind, den Eindruck, dass sie viel weniger vom Starsystem des übrigen
Musik-Business erfasst sind, weniger mondän, entspannter und auch zugänglicher wirken?
Günter Schwaiger: Das ist sicher der Fall. Das direkte Nebeneinander-Sein, die Nähe zum Publikum schafft ein anderes Verhältnis
zwischen Künstler und Publikum. Das Starsystem ist da einfach nicht so ausgeprägt, nicht so arrogant. Das Gemeinsame mit dem
Publikum lässt nicht diese Distanz aufkommen, die beispielsweise in einem Rock-Konzert zwischen Bühne und Zuschauerraum entsteht.
Ich glaube aber auch, dass auch die Rockstars heute nicht mehr so drauf sind wie vor zwanzig Jahren, einerseits durch den
Einfluss der elektronischen Musik, andererseits durch die digitale Internetrevolution, die die Welt der Rock- und Popmusik
gezwungen hat, abzuspecken. Eine Session im Club ist auch interaktiver als ein Konzert. Ein guter DJ bringt keine vorgefassten
Sets mit, sondern reagiert auf das, was im Moment passiert, wie die Leute gerade unterwegs sind. Da entsteht sehr viel im
Moment. Cristian Varela spricht im Film diese Energiemischung zwischen Publikum und DJ an, die das eigentliche Ergebnis letztlich
ausmacht. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
Sie sagten eingangs, dass Sie sich schon lange mit elektronischer Musik beschäftigen. Was fasziniert Sie daran?
Günter Schwaiger: Sie fasziniert mich deshalb, weil sie von ihren Ursprüngen her auf Rhythmus und Wiederholung aufbaut. Diese
Wiederholung hat etwas Trancehaftes, das sehr tief geht und sehr körperlich ist. Ein DJ Set ist ein ekstatisches Erlebnis,
fast meditativ, wenn es wirklich gut ist. Man hört dabei nicht mit dem Kopf zu, sondern mit dem Körper. Rein historisch entstand
Techno und House vereinfacht aus der Mischung von europäischer zeitgenössischer Musik in ihrer High Tech-Variante und afrikanischem
Rhythmen, die in den schwarzen Gay-Clubs von Chicago und Detroit in den Achtzigern aufeinanderprallten. So als würden die
Äste der Bäume mit den Wurzeln zusammen wachsen. Interessant, dass das gerade am Ende des 20. Jhs. passiert. Man greift zurück
in die Archaik, weil die Gegenwart nicht ausreicht. Das Zukunftsweisende in der elektronischen Musik sehe ich auch in der
Art, wie man Musik machen kann. Jeder, der etwas zu erzählen hat, kann sich an einen Laptop setzen und Klänge und Empfindungen
in Musik verwandeln. Das ist sehr demokratisch. Genauso wie der Umstand, dass es in der elektronischen Musik keinen angloamerikanischen
Sprachimperialismus gibt wie in der Pop- oder Rockmusik. Es ist ganz egal, welche Sprache die DJs sprechen. Wichtig ist einzig
ihr Sound.
Ibiza, so haben Sie eingangs schon anklingen lassen, ist im Kleinen ein Symbol dafür, wie sich die Welt als Ganzes in den
letzten Jahrzehnten verändert hat? Wenn Sie die Dynamik dort einschätzen, haben Sie eher das Gefühl, hier dreht sich eine
nicht mehr aufzuhaltende Spirale oder entstand trotz aller Massenattraktion ein Eindruck der Balance?
Günter Schwaiger: Ich fürchte weder eine Weltkatastrophe noch die Apokalypse. Die Insel hat sich immer durch die Intelligenz
der Leute, die dort leben, ausgezeichnet. Der Tourismus hat vielen armen Fischern und Bauern auf Ibiza Wohlstand und Fortschritt
gebracht. Sie versuchen zumindest, eine gewisse Balance zu halten. Alles hängt aber schließlich davon ab, wohin sich unsere
Gesellschaft im Ganzen entwickelt. Was uns ins dieser Krise so hart getroffen hat, ist, dass der brutale Kapitalismus die
Welt wie ein Wolf sein Opfer am Nacken gepackt hat. Wenn es uns gelingt, uns von diesem Biss zu befreien, um anderen Werten
wieder einen Platz einzuräumen, dann ist es auch ein Leichtes auf einer Insel wie Ibiza das Gleichgewicht zu halten.
Betrachten Sie Ibiza als einen symbolischen Ort dafür, dass es beides in sich trägt?
Günter Schwaiger: Absolut. Auf Ibiza existieren viele Gegensätze in relativer Harmonie nebeneinander. Die Basis dafür ist
die Toleranz, die man von den alten Ibizencos lernt. Selbst die Kirche musste das im Laufe ihrer Geschichte auf der Insel
hinnehmen. Mehrere Bischöfe, die inquisitorische Methoden einführen wollten, mussten nach den Widerständen der Ibizencos,
sich ihrer finsteren Moral zu beugen, die Insel fluchtartig verlassen.
Diese Toleranz muss sich jedoch unweigerlich an den Umstand der Vermassung der Welt anpassen. Denn je mehr Menschen wir auf
dieser Welt sind, desto toleranter müssen wir werden. Auf Ibiza gibt es Menschen, die eine Riesenvilla mit Swimmingpool und
mehreren Hektar Grund besitzen und die sich darüber beklagen, dass aus aller Welt Leute anreisen, um sich zu amüsieren. Aber
das ist eben Ibiza. Auch der Clubber aus London ohne allzu viel Geld kann es sich leisten, zu kommen, weil auch er das Recht
auf Spaß und Schönheit hat. Das Paradies ist nicht exklusiv für Reiche. Es wird geteilt und alle haben etwas davon. In Ibiza
ist das (noch) möglich.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2011