INTERVIEW

«Gewalt beruht auf Herrschaftsstrategien.»

 

«Man geht davon aus, dass Gewalt im Affekt oder unter Einfluss von Alkohol passiert. Wenn man aber in die Tiefe geht, findet man heraus, dass Gewalt auf Herrschaftsstrategien beruht.» Günter Schwaiger über Martas Koffer.

 

Ihre Protagonistin Marta lebt in Spanien an einem unbekannten Ort und kämpfte vergeblich um Aufmerksamkeit und Unterstützung in der Öffentlichkeit. Wie konnten Sie auf ihren Fall aufmerksam werden?

GÜNTER SCHWAIGER: Das Thema der häuslichen Gewalt ist mir schon lange durch den Kopf gegangen. Es fehlte mir allerdings am Anlass, mich näher mit diesem delikaten und komplexen Thema auseinanderzusetzen. Auf einer Flugreise von Amsterdam nach Madrid las meine Koproduzentin, Cristina Garcia, von einem besonders brutalen Mord in Spanien. Dieser Artikel setzte erste Recherchen in Gang. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, umso mehr wurde mir bewusst, wie wenig aufgearbeitet es in der Gesellschaft ist. Der oberflächliche Eindruck, dass es ohnehin Gesetze und Opferschutz gibt, daher die Sache unter Kontrolle ist, ist ein Irrtum. Es bleibt unheimlich viel im Verborgenen. Wir traten mit diversen Organisationen in Kontakt, es erwies sich aber als sehr schwierig, Frauen zu finden, die bereit waren, über ihre Gewalterfahrungen vor der Kamera zu sprechen. Bei Amnesty International stießen wir auf eine Anwältin und Forscherin in diesem Feld, Maria Navedo, die uns u.a. von Marta Anguita erzählte, die an einem ihrer Forschungsprojekte mitwirkte. Marta war jemand, die nicht nur Gewalt erfahren hatte, sondern als Gewaltopfer weiterhin versteckt leben musste, um sich zu schützen. Martas Fall ist spektakulär und zum anderen ein gutes Beispiel für die Missstände, mit denen Frauen als Opfer von Gewalterfahrungen konfrontiert sind. Ich habe Kontakt aufgenommen, sie war interessiert und wir haben sie gemeinsam mit meiner Koproduzentin besucht. Für mich als Mann war die Begegnung mit Marta eine große Herausforderung. Ich hatte natürlich Berührungsängste und man will sich als Mann nicht selber im Spiegel sehen. Der Zugang zu Frauen, die Gewalt erfahren haben, ist sehr komplex. Es bedarf einer sehr sensiblen Vorgehensweise. Das Beisein einer Frau war unumgänglich. Cristina spielte in der Annäherung an Marta, aber auch bei den anderen Frauen eine wesentliche Rolle.


Sind Sie von Beginn an mit dieser Absicht an Marta herangetreten, einen Film zu drehen? Oder hat sich durch die Gespräche mit ihr diese Option ergeben? Welche Motive bewegen angesichts dieser Geschichte, einen Film darüber zu machen?

GÜNTER SCHWAIGER: Es war uns ein Bedürfnis, Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu wecken und ein Anliegen, uns dem Thema anders zu nähern als es die klassische Fernsehreportage tut. Es gibt dazu im Dokumentarfilm wenig, das mehr als 50 Minuten dauert.


Ist die Kamera im Verlauf der Gespräche mit Marta sehr bald ins Spiel gekommen?

GÜNTER SCHWAIGER:Sie ist relativ bald ins Spiel gekommen, was nicht meine ursprüngliche Absicht war. Ich bin allerdings bei Recherchen immer mit der Kamera unterwegs. Wir haben drei sehr intensive Tage bei Marta verbracht, wo wir acht, neun Stunden vor allem ihr zugehört haben. Sie erzählte über ihre momentane Situation, ihre Familie, ihre Herkunft, ihren Schmerz, die Aufarbeitung ihres Traumas, d.h. den Mordanschlag, den ihr Ehemann an ihr verübt hat. Diese ersten Gespräche hatten noch keinen sehr großen Tiefgang, es war auch ein gegenseitiges Kennenlernen. Auch sie wollte über uns etwas erfahren, es ging darum, beiderseitiges Vertrauen zu schaffen. Jeder Dokumentarfilmer kennt diesen Moment, wo er jemandem gegenüber steht, der vielleicht bereit ist, etwas sehr Tiefes und Intensives von sich herzugeben, wo er spüren muss, ob er etwas Ehrliches bekommt und das Gegenüber sondiert gleichzeitig, ob es tatsächlich Vertrauen zum Filmemacher haben kann. Marta ist sehr intelligent, hat auch schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht und war entsprechend vorsichtig. Am dritten Tag schlug sie vor, eine Aufnahme mit der Kamera zu probieren. Wir nahmen einiges auf. Der traumatische Moment des Mordanschlages war sehr präsent und ist gleich aus ihr herausgekommen.


Man bekommt als Zuschauer Martas Gesicht nicht sofort zu sehen. Zunächst zeigen Sie nur einen Ausschnitt und man fragt sich, ob sie den ganzen Film lang in der Anonymität bleiben wird. Warum verstellen Sie eingangs den Blick auf ihr Gesicht?

GÜNTER SCHWAIGER: Ich möchte, dass sich der Zuschauer Marta erarbeitet. Sie muss ja auch im Verborgenen leben und steht mit ihrer Geschichte für sehr viele Frauen, deren Geschichten nicht an die Öffentlichkeit dringen, die diese Geschichten in sich selber verbergen oder aus Angst versteckt leben. Ich wollte, dass der Zuschauer auch ein Gefühl für die Schatten, die dunklen Räume, die zugezogenen Vorhänge, die Schritte aus der Nebenwohnung entwickelt und dass Marta sich selbst erst nach und nach preisgibt. Wir kommen ihr langsam näher und wenn wir von ihr etwas wissen, dann sehen wir ihr Gesicht. Es ging mir sehr stark auch ums Vermeiden eines voyeuristischen Blicks auf die Gewalt. In Martas Koffer muss man sich die Nähe zur Protagonistin erarbeiten und Geduld haben. Ich halte es für wichtig, dass es beim Zuschauer einen Sensibilisierungsprozess gibt, damit er Marta in dem Moment, wo sie voll präsent ist, auch die nötige Konzentration und ein respektvolles Beobachten entgegenbringt.


Dass sie auch ihre Narben zeigt, war gewiss ein Wunsch von ihr?

GÜNTER SCHWAIGER: Das war ihr Wunsch. Hier ist natürlich die große Gefahr gegeben, ins Voyeuristische abzugleiten. Ich habe versucht, so sensibel und respektvoll wie möglich damit umzugehen, aber auch so, dass es betroffen macht und das Ausmaß der Brutalität offengelegt wird. Ich musste Bilder finden, die zeigen, was passiert, ohne Marta dabei bloßzustellen.


In Martas Fall erscheint es ja unglaublich, wie es möglich war, einen solchen Anschlag zu überleben. Dieser Film bringt auch die grundsätzliche Frage des Überlebens stark in den Vordergrund. Wie kann man mit/nach Gewalterfahrungen über- bzw. weiterleben?

GÜNTER SCHWAIGER: Marta hat mehrere Male überlebt. Sie hat über Jahre hindurch psychische Gewalt überlebt. Sie ist aus einer jahrelangen Herrschaft geflohen, in die sie mit Ausblick auf eine „gute Partie“ durch ihre Erziehung, ihre Eltern hineingedrängt worden ist. Sie hat erst in der Ehe das Bewusstsein entwickelt, dass sie sich unglücklich und unterdrückt fühlte, und deshalb ausbrechen wollte. Das war der erste Sieg, den sie errungen hat. Ihr Ehemann hat es nicht verkraftet, dass sie sich von ihm befreit hat und er die Herrschaft über sie verliert. In Spanien werden die Opfer häuslicher Gewalt statistisch erfasst und sie sagt selbst  – „ich wäre in jenem Jahr die Nummer 63 gewesen“. Von ihrer Geistesgegenwärtigkeit und ihrem starken Willen, sich diesem Mörder zu widersetzen, hat sie später noch im Kampf um ihre Rechte gezehrt. Man würde ja meinen, dass jemand, der einen solchen Anschlag überlebt, in der Folge Schutz erwarten kann. Der Überlebenskampf geht da aber erst so richtig los und ist dann ein permanenter. Es geht da nicht nur ums nackte, physische Überleben, sondern um ein würdevolles Leben. Das bedeutet, genug Geld zu haben, um ihre Töchter unter normalen Bedingungen zu erziehen und darum, angstfrei leben zu können. Als Person hat sie vieles schon erreicht, auch, dass sie sich nicht mehr nur als Opfer versteht. Angst ist Teil ihres Lebens, in diesem Sinn ist der Kampf ums Überleben eine tägliche Tatsache. Mit ihrem An-die-Öffentlichkeit-Gehen macht sie darauf aufmerksam, dass die Angst allgegenwärtig ist, auch wenn sie von Gesellschaft, Familien, Freunden verdrängt wird. Die Kraft, die sie aus diesem Kampf schöpft, die gibt ihr gleichzeitig die Möglichkeit, die Gesellschaft in Bewegung zu bringen.


Mit Martas Fall wird ein Tabu innerhalb des Tabu-Themas angesprochen – die häusliche Gewalt in höheren sozialen Schichten, die, wenn auch aus anderen Gründen, ebenso schwierig den Behörden gegenüber nachweisbar ist wie in unteren Schichten.

GÜNTER SCHWAIGER: Es ist oft sogar schwieriger für eine Frau aus höheren Kreisen, sich Gehör zu verschaffen und die Gewalt zu beweisen, wenn der Mann reich und mächtig ist, da sie nicht dem Opfer-Klischee entspricht. Wenn sie ohne eingeschlagenes Gesicht und gut gekleidet dem Richter gegenüber tritt, dann will man ihr nur ungern Glauben schenken. Sie  hat ja eh alles. In höheren Schichten ist vor allem die psychische Gewalt sehr verbreitet. Es gibt Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht auf der brutalen körperlichen Ebene stattfinden, sondern auf einer psychischen, wo über Jahre das Selbstvertrauen der Frauen unterminiert wird und Frauen sich wie Marionetten in der Hand des Mannes befinden. Wenn der Mann einen exzellenten Anwalt hat, der Druck auf den Richter ausübt, hat sie wenig Chance, sich Gehör zu verschaffen. Die größte Hürde liegt in oberen Schichten oft darin zuzugeben, dass man häusliche Gewalt erlebt, denn es kommt einer Stigmatisierung gleich. Das kann und darf nicht sein. Das Umfeld innerhalb des Milieus will es nicht wahrhaben. Gewalt ist etwas für Vorstadtproletarier-Familien, aber nicht für bessere Kreise.

 

Sie haben im Vorfeld viel recherchiert und auch statistisches Material erhoben. Sind die Erkenntnisse aus Spanien auch auf andere Länder umlegbar?

GÜNTER SCHWAIGER: Auf jeden Fall. Ich ging davon aus, dass die Situation in Spanien besonders brisant ist, da es sehr arge Fälle gibt. Ich habe auch in Österreich in der Annahme recherchiert, dass es ein Gefälle zwischen Süden und Norden gibt, wo es schon länger Gewaltschutzgesetze gibt, wo seit längerer Zeit Wohlstand herrscht und wo Gleichberechtigung existiert. Zu meinem absoluten Erstaunen fand ich heraus, dass häusliche Gewalt überall existiert und es in vielen Ländern, von denen man glauben würde, dass sie schon sehr weit sind – Deutschland, Österreich, Skandinavien, USA – mit den Tötungsdelikten viel schlimmer aussieht als in Spanien. In Österreich hat es basierend auf einer Untersuchung, die anlässlich des Films durchgeführt wurde, doppelt so viele Tötungsdelikte im letzten Jahr gegeben. Darüber wird in der Öffentlichkeit nicht gesprochen. Die Zahlen sind auch in Skandinavien oder in Deutschland schlimm. Resultat ist, dass häusliche Gewalt in der westlichen Welt eine Tatsache ist und die Zahlen weichen im Ländervergleich nicht sehr stark voneinander ab. Die Aufarbeitung durch die Gesellschaft ist unterschiedlich. In Österreich gibt es eine sehr gute Struktur des Opferschutzes, ein sehr gutes Gesetz, über die tatsächlich stattfindende Gewalt wird in der Öffentlichkeit kaum geredet. So ist mein Eindruck. In Spanien gibt es ein gutes Gesetz, aber viel weniger Geld, es wird schlechter koordiniert, es wird hingegen in der Öffentlichkeit viel mehr darüber geredet. In beiden Ländern ist die Situation relativ ähnlich. Durch die Gesetze und den Opferschutz lebt man in der Annahme, dass das Thema bereits erledigt und im Griff ist. Dem ist nicht so.


Wie ist die Brücke zwischen Spanien und Österreich entstanden?

GÜNTER SCHWAIGER: Mir war klar, dass in einem Film über Gewalt an Frauen auch die Männer, die Täter ins Spiel kommen müssen. Zum einen, weil ich selber als Mann hier in die Tiefe gehen und herausfinden wollte, warum Männer gewalttätig werden, wie sie funktionieren und wie mit ihnen gearbeitet wird. So stand ich vor der Frage, wo ich das machen sollte. Auch in Spanien? Dann sagte ich mir, warum nicht in Österreich, warum nicht dort, wo meine eigenen Wurzeln liegen? Wenn ich schon in Spanien einem Fall nachgehe, warum soll ich dann nicht auch in Österreich tiefer nachforschen und das nicht in einem Arbeiterbezirk, sondern im wunderschönen Salzburg und schauen, was dort hinter den malerischen Kulissen los ist. Es war auch eine Schau in meinen Ursprung hinein. Ich wollte beispielhaft die beiden Pole Mann/Frau auf die beiden Länder umlegen. Alles auf Spanien zu fokussieren, hätte es am Ende leicht gemacht, mit dem Finger dorthin zu zeigen. Indem ich ein konträres Land gegenüber stelle, das noch dazu meines ist, bekommt es eine allgemeinere Gültigkeit und darüber hinaus breche ich mit Klischees, indem ich nicht in Favoriten, sondern in Salzburg drehe.


Es gibt Bilder von Touristen, die an Salzburgs schönen Plätzen spazieren. In welchem Bezug stehen diese Bilder zum Thema der Gewalt?

GÜNTER SCHWAIGER: Ich habe das Gefühl, dass das Meiste hinter zugezogenen Vorhängen und geschlossenen Türen passiert. Ein Großteil dessen, was an häuslicher Gewalt passiert, ist immer noch im Dunkeln. Die Täter können aufgeschlossene, zuvorkommende Kerle sein, die sich vielleicht sogar emanzipiert und modern geben. Hinter dieser Fassade steckt dann oft verborgene Gewalt. Wir leben in einem Binom, da ist einerseits die Fassade, die wir hegen und pflegen und wo wir uns idealisieren können. Wir in Europa haben die besten Gesetze und können damit der restlichen Welt Lektionen erteilen. Und was steckt in dieser Hülle? Wer in eine Stadt wie Salzburg kommt, ist an der Fassade interessiert und nicht an dem, was dahinter ist. Das ist in menschlichen Beziehungen nicht anders: an der Fassade wird gearbeitet, das Dahinter bleibt verborgen. Diese idyllischen Bilder im Film werden oft auch missverstanden. Ich möchte mit ihnen einen Denkanstoß liefern, dass der Zuschauer auch darüber nachdenkt, wozu sie dienen? Es kommen im Filme viele Fenster, Fassaden vor – Sujets, die positiv besetzt sind und die in einem totalen Kontrast zu dem stehen, was erzählt wird.


In Salzburg haben Sie eine Institution gefunden, die Männerberatung macht. Wie sind Sie auf sie gestoßen?

GÜNTER SCHWAIGER: Das zu finden ist im Mikrokosmos Salzburg nicht schwer. Alles ist dort sehr überschaubar – es gibt ein Gewaltschutzzentrum, eine Männerberatung, die Polizei, die sich mit häuslicher Gewalt befasst. Ich bin auf Harald Burgauner gestoßen, der für den Verein Männerwelten arbeitet. Er hat ein enormes Wissen und viel Erfahrung, war sofort bereit mitzuarbeiten, jedoch unter der Bedingung, dass ich auch mit den Frauen spreche. Er betrachtet seine Arbeit für Männerwelten in einem komplexen Zusammenhang mit dem Frauenhaus und dem Gewaltschutzzentrum. Der Opferschutz lässt sich seiner Meinung nach nicht von den Tätern trennen und versteht sich nur in der Zusammenarbeit. So sind wir über ihn zu den anderen Gesprächspartnern gekommen. Interessant war, dass Männerwelten auch mit Männern arbeitet, gegen die es noch keine Anzeige gibt, die sich selbst melden, weil sie eine Gewaltbereitschaft in sich spüren. Das hat mich besonders interessiert, weil es Männer sind, die an sich arbeiten. Es gibt in Österreich freiwillige Therapien in den Haftanstalten, niemand kann aber dazu verpflichtet werden, eine Therapie durchzuziehen.


Haben Ihnen die Recherche für Martas Koffer und die Arbeit von der Männerseite her erschreckende Erkenntnisse bereitet und auch Aufschluss über das Profil der Täterseite gegeben?

GÜNTER SCHWAIGER: Es ist mir vieles klar geworden über die Langzeitwirkung von Gewalt und und auch über die Systematik und Strategie, mit der Männer Frauen mit psychischer Gewalt unterdrücken können. Das ist unglaublich. Man geht davon aus, dass Gewalt im Affekt oder unter Einfluss von Alkohol passiert. Wenn man aber in die Tiefe geht, findet man heraus, dass Gewalt auf Herrschaftsstrategien beruht. Eine Frau zu unterdrücken oder systematisch zu beherrschen heißt, sie als Mensch zu annullieren, zu demontieren, sie von innen her auszuhöhlen, ihr Selbstvertrauen zu zerstören und sie in ein totales Abhängigkeitsverhältnis zu bringen. Martas Mann hat sie nie geschlagen, aber er hat eine totale Dominanz auf sie ausgeübt. ls sie dann ausbrechen wollte – und das ist sehr typisch für diese Fälle – dann planen die Männer mit derselben Strategie, mit der sie zuvor die Frau psychisch beherrscht haben, den Mord. Sie sind hochgradig gefährlich, gefährlicher als jemand, der systematisch schlägt. Es geht ihm darum, dass die Herrschaftsverhältnisse aufrecht bleiben und dazu kommt die Unfähigkeit der Männer, mit ihren Emotionen umzugehen. Statt in sich selber zu arbeiten, laden sie diese Unfähigkeit auf die Frau ab, suchen bei ihr oder irgendwo anders die Schuld. Harald Burgauner verwendet den Begriff der Ohnmacht – ich kann mit mir selber, mit meinen Emotionen nicht umgehen, daher löse ich das mit Gewalt. Dazu kommt, dass sie eine Haltung haben, die ihnen das Recht einräumt, über eine andere Person zu herrschen, sie untertan zu machen. Es kam auch der Einwand auf – wenn ich einen Film über Männer mache, dann müsse ich auch die Gewalt, die von Frauen verübt wird, thematisieren. Und dann wird ein Streit vor Gericht, wo die Frau sich durchsetzt und die Kinder zugesprochen bekommt, als Gewalt bezeichnet. Das hat nichts mit der Ausübung von Herrschaft und der Erzeugung von Angst zu tun. Die Umkehrung dieser Verhältnisse ist verschwindend gering. Diese Machtverhältnisse funktionieren sehr unterschwellig, ohne Machismo oder Patriarchat aufkommen zu lassen, sie drücken sich heute ganz anders aus.


Häusliche Gewalt ist ein Delikt in einer Grauzone, die sich mit dem Schutz der Privatsphäre schneidet und dem Nicht-Einschreiten der Behörden Rechtfertigung bietet. Worin liegt die Conclusio Ihrer Arbeit? Was kann die Gesellschaft zum Schutz der Betroffenen tun?

GÜNTER SCHWAIGER: Der Opferschutz muss gut organisiert sein, dazu braucht es mehr Mittel und mehr Bewusstsein. Dieser Film soll Frauen Mut geben, über ihre Situation zu sprechen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Wenn wir von wirklicher Veränderung in der Gesellschaft sprechen, dann geht es um andere Machtverhältnisse. Dazu muss etwas Grundlegendes verändert werden. Diese Bewusstseinsbildung muss ganz unten in der Erziehung ansetzen. Es beginnt im Umgang der Kinder miteinander im Kindergarten, es geht darum, ihnen beizubringen, wie man Konflikte löst, wo Gleichheit und Gleichberechtigung beginnen. Später in der Schule, dann am Arbeitsplatz: Wie geht die Gesellschaft mit den Ungleichheiten zwischen Mann und Frau um? Was in der Situation der Ungleichheit zwischen Mann und Frau passiert, das reproduziert sich in der Ungleichheit in ökonomischen Strukturen, in der Ungleichheit zwischen verschiedenen Ländern. Die Basis liegt in der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Würde sie erreicht werden, dann wäre weitergedacht auch Gleichheit auf einer anderen Ebene möglich. Dazu braucht es politischen Willen, das ist nicht nur eine Frage der Mittel. Wenn es den Willen zur Veränderung gibt, dann muss er grundlegend sein und tief ansetzen.
Marta hat mir zu Beginn gesagt „Dreh den Film, wer weiß, ob ich im Herbst noch lebe“. Ich wusste nicht, wie ernst sie das gemeint hatte, auf alle Fälle war darin die Botschaft enthalten, dass es sich um etwas Wichtiges und Ernstes handelt und dass ich mir auch der Bedeutung des Themas bewusst sein sollte. Hinter der individuellen Gewalterfahrung steht eine strukturelle Dysfunktion in einer Gesellschaft, die sich nach außen hin als sehr fortschrittlich darstellt, die mit Gesetzen einen Sollzustand definiert, der innerhalb der vier Wände der Familien noch lange nicht erreicht ist. Diesen Widerspruch wollen weder Politik, Institutionen noch die normalen Leute wahrhaben. Da zeigen wir immer lieber mit dem Finger auf andere Länder, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Selber in den Spiegel schauen, ist unangenehm. Es geht letztendlich nicht nur um Gesetze, sondern um eine grundlegende Bereitschaft etwas zu verändern. Jede Gesellschaft hat ihren Rhythmus, das kann nur Schritt für Schritt gehen.

 

Interview: Karin Schiefer

März 2013