INTERVIEW

Günter Schwaiger über ARENA

 

«Der Stierkampf ist immer ambivalent, weil er kreativ und zerstörerisch zugleich ist. Er ist schön und hässlich, brutal und liebevoll. Er liebt und hasst zugleich. Das lieferte mir die Denkanstöße. Die Frage ist nicht, ob man für oder gegen den Stierkampf ist, sondern die Frage ist, inwiefern entspricht er uns?» Günter Schwaiger im Gespräch über Arena.

 

Als österreichischer Regisseur mit Wohnsitz in Madrid sind Sie mit dem spanischen Alltag sehr vertraut. Wie stark haben Sie die Präsenz des Phänomens Stierkampf im Alltag erlebt, ehe Sie sich auf eine profunde Recherche zum Thema gemacht haben?

Günter Schwaiger: Stierkampf hat in Spanien eine große Präsenz, nicht nur weil Stierkämpfe stattfinden und es ein kulturhistorisch wichtiges Thema ist, er ist auch in der Sprache sehr präsent. Die spanische Sprache ist voller Metaphern und Redewendungen aus dem Stierkampf. Er findet Einzug in viele Redewendungen, weil es so eine klare und bildliche Welt ist. Das zeigt, wie verwurzelt die Bilderwelt des Stierkampfs in der spanischen Vorstellungswelt ist.

Was wäre ein Beispiel?
Günter Schwaiger: "Bravo" kommt zum Beispiel vom Stierkampf und heißt eigentlich "mutig" und drückt eigentlich die Anerkennung eines mutigen  Stieres aus oder "cortarse la coleta" ist so ein anderer Ausdruck. Wenn ein Torero aufhört, dann schneidet er sich den kleinen Pferdeschwanz, den er im Nacken trägt, ab. Wenn jemand seinen Beruf an den Nagel hängt, dann verwendet man im Spanischen diesen Ausdruck. "Hacer un quite" heißt jemandem helfen und kommt von den Banderilleros, wenn sie den Matador vor einem tödlichen Angriff des Stieres retten. Ausdrücke, die mit Risiko verbunden sind, haben immer einen Bezug zum Stierkampf.

War es diese kontinuierliche Präsenz in der Sprache, die Sie für das Thema sensibilisiert hat?
Günter Schwaiger: Mein Interesse an der Kulturgeschichte war immer schon sehr groß. Das geht auf meinen Hintergrund als Ethnologe zurück. Das Phänomen Stierkampf ist in der europäischen Kulturgeschichte etwas Einzigartiges, besonders auch in seiner direkten Beziehung zu antiken und archaischen Vorstellungen, Riten und Zeremonien. Das auslösende Moment ist einem Freund zu verdanken, der mir vor einigen Jahren vorschlug, einen Stierkampf zu besuchen. Ich hatte das große Glück, einem der wichtigsten Stierkämpfe der letzten zwanzig Jahre beizuwohnen. Sieht man einen Stierkampf als Tourist, ohne vorbereitet zu sein und ohne die Codes interpretieren zu können, dann wirkt es eher brutal, weil man keinen Sinn dahinter sieht. Ich hab die Madrider Arena betreten, die rund wie ein altes Amphitheater ist und 30.000 Menschen fasst ? die Atmosphäre ist keineswegs laut wie bei einem Fußballspiel, es wird nur gemurmelt und kommentiert. Alles ist zeremoniell, die Vorstellung der Toreros, die Stille und dann der plötzliche unbeschreibliche Enthusiasmus der Leute. Man spürt ihre tiefe Empfindung, eine ganz bestimmte Art des Erlebens. All das waren Dinge, die ich noch nie erlebt hatte und die mich stark interessiert haben.

Hat es Ihre Haltung zum Stierkampf beeinflusst?
Günter Schwaiger: Zuerst war mein Interesse geweckt, dann hat sich natürlich meine Haltung dazu gestärkt. Ich stand als jemand, der nie mit dem Thema zu tun hatte und aus einem anderen Land kam, dem Stierkampf eher ablehnend gegenüber. Das hat sich geändert. Wenn man die Codes versteht und auch die Leute, was der Stierkampf und der Stier für sie bedeutet, dann ändert man meistens seine Meinung. Ich möchte trotzdem meinen Film keineswegs als Pamphlet für den Stierkampf verstanden wissen.

Der Film streift von Gesprächen mit sehr einfachen Leuten und ihrer Hingabe zum Stierkampf bis zur akademischen Analyse des Themas. Das Anliegen, das Thema zu hinterfragen ist ebenso ständig präsent wie der Versuch, die Ambivalenz des Themas im Auge zu behalten.
Günter Schwaiger: Für mich ist der Stierkampf eine Metapher für Vieles. Er sagt etwas über unsere Beziehung zu unserer Kulturgeschichte aus, über unsere Definition als Zivilisation, unser Verhältnis zur Natur, zum Tier, es berührt unsere Grundfesten. Es berührt das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft, die immer mehr versucht, eine Scheinwelt zu konstruieren, wohl aus dem frustrierenden Bewusstsein heraus, nicht über sich selbst hinauszukommen. In dieser Scheinwelt wird der Mensch als wunderschön, perfekt und ewig jung idealisiert. Alles Negative wird ausgeklammert, es gibt keine echte Auseinandersetzung damit. Die antike Konzeption des Menschen ist eine andere. Der Mensch ist weder gut noch schlecht, er trägt beides in sich. Das ist im Stierkampf ein wichtiger Punkt. Der Stierkampf ist immer ambivalent, weil er kreativ und zerstörerisch zugleich ist. Er ist schön und hässlich, brutal und liebevoll. Er liebt und hasst zugleich. Das lieferte mir die Denkanstöße. Die Frage ist nicht, ob man für oder gegen den Stierkampf ist, sondern die Frage ist, inwiefern entspricht er uns?

Der Stierkämpfer repräsentiert zum einen Tugenden der Männlichkeit – Mut, Kampfes- und Siegeswillen. Darüber hinaus aber auch Elemente wie Idealismus, Hingabe um der Sache selbst willen, viele von ihnen, die es nicht nach ganz oben schaffen, haben etwas Tragisches, Don Quijote-Artiges an sich. Sehen Sie den Torero auch als jemanden, der keineswegs die Klischeevorstellungen vom Machismo verkörpert.
Günter Schwaiger: Auf jeden Fall. Das Element des Quijote war mir sehr wichtig im Film, weil man dem immer wieder begegnet. Das Klischee des Toreros, das durch gewisse Hollywoodfilme entstanden ist, entspricht meiner Meinung nach nicht der Realität. Der Torero selbst ist kein Macho, er entspricht gewissen Idealen, er ist ein Idealist, hat auch etwas von Don Quijote und steht für eine Art von Ritterlichkeit. Er wird auch oft wegen dieser Bereitschaft zur Selbstaufopferung, diesem Streben nach beinahe mittelalterlichen Idealen belächelt. Ein Torero muss ja 24 Stunden am Tag ein Torero sein. Wirkliches Ansehen genießt er dann, wenn er sich in jeglicher Situation wie ein Torero verhält. Oft wird ein Bezug zum Samurai hergestellt, der im Kampf den Regeln entsprechend agiert, aber auch seine Rolle spielen muss. Ein Torero kann nicht einfach in eine Diskothek gehen und die ganze Nacht durchfeiern. Er symbolisiert Reinheit und verkörpert beinahe etwas Priesterliches, Mönchisches  - im antiken, nicht im katholischen Sinn. In der Arena steht er rein symbolisch mit seinem Körper und seinen grazilen Bewegungen der Naturgewalt gegenüber, die er besiegt. Dieser Triumph geht über ihn auf die Masse über. Diese Reinheit, die Überwindung der Angst und die Kreation dabei bilden Identifikationspunkte einer Konzeption der Zivilisation. Wenige haben sich theoretisch mit dem Stierkampf auseinandergesetzt, die große Masse macht es intuitiv.

Auch die einfachsten Leute  sprechen im Film das Metaphysische, das sie mit dem Stierkampf verbinden, an.
Günter Schwaiger: Wenn man sich mit einem ganz einfachen Andalusier unterhält, kann er minutenlang von einem Stierkämpfer wie von einem Gott reden und gleichzeitig unglaubliche Weisheiten aussprechen. Es wird sehr viel nachgedacht. Es besteht eine sehr enge, intime Beziehung dazu, die stark von den Emotionen bestimmt ist. Es ist nicht alles erklärbar. Selbst ein Torero wird irgendwann sagen, es gibt Dinge, die kann man nicht und muss man nicht erklären. Die rationale Erklärungswelt der Aufklärung greift im Stierkampf nicht. Es gibt einen Moment, wo es eine sinnliche Welt betritt, wo es keiner Erklärung mehr bedarf, wo die Dinge so genommen werden, wie sie sind. Auch die Angst wird akzeptiert, ohne dass man mit dem Psychologen an ihrer Überwindung arbeiten muss.
 

Die Toreros finden im Stierkampf ihre Lebenswahrheit, obwohl sie permanent unter einem Damoklesschwert agieren.
Günter Schwaiger: Ich habe im Film auch immer wieder cogidas gezeigt ? jene Momente, wo die Toreros erwischt werden, um sichtbar machen, wie gefährlich und wie schmerzhaft das für sie ist. Heute ist die medizinische Versorgung gut, die meisten überleben die Unfälle, vor sechzig Jahren sind noch viele Toreros verblutet. Die Angst wird von niemandem verleugnet. Sie ist ständiger Begleiter des Toreros. Philosophisch ist es sehr interessant, wenn man die Überwindung der Angst als eines der Rezepte der Zivilisation betrachtet. So wurden wir überhaupt erst fähig, andere Lebewesen zu beherrschen und haben uns durch Techniken und Handwerke entsprechend organisiert. Denn der Instinkt des Menschen ist Flucht, und nicht ein stärkeres Wesen herauszufordern. Der Torero betrachtet die Angst als Teil seines Selbst, weil er weiß, dass er sie nur dann überwinden kann, wenn er sie als Begleiter akzeptiert. Der Torero ist kein Verdränger, auch hier besteht eine Verbindung zum Samurai, der den Gegner nur dann überwinden kann, wenn er seine eigenen Schwächen erkennt. Er muss an seine eigenen Schwächen denken, um die Stärke des anderen besiegen zu können. Ein wirklich guter Torero wird seine Fehler nie verleugnen. Das macht ihn gerade so stark. Es ist für den Beobachter zu Beginn verwirrend zu sehen, wie sie mit ihrem eigenen Schwächen umgehen.

Im Film ist auch ein legendärer Moment in der Arena festgehalten, nämlich der, wo dem Stier das Leben gewährt wird.
Günter Schwaiger: Die Begnadigung des Stiers durch den Torero kann nur vom Publikum durch den Ruf "indulto" einfordert werden. Dieser Fall tritt ein, wenn sich der Stier entsprechend großartig erweist - dem Kampf nicht ausweicht, sondern sich ihm stellt und in eine Harmonie mit dem Stierkämpfer kommt und beide in diesem Tanz eins werden. Es war ein Moment in der Arena, wo alle Menschen 5 cm über den Sitzen schwebten. Ein Stierkampf darf nur maximal zwanzig Minuten dauern, die letzte Phase maximal zehn Minuten. Alles ist genau reglementiert. Dauert es länger, dann darf der Stier nicht in der Arena und nicht vom Stierkämpfer getötet werden. Es ist die größte Schande für den Torero, wenn er das Leid des Stieres in die Länge zieht und nicht fähig ist, den Stier zu töten. Es ist hingegen die größte aller Ehren für einen Torero, einen Stier begnadigen zu können. Das kommt in den großen Arenen sehr, sehr selten vor, weil das Publikum besonders anspruchsvoll ist. Es müssen beide ? der Stier und der Torero großartig sein. Der begnadigte Stier kommt dann auf die Weide und wird zunächst zum Zuchtstier und lebt für den Rest seines Lebens, verehrt als fast heiliges Tier, in Freiheit, die er sich sehr hart erkämpft hat.

Denkt man an das Gedicht des todkranken Mannes, der vom "einem Paradies der Hoffnung mit kargem Preis" spricht, es wird im Stierkampf für sehr wenig Lohn sehr viel aufs Spiel gesetzt.
Günter Schwaiger: Wenn man bedenkt, dass nur die allerwenigsten Toreros wirklich jemals Erfolg haben, dann ist es schon unglaublich, wieviel Selbstaufgabe in den meisten steckt, die doch wissen, dass sie kaum eine Chance haben. Viele junge Toreros ziehen durch Dörfer und kleinen Städte und setzen ihr Leben aufs Spiel, ohne jemals Anerkennung zu finden. Manche werden dann Banderilleros, andere geben ganz auf. Für alle ist es jedoch eine große Enttäuschung, es nicht geschafft zu haben, aber nie eine Schande. Denn jemand, der sich einmal einem Stier gestellt hat, wird immer respektiert. Das Publikum weiß, wie unglaublich schwierig es ist, als Stierkämpfer erfolgreich zu sein. Es spielen so viel Faktoren eine Rolle. Auch das Schicksal, das Glück. Es geht beim Torero um Momente. Ein großer Stierkampf kann das Leben eines Toreros von einer Sekunde auf die nächste verändern: es können drei grandiose Bewegungen in einem Stierkampf sein, die ihn zum Star machen, ebenso gut kann es in Sekundenschnelle auch aus sein für ihn. Dieses Ausgeliefertsein dem Schicksal gegenüber, diese Nähe zu einer Extremsituation macht die Toreros zu ganz speziellen Menschen. Was normale Menschen zu vermeiden versuchen, ist für sie das tägliche Brot. Das macht sie zu ganz sensiblen Menschen. Man kann sich dem Stier nur stellen, wenn man sehr intuitiv und sensitiv ist. Nur dann kann man das Tier, diese unbändige Gewalt, die einem gegenübersteht, einschätzen. Als Menschen sind sie sehr reserviert und zurückhaltend, wenn man ihnen wirklich näher kommen will, dann ist es ein ganz langsamer Prozess. Darum gibt es auch das Ritual des Anziehens bei den Toreros, denn die Nacktheit besteht nicht nur körperlich. Sie besteht in ihrem Sein, die Nähe zum Tod macht sie nackt. Wenn man ihnen nahe ist, werden auch ihre Schwächen sichtbar. Es ist ein sehr interessantes Umgehen mit dem Menschsein.

Wer wird Torero? Ist es heute weniger attraktiv, Stierkämpfer zu werden?
Günter Schwaiger: Vor gut hundert Jahren war es so, dass Toreros, wenn sie nicht gerade aus Stierkampffamilien gekommen sind, aus sehr armen Verhältnissen kamen. Wer setzte schon sein Leben aufs Spiel? Es war damals eine der wenigen Chancen, dass es jemand aus dem Nichts in die maximale Anerkennung schaffen konnte. Heute hat sich v.a. in Spanien vieles geändert. Spanien ist ein relativ reiches Land geworden, der Stierkampf ist nicht mehr der einzige Weg aus der Armut zu kommen und es besteht keine Motivation mehr, für den sozialen Aufstieg sein Leben zu riskieren. Heute kommen Toreros entweder aus Familien, wo der Stierkampf einen sehr großen Stellenwert einnimmt oder wie Juan es vor Augen führt, aus einer reinen Idealisierung des Stierkampfes. Er betreibt es der Ehre wegen. Ich hab es nicht statistisch erhoben, aber es zeigt sich, dass immer mehr Südamerikaner in den Stierkampfschulen sind, die häufig aus sehr bescheidenen Verhältnissen kommen und für die der soziale Motor größer ist. Die Schulen sind nicht leer, aber ein rückläufiges Interesse ist feststellbar und die Stierkampfwelt spürt es und weiß es.

Ihre Recherche hat  sich ja nicht nur auf die renommierten Arenen von Madrid oder Barcelona beschränkt, sondern hat versucht das Phänomen in vielen Facetten zu erfassen. Wie sind Sie vorgegangen?
Günter Schwaiger: Der Stierkampf ist eine sehr komplexe Welt, die immer weiter wird, je tiefer man in sie hineingeht. Im großen Stierkampf ist jede kleine Bewegung ganz genau geregelt, wie im Kabuki oder im Ballett, ebenso wie jede Reaktion des Publikums. Ursprünglich war der Stierkampf etwas viel Einfacheres. In den Dörfern gab es capeas, diese freien Kämpfe, wo z.B. der Dorfplatz abgeriegelt wird, ein Stier hereinkommt und sich dann jeder dem Stier stellen kann. Dort gibt es auch Wandertoreros. Als es noch kaum Schulen gab, musste man sich die Kunst des Stierkampfs selbst beibringen und durch die Dörfer ziehen und hoffen, dass einen zufällig jemand entdeckt. Das war ein gefährliches Hasardspiel und Abenteuer. Heute hat es kaum noch Bedeutung. Was es immer häufiger gibt, sind die Stierspringer, die eher akrobatische Elemente einbringen. Das ist eine uralte Form des Stierkampfs, von der es schon Reliefs in Kreta und Ägypten gibt. Das wird jetzt gerade wieder populär. Was Form und Bedeutung des Stierkampfes, Größe des Stieres oder Publikum betrifft, da bestehen regional sehr große Unterschiede. Man erlebt da auch unangenehme und unkontrollierte Sachen, die ganz im Gegensatz zum klassischen Stierkampf stehen.
In Pamplona herrscht der uralte Brauch, die Stiere von der Weide durch die Stadt zu treiben und in die Arena zu führen. Es geht in Pamplona darum, in einer gewissen Distanz so lange wie möglich vor dem Stier zu laufen und dann auf die Seite zu springen. Das ist eine extreme Mutprobe und unglaublich riskant. Pamplona gibt es schon sehr lange und ist durch Künstler wie Hemingway oder Picasso bekannt geworden. Es übt eine ungemeine Faszination auf die Leute aus, Touristen kommen aus aller Welt. Ich wollte es unbedingt im Film haben, weil der Stierlauf für den Stierkampf eine große Bedeutung hat. Er bildet das Verbindungsglied zwischen Natur/der freien Welt und der Zivilisation und im Zentrum der Zivilisation ist der Kreis der Arena und dort wird dann der Kampf ausgefochten. Der Stier kommt durch das Labyrinth der Straßen herein, hier besteht sicherlich ein Bezug zum Minotauros auf Kreta. Antike Symbole ? Kreis, Spirale, Labyrinth, Horn - sind im Stierkampf sehr wichtig, die Bewegung des Stierkampfs vergleicht man oft auch mit dem Faden der Ariadne. Es gibt viele Elemente, die die Verbindung zur antiken Welt und zur Verbindung zwischen Mensch und Gott herstellen, das ist ganz wichtig. Es geht um die Kommunikation zwischen beiden, darum, dem Gott die Kraft zu rauben, die dann in den Menschen übergeht.

Wieviel sind Sie für diesen Dreh gereist?
Günter Schwaiger: Wir haben 110 Tage gedreht und sind allein für den Dreh ein Jahr lang gereist. Davor war ich ein halbes Jahr für die Recherche in Spanien unterwegs. Wir haben an 60 bis 70 verschiedenen Orten gedreht und vielleicht 70 bis 80.000 km zurückgelegt. Wir sind eigentlich die Strecke, die ein sehr guter Torero innerhalb eines Jahres zurückgelegt, gefahren. Mir war wichtig, an die verschiedensten Orte zu kommen, um dort auch zu sehen, wie es erlebt wird. Es waren mir die verschiedenen Aspekte und auch die verschiedenen Länder ein Anliegen, denn auch wenn die Grundregeln identisch sind, so wird der Stierkampf in Frankreich ganz anders aufgenommen als in Spanien: ein anderer Zugang, ein anderes Feeling. Die Südamerikaner erleben es noch einmal ganz anders. Das habe ich versucht, über die Bilder rüberzubringen, ohne es zu erklären.

Sie haben vier Protagonisten ausgewählt. Wie fiel die Wahl auf sie?
Günter Schwaiger: Es war das Schwierigste im Film ? einerseits Geschichten zu erzählen und andererseits der Welt gerecht zu werden. Ich hatte vor dem Schnitt mein Konzept in sieben Spalten strukturiert: die vier Protagonisten ? Johann, Juan, der kleine Jesús, Lumi mit Dani. Weiters die Stierkampfschule, der Mythos und die Welt des Luis Bolívar, einer der Toreros, mit dem wir auch nach Frankreich gefahren sind, der im Schnitt dann weniger wichtig wurde. Ich habe versucht, die Geschichten nicht zu wiederholen, und dennoch die Kontraste der einzelnen Figuren zu zeigen, wie z.B. Juan, der aus einem reichen Elternhaus kommt und aus Idealismus kämpft ? diese verschiedenen Pfeiler des Films ineinander zu weben, war die Herausforderung im Film. Ich sehe den Film als Mosaik, das langsam über die Figuren die Welt des Stierkampfes entstehen lässt. Der Zuschauer sollte Schritt für Schritt die Welt spüren, die Figuren immer besser erkennen, ohne dass es eine reine Beschreibung von Menschen ist. Sie sollten alle ins Patchwork dieser Welt eingebettet sein, die nie  ganz perfekt ist, weil der Stierkampf nie in seiner Gesamtheit darstellbar ist. Nicht einmal der größte Kenner weiß alles über den Stierkampf.

Sie haben auch sehr viel Kamera selbst gemacht: die dynamischen Momente des Stierkampfs zu filmen ist gewiss eine kameratechnisch große Herausforderung, auch fällt auf, dass sehr bewusst vermieden wird, ins Spektakulär-Voyeuristische zu gleiten.
Günter Schwaiger: Das war der ausschlaggebende Punkt für mich, die Kamera selbst zu machen, denn im Dokumentarfilm ist das Auge des Kameramanns entscheidend. Bei diesem Film, der sehr stark von schnellen Momenten abhängt, war es sehr wichtig, dass ich es selber mache. Es war mir ein sehr großes Anliegen, keinen Kitschfilm über Stierkampf zu machen. Dieses rein ästhetische Bild wird der Welt nicht gerecht, es soll seinen Platz haben, aber es ist vor allem wichtig, das Menschliche und auch das manchmal Primitive zu zeigen. Für das Drehen in der Aktion des Stierkampfes war für mich die Recherche mit der Kamera ein sehr gutes Training, wie man in diesem Ambiente dreht, was ja gar nicht so einfach ist. Man muss beim Drehen voraussehen können, was im nächsten Moment passiert, dafür muss man über den Stierkampf sehr viel wissen, da einem sonst die wichtigsten und spannendsten Momente entwischen. Es war sehr viel Übung dabei und je mehr ich dann drinnen war, desto besser ist es geworden. So hatte ich auch das Glück, José Tomás auf sehr einfache Weise zu drehen und doch extrem kräftige Bilder zu bekommen. Es war eine große Herausforderung für mich, selber zu drehen, aber ich habe auch die Bilder bekommen, die ich haben wollte. Die Toreros und diese Welt sollten direkt mit der Kamera kommunizieren, weil ich den Blickkontakt und das Direkte beibehalten wollte. Das Sich-in-die-Augen-Schauen ist ja das Entscheidende zwischen Torero und Stier.

Einen wichtigen Platz räumt der Film auch dem Tier ein.
Günter Schwaiger: Der Stier ist die zentrale Figur. Die Stierkämpfer betrachten nicht sich selbst, sondern das Tier im/als? Mittelpunkt. Es ist eine Beziehung wie zu einem Gott oder zu einem heiligen Tier, das sie opfern und dabei ihr Leben in die Waagschale werfen. Das Tier, auch wenn es schließlich getötet wird, wird davor gepflegt, hat eine Genealogie, lebt auf freien Weiden. Es war für mich überraschend zu sehen, dass man mit einem Tier, das man nachher töten wird, so ein Verhältnis aufbaut. Die Präsenz des Tieres war mir in mehrfacher Hinsicht wichtig, erstens in seiner Bedeutung für den Torero, aber auch dahingehend, wie unser Verhältnis zum Tier heutzutage aussieht. Welche Bedeutung hat die Tierwelt für uns? Unterscheiden wir zwischen den Tieren, die wir essen und die null Bedeutung für uns haben und jenen, die wir zu Hause verhätscheln? Im Stierkampf gibt es diese Unterscheidung nicht. Da wird das Tier, dem ich das Leben nehme, um selbst zu leben, nicht als anonymes Wesen beiseite geschoben. Für mich ist der Stierkampf auch ein Ritual, das uns daran erinnert, dass wir Lebewesen töten müssen, um selber zu überleben, dass wir uns für diesen Tod nicht zu schämen brauchen, weil er ein Teil von uns ist. Es war für mich eine Erkenntnis während der Arbeit am Film, dass es im Stierkampf in keiner Weise um das Leid des Tieres geht. Mir ist hier auch eine gewisse Heuchelei in unserem Bezug zum Tier bewusst geworden. Wir sehen uns gerne als ideale Menschen, die sich, wenn sie sich die Dinge ein bisschen zurechtrücken, fehlerlos glauben. Wir sind in der Beziehung zum Tier selber ein Tier, das über den anderen steht und auf brutale Art und Weise von diesen Lebewesen lebt. Das ist eine Realität, die gerne verdrängt wird. Da sind mir die direkten Auseinandersetzungen wie im Stierkampf lieber und ich glaube, es ist auch ganz gut, wenn man immer wieder darüber nachdenkt, wer wir wirklich sind. Es ist eine Realität, die im Stierkampf einfach gezeigt und zelebriert wird. Die Feier im Stierkampf besteht ja im Sieg über die eigene Schwäche, die eigene Angst, über die Naturgewalt. Natürlich kann man das auch nicht zelebrieren, wie ich vieles nicht machen muss. Es ist keine Frage der Notwendigkeit, sondern eine Frage des sich einer Realität-Stellens. Der Stierkampf spielt mit offenen Karten und das tut natürlich weh. Ich verstehe jeden, der nicht hineingehen will, den Stierkampf in einer Welt wie heute zu verbieten, halte ich für absurd.

Sie haben ja auch den engagierten Gegnern einen Platz in Ihrer Studie der Arena eingeräumt.
Günter Schwaiger: Die Leute aus der Stierkampfwelt standen meinem Vorhaben, auch die Gegner aufzunehmen, anfangs sehr skeptisch gegenüber. Ich wollte auch den Standpunkt der Gegner reinbringen, nicht um Pro und Kontra abzuwägen, sondern weil ich die Welt suchte. Wenn ich dabei auf die Gegner stoße, dann filme ich sie auch. Überraschenderweise habe ich sehr wenig engagierte Gegner vor den Arenen angetroffen, ich habe sie so gefilmt, wie ich ihnen in Pamplona und Barcelona begegnet bin. Es gab auch im Vorfeld der Premiere des Films in Wien eine Menge Mails mit Aufrufen, den Film nicht zu spielen. Ich glaube, etwas zu verteidigen, indem man etwas anderes verbietet, führt genau zum Gegenteil. Jeder kann sich mit einem Thema auseinandersetzen und dann seine Meinung bilden. Ich versuche, eine Welt darzustellen, dazu habe ich meinen eigenen Zugang, das ist auch mein Recht.

Der Film beobachtet das Phänomen in allen seinen Facetten – als Ritual, als Spektakel, als kulturelles, als sportliches Phänomen. Wo würden Sie es selbst einordnen?
Günter Schwaiger: Der Stierkampf steht über all diesen Klassifizierungen. Er ist ein Akt der Kulturbildung. Er kommt in gewisser Weise aus der Jagd und ist dann zum Ritus geworden. Wie auch immer man ihn klassifizieren mag, es sind immer Schablonen, die aus der jetzigen Perspektive hineininterpretiert sind. Er ist für mich ein Akt, wie der Philosoph Mühlmann ihn bezeichnen könnte, der Enkulturisierung. Durch diesen Ritus wird ein Bild der Kulturidentifikation geschaffen, der Mensch besiegt mit seiner Intelligenz die Gewalt der Natur. Auch das feminine Element ist im Stierkampf sehr wichtig. Die Bewegungen des Stierkämpfers, seine Kleidung sind eher feminin. Betrachtet man es aus der Sicht der Legenden und Mythologien genauer, gibt es viele Belege, wo im Stierkampf und seinen Vorformen auch die Umwandlung der Geschlechter ein Bestandteil ist – der Mann ist durch den Stier repräsentiert, der Stierkämpfer symbolisiert die Frau, der Tod befruchtet und es kommt zu einer Umwandlung zwischen den beiden und diese Befruchtung wird auf das Publikum übertragen. Er hat Elemente von allem, so, wie die moderne Gesellschaft sehr diversifiziert ist und viele Dinge sich spezifiziert haben, steckt einfach von allem etwas drinnen – auch Theater, Stierkampf ist antikes Theater, die Akteure sind lebendige Wesen, Leben und Tod sind echt, es hat seine Akte, seine Klimax, seine Protagonisten. Das Rituelle und die Liturgie stehen dabei sicherlich im Zentrum.

Betrachtet man auch Ihre bisherigen Filme, dann ist ihnen allen gemein, dass Sie mit einem Blick von außen auf ein zutiefst spanisches Thema schauen. Stimmen Sie dem zu?
Günter Schwaiger: Mein Interesse liegt nicht primär in der spanischen Kultur, ich setze mich mit dem Umfeld auseinander, in dem ich lebe. Ich lebe eben hauptsächlich in Spanien. Ich versuche immer wieder in diesen Welten, durch die Distanz, die ich dazu habe, das Allgemeine herauszusuchen, das, was eng in Verbindung zum menschlichen Sein, zur Kultur, zur Geschichte, zur Politik steht, zu finden. Der Stierkampf, der ja ein sehr internationales, keineswegs auf Spanien beschränktes Phänomen ist, hat sehr viel mit der europäischen Kulturgeschichte zu tun. Ich glaube, dass wir uns in unserer Geschichte an einem Zeitpunkt befinden, wo vieles in einer Sackgasse gelandet ist und neue Konzeptionen und Wege gesucht werden. Es ist wichtig zurückzuschauen, weil sich einiges lernen lässt und man bei vielen Dingen auch die Augen aufmachen muss. Der Stierkampf ist für mich wie gesagt eine Metapher, hinter der viele Dinge stecken. Er kann uns viel zeigen, auch Unangenehmes. Eine ideale Welt wäre keine Wahrheit. Wenn ich mich mit einem solchen Thema auseinandersetze, ist es immer der Mensch, der mich dahinter interessiert. Es interessiert mich immer die Psychologie des Menschen, sein Scheitern und was ihn treibt - in der Kulturgeschichte wie in der Politik. Deshalb glaube ich, dass so ein Thema für jeden interessant sein kann. Das gilt auch für Hafners Paradies und das Thema des Nationalsozialismus, es ist ein deutsches oder österreichisches Phänomen, aber es beschäftigt die Welt. Gerade wenn es solche Ausformungen der Kultur oder der Unkultur gibt, gerade dann zeigt sich ja der Mensch am klarsten. Nur wenn es, wie heute oft kulturimperialistisch verwässert wird, dann sieht man nichts mehr. Ebenso kann man vieles erst dann erkennen, wenn eine Kultur in einem dekadenten Prozess ist, wo vieles aufbricht.


Interview: Karin Schiefer
Jänner 2010