INTERVIEW

Fritz Ofner über LIBYA HURRA

 

«Den Moment der Revolution als gesellschaftlichen Trancezustand wollte ich zum Mittelpunkt des Films machen.» Fritz Ofner im Gespräch über Libya Hurra


Hatten Sie einen besonderen Bezug zu Libyen oder war es die Serie der Protestbewegungen des Arabischen Frühlings, die schon seit Februar die Idee in Ihnen wachsen ließen, in einem der Länder Zeuge im Moment des Umbruchs zu sein?
Fritz Ofner: Ich habe im Frühling 2011 einen Film in Beirut gedreht: Beirut Blend. Das Konzept dafür war vor Beginn der Protestbewegungen im arabischen Raum entstanden, die politischen Umwälzungen haben aber natürlich in die Dreharbeiten hineingespielt. Die Idee zu Libya Hurra entstand sehr spontan auf meinem Rückweg vom Festival in Locarno, wo Evolution der Gewalt Premiere hatte. Ich hörte im Radio, dass in Tripolis die Rebellen einmarschiert waren. Nachdem ich so lange und intensiv an Evolution der Gewalt gearbeitet hatte, war mein Terminkalender für den Rest des Jahres frei. Fünf Tage später war ich dort, um einmal quer durchs Land zu fahren und habe die Szenen und Momente, die mir widerfahren sind, in Form eines filmischen Tagebuchs festgehalten.

Fährt man denn so einfach in einer solchen Konfliktsituation nach Libyen?
Fritz Ofner: Das Projekt war als Experiment angelegt. Ich war noch nie zuvor in ein Kriegsgebiet gereist. Ich hatte zwei Kollegen mit, der eine war ein tschechischer Fotograf, mit dem ich auch für Beirut Blend und zuvor schon für Von Bagdad nach Dallas gearbeitet habe, der andere war ein syrischer Freund, der im Exil lebt, der als Übersetzer mitkam. Wir flogen nach Kairo und fuhren von dort an die libysche Grenze. Das Land war im Prinzip zum diesem Zeitpunkt zu, aber einige Grenzübergänge waren bereits unter Kontrolle der Rebellen. An einem dieser Grenzübergänge haben wir lange mit den Rebellen verhandelt und dann eine Einreiseerlaubnis erhalten.

Wie haben Sie in dieser Schnelligkeit die interessanten Schauplätze geortet?
Fritz Ofner: Man kann in einer solchen Situation nur von Tag zu Tag planen. Ich habe versucht, die Situationen, die sich angeboten haben, einzufangen. Es war körperlich sehr hart, aber selten habe ich mich mit der Kamera so willkommen gefühlt. Das Land war 42 Jahre mit eiserner Faust regiert worden, plötzlich war der Deckel weg. Es ist sehr schwierig das, was einem erzählt wird, einzuordnen und zu verifizieren. Es gibt das Sprichwort Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst und somit war mir schnell klar, dass ich in single shots erzählen wollte. Durch die Plansequenzen entsteht eine Wahrhaftigkeit der Einstellung, weil die Interaktion mit der Kamera sichtbar ist. Die Gefahr, mit einer Kamera instrumentalisiert zu werden, ist stets präsent. Ich denke an die Eröffnung, wo ich mit den Rebellen spreche und sie in die Luft zu schießen beginnen. Aus dieser Offenlegung der Interaktion ist eine filmische Form entstanden, wo ein 70-minütiger Film nur 67 Schnitte hat. Ich hatte sehr wenig Material, weil ich mich beim Drehen bereits stark limitiert habe. Ich habe mich in der Auswahl der Szenen so reduziert, sodass ich von den vier Drehwochen 20 Stunden Material zurückbrachte. Es gibt nicht viel mehr Szenen, als jene, die im Film zu sehen sind. Mit ein oder zwei Ausnahmen ist der Film chronologisch dem Verlauf der Reise entsprechend erzählt.

Sie verzichten auf jegliche Erläuterung der Umstände. Abgesehen von Datum und Ort geben Sie keinerlei Erklärungen. War der Bruch mit den Fernsehbildern auch eine Überlegung, die Ihr filmisches Handeln bestimmt hat.
Fritz Ofner: Ich wollte nichts erklären, weil viele Zusammenhänge in so einer Situation weder vollständig sichtbar noch erklärbar sind. Daher wollte ich bei diesem stark fragmentarischen Ansatz bleiben und aus einer starken Subjektive filmen. Mein Grundinteresse lag darin, diesen Ausnahmezustand zu verstehen. Michel Foucault war 1979 im Iran, um über die Revolution zu berichten und hat den Moment der Revolution als gesellschaftlichen Trancezustand bezeichnet. Genau diesen Trancezustand, in dem sich Land und Menschen befinden, wollte ich zum Mittelpunkt des Films machen. Grundsätzlich bewegt mich immer auch ein ethnologisches Interesse. Ich wollte mir eine Revolution aus nächster Nähe anschauen: In einer Revolution wird gekämpft, werden Waffen bereit gestellt, Kämpfer verwundet, Gefängnisse gefüllt, Tote bestattet. Welche Arbeitsschritte erfordert eine Revolution, das wollte ich aus einer ethnografischen Sicht erkunden.

Es entsteht der Eindruck, dass es Ihnen um einen Blick aus dem Innersten der Geschehnisse gegangen ist?
Fritz Ofner: Es ging um den Ausnahmezustand Revolution und den Moment des Umbruchs nach 42 Jahren Diktatur. Es war ein ganz besonderer Zeitpunkt. Als ich in Libyen ankam, waren die Rebellen bereits in Tripolis einmarschiert. Es war klar, dass das Regime fallen würde, es waren aber noch drei Städte in der Hand der Gaddafi-getreuen Truppen und Gaddafi zwar auf der Flucht, aber noch nicht gefangen. Das Land war in einer Jubelstimmung, weil ein Ende der Unterdrückung in Sicht war und es gab einen ganz starken Zusammenhalt unter den Fraktionen, weil sie alle das gemeinsame Ziel verfolgten, das Regime zu stürzen. Sobald es gefallen war, begannen die Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen und Milizen. Was dann nachher passiert ist, erinnert an George Orwells Animal Farm. Sobald der gemeinsame Feind besiegt ist, tut sich eine Gruppierung hervor, die die Macht an sich reißt. Ich kann nur aus der Ferne beurteilen, was danach passiert ist. Ich glaube, dass dieser Optimismus des Umbruchs wie eine Welle gebrochen ist und Libyen eine problematische Zeit vor sich hat. Ich war genau im Moment der Euphorie dort.

Es entsteht der Eindruck, dass sie Bilder „vor dem Sturm“ und „nach dem Sturm“ festgehalten haben. Stimmen Sie dem zu?
Fritz Ofner: Das hat sich auch aus der Dramaturgie der Reise ergeben. Wir sind in Bengasi angekommen, eine Stadt, die schon seit einigen Monaten befreit war. Das Land war zum Zeitpunkt unseres Drehs zweigeteilt. Syrt, wo sich Gaddafi versteckt hielt, liegt in der Mitte des Landes und somit war die einzige Straße, die von Ost nach West geführt hat, blockiert. Wir haben uns zuerst von Bengasi kommend der Front genähert, bis wir nicht mehr weiter konnten, sind dann wieder zurück nach Bengasi, um mit einem der ersten „Free Libyan Airlines“-Flüge über die Front, in Misrata zu landen, wo die heftigsten Kämpfe wüteten und die Zerstörung am größten war. Dort entstanden die meisten Szenen, die mit den Kampfhandlungen zu tun hatten.
Dieses Nebeneinander von der Ruhe nach dem Sturm einerseits und den heftigen Kämpfen andererseits hat sich aus der Dramaturgie der Reise ergeben und diese hatte sehr viel mit der Geografie Libyens zu tun.

Bilder von Kampfhandlungen selbst haben Sie jedoch ausgespart?
Fritz Ofner: Es war eine bewusste Entscheidung, diese Bilder nicht zu machen. In solchen Kriegssituationen wird die Berichterstattung einigen großen Playern überlassen. Wir haben jeden Abend in den Hotels Leute von BBC, CNN oder Al-Jazeera getroffen, die mit schusssicheren Westen und Helmen mit ihren Aufnahmen von der Front gekommen sind. Ich wollte das filmen, was rundherum geschah und in den Fernsehbildern nicht vorkommt. Meine Bilder von der Front, wo die Waffen geladen werden, strahlen eine unglaubliche Ruhe aus, gar keine Kampfstimmung. Es könnte auch eine Weizen- oder Olivenernte sein, wenn nicht andauernd die Waffen im Bild wären. Ich wollte die unspektakuläre Normalität eines Krieges oder einer Revolution einfangen.

Der Film beginnt mit starker Interaktion - die Leute treten mit der Kamera in Dialog, man hört Schüsse und gegen Ende hin wird der Film immer stiller. Ich denke an die Bilder im Gefängnis und an den Palast. Beschreibt diese Stille und das Hineinsinken in die Umstände auch den Prozess, den Sie in den vier Wochen dort durchlaufen haben?
Fritz Ofner: Es war meine Intention, mich auf die Stimmungen einzulassen. Die langen Kameragänge ohne Handlung und Protagonisten, die sehr subjektiv meinen Blick reflektieren, sind auch Platzhalter dafür, was eine Revolution bewirkt. Die meisten Aufnahmen entstanden in öffentlichen Einrichtungen, die alle als Teil dieses verhassten Regimes vom Volk gestürmt und niedergebrannt worden waren. Auf diesen Ruinen jeglicher sozialer Organisation muss wieder eine neue Gesellschaftsordnung aufgebaut werden. Meine subjektiven Kameragänge stehen für die Zerstörung des Althergebrachten und es bleibt offen, was daraus wieder entstehen wird.

Was in den Bildern von Libya Hurra sehr frappierend ist, ist die Absenz des Landes als Lebens- und Alltagswelt. Man erfährt nichts vom Lebensraum dieser Menschen.
Fritz Ofner: Es spielt sehr oft in entlegenen Gebieten. Libyen ist ein unheimlich großes Land und hat 6 Mio Einwohner. 95% der Bewohner leben in einigen wenigen Hafenstädten am Meer, zwischen den Siedlungen durchquert man oft hunderte Kilometer nur Wüste. Die Gebiete um die Erdölraffinerien waren auch die Schauplätze der heftigsten Kampfhandlungen. Ich wollte Menschen in diesem Ausnahmezustand portraitieren.

Wie haben Sie die Menschen, die vor der Kamera sprechen, gefunden.
Fritz Ofner: Die Menschen haben meistens uns gefunden. Der Mann, der in der Anfangsszene, über die Zerstörung durch die Gaddafi-Truppen und von den Opfern spricht, war der erste und einzige weit und breit, der nach 150 km Wüste ein Kaffeehaus hatte. Wir stiegen aus, um Getränke zu kaufen und er wollte von sich aus erzählen, was passiert ist. Ich steckte ihm ein Funkmikrofon an und der Rest der Szene lief quasi in Echtzeit ab. Davor war nicht mehr, als dass ich ein Cola gekauft habe. Ähnliches geschah in der Szene mit dem Ingenieur in der Erdölraffinerie. Wir waren dort, um Aufnahmen von den Zerstörungen zu machen, als er mit dem Auto vorbeifuhr und sich vorstellte. Er war als Ingenieur unterwegs in einer Fact-Finding-Mission, um das Maß der Zerstörung an den Erdölanlagen herauszufinden und lud uns ein, mitzukommen. Im Zuge dessen hat er unterhalb der Anlage riesige Raketenlager entdeckt. Im Gefängnis wiederum hatten wir eine Stunde, um Aufnahmen zu machen. Ich machte einen langen Kameragang und es kam ein Mann auf uns zu, der zwölf Jahre dort eingesperrt war und wollte seine Geschichte erzählen. Das Gefängnis war ähnlich wie der Gaddafi-Palast zur Touristenattraktion geworden und er verbrachte dort seine Zeit, um zu erzählen, was passiert ist. Ich habe ihm keine Frage gestellt, er hat sich vor die Kamera gesetzt und eine halbe Stunde lang erzählt. So entstanden viele der Szenen. Wir mussten kaum suchen.

Es gibt eine Szene im Film, von der man glauben würde, dass sie inszeniert ist, wüsste man nicht um Ihre Arbeitsweise. Es ist jene, als die beiden älteren Herren auf einer Bank sitzend mit einem plötzlichen Ausbruch von Aggression von Jugendlichen konfrontiert werden. Waren Sie selber überrascht?

FRITZ OFNER:  Es hat sich für uns als Filmende ein wenig abgezeichnet. Wenn man die Szene genauer verfolgt, hört man die Jungen schon herumschreien. Der Mann rechts schaut auch immer wieder zu ihnen hin und deutet. Die Szene zeigt sehr deutlich, was der Krieg mit den jungen Menschen gemacht hat. Sie hatten offensichtlich Streit miteinander, einer scheint gehänselt worden zu sein und dieser Junge läuft dann ins Bild, um das Maschinengewehr, das der eine Rebell neben sich stehen hatte, an sich zu reißen, um den Konflikt zu lösen. Ich wollte bewusst in dieser Szene nicht mitschwenken, sondern in dieser Kadrierung bleiben. Da sind wir an einen Punkt, der auch in Evolution der Gewalt angesprochen wird: man erlebt, wie Gewalt weitergegeben wird und sich verselbständigt. Der erste Impuls dieses Jungen ist, einen eigenen Konflikt mit der Waffe zu lösen. Ein Ausblick auf das, was Libyen jetzt bevorsteht. Man sieht auch, wie die beiden alten Rebellen mit der Aggression der Jungen nicht umgehen können. Es steht der libyschen Gesellschaft ein Generationenkonflikt bevor und es wird dauern, bis die Haltung, Konflikten mit Gewalt zu begegnen, wieder aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwindet.


Wie haben Sie und Ihre Begleiter auf sich aufgepasst?

FRITZ OFNER: Ich hatte nie das Gefühl, in einer wirklich gefährlichen Situation zu sein. Es war klar, wo die Kampfhandlungen stattfinden und von diesen Orten haben wir uns ferngehalten. In der aufgeheizten Situation kann es natürlich immer zu einem Zwischenfall kommen. Die Grundhaltung der Leute war sehr freundlich und sie waren ausländischer Berichterstattung gegenüber sehr offen. Wie in Guatemala, wo ich Evolution der Gewalt gedreht habe, musste man auch dort Leute seines Vertrauens finden, deren Einschätzung man vertrauen kann und Orte, die einem als gefährlich attestiert werden, meiden. Wir sind ohne große Gefahren durch die Dreharbeiten. Was man allerdings durchhalten muss, das sind Momente extremer nervlicher Anspannung. Es hatte 45 Grad im Schatten, es gab kaum etwas zu essen, wir wohnten meist in ausgebombten Hotels, wir hatten kein eigenes Auto, sondern mussten immer jemanden finden, der uns weiterbrachte. Wir waren wie Backpackers unterwegs - kleines Equipment, praktisch kein Geld. Alles musste unter einer „lowest-budget“-Vorgabe gelöst werden. Wir mussten Tag für Tag mit größtmöglicher Flexibilität schauen, was möglich war. Nach vier, fünf Tagen Libyen war mir klar, dass ein Film daraus entstehen konnte und musste, um diesen besonderen Moment festzuhalten. Ursprünglich war die Reise als Recherchereise gedacht. Zunächst hatte ich an einen Film gedacht, der wie das Buch von Ryszard Kapuściński König der Könige funktioniert. Er war in Äthiopien, als Haile Selassie abgesetzt wurde und fand Menschen aus dessen Umfeld, die ein sehr starkes Bild dieses eigentlich wahnsinnigen Königs zeichneten. Gaddafi galt für manche als etwas wie der Michael Jackson der Diktatoren. So war meine erste Idee, rund um ihn etwas zu erzählen. Aber sehr schnell hat sich dieser Ausnahmezustand als das wirklich Interessante entpuppt und es wird außerdem in absehbarer Zeit schwierig sein, Menschen aus Gaddafis Umfeld zu finden, die bereit sind, über ihn zu reden.


In Szenen der Demonstrationen entdeckt man auch sehr viele Frauen, sehr junge Frauen. Wo haben Sie diese Bilder eingefangen?

FRITZ OFNER: In einer konservativen muslimischen Gesellschaft, wie der libyschen habe ich als Mann kaum Zugang zur Lebenswelt der Frauen. Das ist eine starke Einschränkung, aber auch eine Tatsache. Die einzige Möglichkeit, Frauen ins Bild zu bekommen, war im öffentlichen Raum und das waren Demonstrationen, an denen Männer wie Frauen teilgenommen haben, ich hab mich allerdings auf die Frauen konzentriert. Die Frauen leisteten einen beachtlichen Beitrag, denn es war in vielerlei Hinsicht eine self-made-Revolution. Die jungen Männer waren an der Front, um mit erbeuteten Waffen aus Gaddafis Kasernen zu kämpfen. Die Mütter haben in großen Töpfen Essen gekocht, das die Väter in den Autos an die Front gebracht haben. Ich hab einen enormen solidarischen Zusammenhalt in der Gesellschaft gespürt, man muss bedenken, dass die staatliche Infrastruktur zusammengebrochen war. Das meiste funktionierte dank freiwilliger Arbeit und war gleichzeitig der Aufbau einer Zivilgesellschaft, davon hört man in der Berichterstattung kaum.


Ist Ihre Sicht auf die Chancen auf Demokratisierung in Libyen eine positivere als die er Medien?

FRITZ OFNER:  Ich muss immer wieder betonen, ich bin kein Libyen-Experte. Ich habe diese Reise durch Libyen und somit meine Wahrnehmungen gemacht. Ich kann aber schlecht einen Ausblick anstellen. Wenn alle staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Institutionen zerstört sind, wird es lange dauern, wieder eine gesellschaftliche Struktur zu schaffen, die friedliches Zusammenleben ermöglicht. Ich bin eigentlich optimistisch.


Sie sind ohne Budget innerhalb von fünf Tagen aufgebrochen, das Projekt scheint also mit weniger als „no budget“ entstanden zu sein.

FRITZ OFNER: Ich habe alles vorfinanziert, in der Hoffnung, dass ein gutes Ergebnis die Förderer überzeugt. Nach meiner Rückkehr habe ich zweimal um Förderung angesucht, beide Male wurde der Antrag angelehnt, mit der Begründung, dass nachträgliche Förderungen schwierig zu bewerkstelligen sind. Geht man die regulären Förderwege, so ist ein Film wie dieser nicht realisierbar. Ein historischer Umsturz ist nicht absehbar und verlangt spontanes Reagieren. Dank der Einladung nach Locarno bekam ich eine kleine Festivalförderung für eine Vorführkopie. Die Stadt Wien war von Beginn an dabei, allerdings in einem sehr kleinen Ausmaß. Der Film hat jetzt ein offizielles Budget von € 10.000,-, der Rest ist von mir bezahlt und ich werde noch eine Weile abbezahlen. Ich hatte einen Übersetzer, die kreativen Departments – Regie, Produktion, Kamera, Ton, Schnitt - musste ich zwangsläufig selber übernehmen, was dazu geführt hat, dass die Arbeitsphase zwischen der ersten Idee bis zum Rohschnitt nur drei Monate gedauert hat. Ich mag den Film, weil er als Arbeitserfahrung sehr positiv war. Von der spontanen Idee bis zum Schnitt ist alles aus einem Guss. Ich möchte mir das auch in Zukunft für mich herausnehmen: Wenn ich ein brennendes Interesse an einer Situation habe und darüber einen Film machen möchte, es im Zweifelsfall auch zu machen, ohne auf Förderentscheidungen zu warten. Man muss sich von dieser Abhängigkeit auch ein wenig freispielen.


Diese Vorgangsweise zeigt aber auch, dass Sie Ihr dokumentarisches Filmemachen sehr stark in der Momentaufnahme sehen?

FRITZ OFNER: Ich hatte schon als Kind den Wunsch, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird. Auf eine Art und Weise ist in Libyen letzten Herbst Geschichte geschrieben worden. Ich hatte schon zuvor den Impuls verspürt, sofort hinzufahren und mich ins Geschehen zu stürzen, um es festzuhalten. Das begann mit den ersten Unruhen am Tahrir-Platz in Kairo, da arbeitete ich aber gerade am Schnitt von Evolution der Gewalt. Als die Revolution in Libyen im März begann, habe ich gerade in Beirut einen Film gedreht. Als dann die Rebellen in Tripolis einmarschierten, hatte ich ganz einfach ... Zeit. Man braucht auch Freiräume, damit aus Spontaneität etwas Kreatives entstehen kann.
Der Film ist ein zeitgeschichtliches Dokument aus einer sehr beschränkten Sicht. Ich gebe nicht vor zu erklären, was in Libyen passiert. Aber ich kann erzählen, was mir in Libyen widerfahren ist und diese Erfahrungen in ihrem fragmentarischen Gehalt im Film transportieren. Ich glaube, es weist dennoch auf historische Geschehnisse hin, wo ähnliche Dinge passiert sind. Wenn man sich mit offenem Geist auf diesen Film einlässt, sieht man eine Reihe von Referenzen an universelle Zustände, der zu bestimmten Zeitpunkten in Gesellschaften wahrnehmbar ist.

Werden Sie bei der diesjährigen Heimfahrt von Locarno wieder Radio hören?

FRITZ OFNER: Ja. Ich habe 2010 Teile meines Filmes Von Bagdad nach Dallas in Syrien gedreht. Aus dieser Zeit kenne ich das Land gut und habe viele Freunde und Bekannte dort, wie Houssam, mein Übersetzer, mit dem ich durch Libyen gereist bin. Über ihre Erzählungen - die meisten meiner Bekannten sind mittlerweile aus dem Land geflohen ? bin ich immer informiert über die Situation dort. Bislang war die Situation in Syrien zu undurchsichtig und gefährlich um unabhängig dorthin reisen zu können. Dies könnte sich bald ändern. Das Regime von Assad steht vor dem Sturz. In Syrien könnte man dort fortsetzen, wo der Libyen Film endet: Was passiert nach einem kriegerischen Umsturz eines brutalen Regimes? Wie wird es weitergehen in Syrien?

Interview: Karin Schiefer
Juli 2012