... und ständig den Eindruck zu haben, eigentlich zu Hause zu sein. Ein Gespräch mit Lisa Weber (Regie) und Rudi Takacs (Produktion) über Sitzfleisch.
„Oma, wie hältst du den Opa aus?“ ist eine Frage, die ungefähr in der Mitte des Films fällt. War das eine der Fragen, die
auch schon die Idee zum Film geboren haben?
LISA WEBER: Nein. Das hat sich erst im Laufe der Fahrt entwickelt. Unsere Großeltern erzählten uns von ihren Reiseplänen zum Nordkap und
ich dachte mir, ich würde gerne mit einer Kamera mitfahren, weil ich es mir amüsant vorstellte. Mein Bruder beschloss dann
auch mitzufahren. Wir waren zwei Wochen unterwegs: eine Woche Hinreise, eine Woche Rückreise. Am Nordkap selbst sind wir eine
Nacht geblieben.
Bedeutet das, dass die Bilder, die im Laufe dieser Reise entstanden sind, sich als so intensiv erwiesen, dass daraus ein langer
Film entstehen konnte, ohne dass es im Vorfeld schon dramaturgische Pfade festgelegt waren?
LISA WEBER: Viele Leute fahren ans Nordkap, weil sie sich das schon sehr lange wünschen. Meine Großeltern suchten nach einem Reiseziel,
wo mein Großvater möglichst viel und lange Auto fahren konnte. Im Reisedienst des ÖAMTC hat man ihm diese Strecke empfohlen.
Das hatte etwas Lustiges und Absurdes.
RUDI TAKACS: Ein Mehr an Geschichte wäre gar nicht machbar gewesen. Sonst hätte man nur erzählt, wie die beiden ans Nordkap fahren. Es
lag auf der Hand, dass es um die Beziehung geht. Hätten sie die ganze Zeit nicht miteinander geredet, dann hätten wir uns
schwer getan. Es ist ja das Spannende, dass der Film im Entstehen gewachsen ist. Darum ist er auch so ehrlich.
Als Enkel hat man ein Naheverhältnis, als Dokumentarfilmemacher eine Distanz zu seinem Objekt. Wie haben Sie diese Gratwanderung
im Vorfeld ausgelotet und Ihre Position definiert?
LISA WEBER: Es ist mir erst im Zuge des Drehens so richtig bewusst geworden, wie schwierig diese Position war. Wenn ich filmte, war ich
auf einer gewissen Distanz und nicht komplett ins Geschehen involviert. Wenn die Kamera abgedreht war, dann allerdings voll.
Manchmal war die Kamera auch ein gutes Mittel, nicht ganz ins Geschehen involviert sein zu müssen. Ich hab mich nicht für
eine Position entschieden. Ich war manchmal in dieser, manchmal in jener Rolle. Dieses Dilemma hat dann der Cutter Roland
Stöttinger sehr gut gelöst. Ich finde, dass sich der Film jetzt sehr homogen anfühlt. Ein Freund hat einmal gemeint, dass
Sitzfleisch deshalb so gut funktioniert, weil man spürt, dass mich die Leute, die ich filme, einfach wirklich interessieren,
und das wiederum gibt den Protagonisten ein gewisses Selbstvertrauen, vor der Kamera sie selbst zu sein. Weil ich sie halt
mag, egal, was sie machen, und egal, ob ich filme, oder nicht. Ich hoffe, das stimmt. Denn das, was mich beim Filmemachen
interessiert, sind Leute oder Dinge, denen ich nahe bin, und die Kamera auch als Mittel, Situationen herzustellen, in denen
man Dinge tun oder sagen kann, die man sich erst durch die Distanz zur eigenen Realität, die durch den „Deckmantel Film“ entsteht,
traut. Aber das betrifft dann eher meine fiktionalen Arbeiten. Ich glaube, dass es möglich ist, mit jedem Menschen einen Film
zu machen, der für „alle“ interessant ist, wenn man sich wiederum selber ernsthaft für seine Protagonisten interessiert.
RUDI TAKACS: Es ist aber auch riskant. Ein so direkter Blick in die Realität interessiert viele Menschen vielleicht auch nicht. Zu alltäglich
und zu langweilig. Ich finde es auch sehr schön, wenn ein Punkt getroffen wird, wo sich die Leute identifizieren können.
Zu welchem Zeitpunkt ist für das beinahe privat anmutende Projekt die Notwendigkeit einer produktionstechnischen Unterstützung
entstanden?
RUDI TAKACS: Von Anfang an. Lisa erzählte mir von ihren Plänen und wir überlegten gemeinsam, wie man Dinge wie Ton oder das Filmen während
der Autofahrt bewerkstelligen könnte. Es ging weniger um Finanzierungsfragen, sondern um technische Fragen, dabei wiederum
vor allem darum, wie Lisa alles allein machen konnte. Wir hatten auch nicht sehr viel Zeit.
Hat Ihr Bruder eine Teamfunktion übernommen?
LISA WEBER: Prinzipiell nicht, aber bei einem Publikumsgespräch beim Crossing Europe Filmfestival hat Olaf Möller festgestellt, dass Lukas
in gewisser Weise mein Alter Ego sei. Wenn er nicht dabei gewesen wäre, dann hätte ich mich nicht so gut hinter die Kamera
zurückziehen können. Wenn ich filmte, hat er den Rest übernommen. Wir waren den Großeltern auch eine Hilfe in organisatorischen
Belangen oder haben, wenn es notwendig war, übersetzt. Ich hätte viele Szenen nicht filmen können, wenn Lukas das nicht übernommen
hätte. Die Rolle des Enkels einzunehmen, das konnte er auch viel besser als ich. Ich hätte mich wahrscheinlich vielmehr auf
Diskussionen eingelassen. Er ist da ruhiger.
Welches Verhältnis hatten Ihre Großeltern zur Kamera?
LISA WEBER: Da ich schon länger an der Filmakademie studiere, sind sie es gewohnt, dass ich filme. Ich habe auch manchmal zu Hause eine
Kamera dabei. Während der Reise und auch danach haben sie immer wieder gefragt, warum ich nicht mehr Landschaft filme und
gleichzeitig war ihnen bewusst, dass es in erster Linie um sie ging, sie trugen ja auch ein Mikrofon. Mein Großvater wollte
mich da eher necken, wenn er mein Filmen kommentiert. Ihre Bereitschaft, sich vor der Kamera natürlich zu verhalten, lässt
sich einerseits aus einer gewissen Gewohnheit erklären, andererseits durch das Vertrauen, das sie mir entgegen bringen. Sie
haben ja weder Kontrolle darüber, was ich mit dem Material mache, noch überlegen sie sehr viel, wie sie im Film wirken. Das
war in der Schnittphase eine ziemliche Belastung für mich, weil ich eine große Verantwortung verspürte und mir auch andere
Leute zu verstehen gaben, dass sie manche Szenen von sich nicht auf der Leinwand würden sehen wollen. Da hat mich Roland Stöttinger
sehr entlastet, weil er mich darin bestärkte, dass es im Film um meine Sichtweise und nicht um die der anderen ging.
War der Griff zur Kamera in erster Linie intuitiv?
LISA WEBER: Ja, und das empfinde ich als große Freiheit, und es war nur möglich, dank Rudi und Freunden, die mich darin bestärkt haben,
auf meine Intuition zu vertrauen. Es wäre auch zuviel gewesen, im Zuge der Reise zu versuchen, etwas in gewisse Richtungen
zu lenken, abgesehen davon, dass mich das auch nicht interessiert hätte. Kamera, Ton, Enkel-Sein, das hat mir genügt. Ich
war froh, dass es gelungen ist, etwas einzufangen und mir ist bewusst, dass das Fehlen einer Arbeitshypothese einen Mehraufwand
für den Schnitt bedeutet hat, aber ich glaube, das hat Roland, den Cutter, wiederum auch gereizt.
RUDI TAKACS: Wir haben uns in der Vorbereitungszeit schon darüber unterhalten, was passieren könnte. Lisa kannte ja ihre Großeltern sehr
gut. Es gab eine Testfahrt, um das technische Equipment auszuprobieren, da bekam man schon einmal ein Gefühl dafür, was sich
ergeben könnte. Konkret ausgesprochen war es nie, dass es um die Beziehung der beiden geht.
Wie kadriert man in dieser Enge?
LISA WEBER: Im Auto war es einfach. Da hatte ich zwischen den Sitzen und der Decke eine Position gefunden. Schwieriger war es in der „Wildnis“,
z.B. am Nordkap selbst, weil ich nicht wusste, was sie tun würden. Die Bilder vom Nordkap fangen aber letztlich sehr gut das
Wesen meines Großvaters ein. Er will, dass alles gut und schön ist, aber er kommt nie zur Ruhe und kann nie etwas genießen.
Er macht dort beinahe kein Foto von der untergehenden Sonne, weil ihm die Leute im Weg stehen und er sucht sich keinen Standpunkt
aus, wo niemand vor ihm stehen würde. Das ist ein Verhalten, das kann man auf die meisten Situationen umlegen und ich finde
es schön, dass es genau in den Bildern vom Nordkap so deutlich wird.
Es gibt sehr persönliche Fragen an die beiden, die ihre Beziehung zueinander, betreffen. Wie heikel war es, solche Fragen
zu stellen?
LISA WEBER: Beim Sichten empfand ich unsere Fragen zunächst einmal als sehr naiv. Ich bin mir sicher, dass es in Wien im Alltagsleben
nie dazu gekommen wäre. Es war uns wirklich ein Bedürfnis, diese Fragen zu stellen und ich glaube, diese Notwendigkeit ergab
sich daraus, dass wir so viele Stunden auf diesem engen Raum im Auto zusammensaßen. Irgendwann drängen sich Fragen auf. Mit
meinem Bruder sprachen wir abends im Hotelzimmer oft über nichts anderes. Einmal stelle ich meiner Großmutter im Hotelzimmer
persönliche Fragen - das hatte sich einfach ergeben, weil wir gerade alleine waren. Natürlich ist es heikel, in so einem Moment
auch die Kamera eingeschaltet zu haben. Sie fragt ja auch: „Ist es dann im Film?“, aber ich weiß, dass die Situation bzw.
das Gespräch ohne Kamera genauso unangenehm gewesen wäre. Als ich ihnen den Film das erste Mal zeigte, war ich sehr nervös.
Wenn sie es gewünscht hätten, dass wir etwas rausnehmen, dann hätte ich es auch getan. Es schien aber in Ordnung zu sein.
Sie konnten auch über sich selbst und die Situationskomik einzelner Einstellungen lachen. Bei der Diagonale haben sie dann
eine Vorführung im vollen Kinosaal erlebt. Den Film in Gegenwart anderer Leute zu erleben oder überhaupt zu erleben, dass
sich andere Leute für den Film interessieren, war noch einmal etwas ganz anderes für sie. Dort war es auch möglich, dass sie
sich selbst als Figuren in einem Film wahrnehmen. Als sie es zu Hause mit der Erwartung „unser Urlaubsfilm“, anschauten, da
sah das noch anders aus. Mein Großvater meinte ohnehin, dass der Film für andere uninteressant sei. Und meine Großmutter sagte
am Ende: „Das ist ja kein Reisefilm, das ist ein Beziehungskrisen-Film“. Das ist es meiner Meinung nach nicht, und es war
auch bewusst überspitzt von ihr, aber mir hat’s gefallen, dass sie das so gesagt hat.
RUDI TAKACS: Ich bin im Kino neben ihnen gesessen – es war sehr schön, das zu erleben. Sie haben auch über sich selber gelacht, was ich
nicht erwartet hätte, und sind auf die Pointen richtig eingestiegen. Man hat gemerkt, dass sie kein Problem damit haben und
sich so sehen, wie sie sind. Das fand ich sehr schön. In der Szene, wo Lukas Lisa fragt, ob sie sich wohl jemals „Ich liebe
dich“ gesagt haben, haben sie sich an den Händen genommen. Sie fanden es auch lustig, wenn andere über etwas lachen konnten.
Ich denke, ein besseres Kompliment hätten wir von ihnen nicht erwarten können. Keiner hat sich ungerecht betrachtet gefühlt.
Das Erste, was der Großvater beim Publikumsgespräch grinsend sagte: „So schlimm bin ich ja gar nicht.“
Der Titel „Sitzfleisch“ spielt ja nicht nur auf diese lange Ehe an, sondern auch auf die lange Autofahrt zu viert mit einem
rauchenden Fahrer und volkstümlicher Schlagermusik. Lukas muss sich immer wieder durch körperliche Betätigung einen Ausgleich
schaffen – Klimmzüge, Handstände –, um irgendwie bei sich zu bleiben und aus der Enge auszubrechen.
LISA WEBER: Ich freue mich, dass die Bewegungselemente meines Bruders zu einem durchgängigen Motiv geworden sind. Lukas ist sehr sportlich
und hat sich erwartet, dass wir da und dort mal in der Natur Halt machen. Dazu kam es aber kaum. Ich war ja aufs Filmen konzentriert,
aber Lukas hätte sich von der Reise gewiss mehr erwartet als nur im Auto zu sitzen. Es ist ein seltsames Gefühl, durch so
viele Länder zu fahren und ständig den Eindruck zu haben, eigentlich zu Hause zu sein.
Bei allem Fokus auf die Großeltern, enthält SITZFLEISCH unweigerlich auch einen satirischen Ton über das Reisen und die Tourismusindustrie.
LISA WEBER: Ich bin froh, wenn das spürbar wird. Der Film ist jetzt auf die Großeltern fokussiert, aber grundsätzlich habe ich alles gefilmt,
was mich gerade interessiert hat. Da waren eben auch Souvenir-Schnick-Schnack, die Leute, die diesen kaufen und TouristInnen
auf Fotomarathon dabei.
Mit wieviel Material sind Sie von der Reise zurückgekehrt?
LISA WEBER: Wir hatten 35 Stunden. Ich habe lange versucht, es alleine zu sichten. Erst nach gut einem Jahr kam dann der Cutter Roland
Stöttinger dazu. Das war ein wichtiger Schritt, weil es mir die Möglichkeit bedeutete, die nötige Distanz zu bekommen. Ich
schlug zunächst vor, das Material für ihn zu kürzen, dabei sind aus 35 Stunden ca. 30 geworden (lacht). Er hat dann alles
gesichtet, es folgten darauf sehr viele Gespräche.
Was waren die Themen dieser Gespräche?
LISA WEBER: Beziehungsmuster, Familienstrukturen, Liebe, Reisen ... alles. Die Frage, die ihn beschäftigt hat, war, wie man aus etwas
so Persönlichem etwas machen kann, das alle betrifft und interessiert. Das war ein wichtiger Punkt, sich darüber Gedanken
zu machen, wie man etwas für viele Leute zugänglich macht. Ich bin da zu sehr dazwischen gestanden, zwischen der persönlichen
und der öffentlichen Ebene. Das hatte ich zuvor unterschätzt.
RUDI TAKACS: Roland hat viel „Trennungsarbeit“ geleistet. Es fällt einem einfach schwer, Material, das man gefilmt hat, loszulassen. Roland
hat das Vorhandene auf das reduziert, was es brauchte, um eine Geschichte zu erzählen und hat vor allem den Dingen nicht nachgetrauert.
LISA WEBER: Es war mein erster Film, den jemand anderer geschnitten hat. Es dauerte eine Weile, bis Roland erfasst hatte, was ich wollte.
Und eine seiner großen Qualitäten war die, dass er sich total an mich angepasst hat. Er hat ein sehr großes Einfühlungsvermögen.
„Du bist das Herz, ich bin das brain“, hat er einmal gesagt.
RUDI TAKACS: Ich bin mir sicher, der Film wäre nicht das geworden, was er jetzt ist, hätte sich Lisa vor der Abreise eine Arbeitshypothese
gestellt. Dann hätte er so etwas Gewolltes bekommen, das man jetzt genau nicht verspürt und das eine große Qualität des Films
ausmacht.
Das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkelkindern ist ja eines, das von vielen Spannungen, die zwischen Eltern und Kindern
bestehen, befreit ist. War es deshalb möglich, dieser Frage nachzugehen?
LISA WEBER: Es ist für jeden offensichtlich, dass sie sich irgendwann miteinander arrangiert haben. Da ist gewiss etwas Naives, zu fragen
wie sie sich aushalten, ich finde es im Nachhinein betrachtet, trotzdem schön, das einmal angesprochen zu haben. Meine Mutter
hält den Film nur schwer aus, obwohl sie ihn schon so oft gesehen hat. Für sie ist es gewiss schwieriger. Ich kann mir meine
Großeltern nicht als Eltern vorstellen. Dank unserer Mutter können wir jetzt so mit den Großeltern sein.
Die Großeltern sind so sehr sich selber, ohne sich zu verstellen, ohne viel darüber nachzudenken und gleichzeitig bleiben
sie auch ein unerklärliches Geheimnis, allein durch ihr Sein stehen sie für eine Kluft zwischen Generationen.
LISA WEBER: Dass es keine klassische Figurenentwicklung gibt, war eine Herausforderung für den Schnitt, die Dramaturgie. Aber so zu tun,
als hätte sich durch die Reise viel für sie verändert oder als wären sie jetzt gar neue Menschen, wäre eine schlichte Lüge
gewesen. Wie der Film jetzt gebaut ist, entspricht dem, wie ich die Reise und die Großeltern erlebt habe. Manchmal war’s lustig,
manchmal fad, manchmal anstrengend, wieder heimkommen ist schön, und Fotos vom Nordkap in der Küche aufhängen zu können auch.
Interview: Karin Schiefer
Juli 2014