«Die Welt hängt zur Zeit in dieser Schieflage und diesem chaotischen Krisensystem, weil sich heute zu viele Leute
in der Politik, in den Medien, in der Kunst darum drücken, Dinge zu vermitteln und in klaren Worten so zu erklären,
damit sich die Menschen ihre eigene Meinung bilden und eine Haltung entwickeln können. Da besteht ein Vakuum und ich habe
keine Berührungsängste, das zu tun. Darin liegt, glaube ich, die Stärke meiner Arbeiten.» Erwin Wagenhofer über BLACK BROWN
WHITE
Sie haben nach Ihren Dokumentarfilmen We Feed the World und Let's Make MONEY nun mit BLACK BROWN WHITE einen Spielfilm gemacht. Haben Sie sich damit auch einen Wunsch nach einem freieren Erzählen erfüllt?
Erwin Wagenhofer: Freier ist vielleicht nicht der richtige Begriff, aber ein anderes Erzählen. Die vielen Jahre des Filmemachens
haben mich gelehrt, dass es darauf ankommt, welche Geschichte ich erzählen möchte. Davon ausgehend stelle ich mir die Frage,
ob das Fiktionale oder das Nicht-Fiktionale besser ist. Ich habe jetzt rund um den Kinostart ca. zwanzig Screenings miterlebt
und viele Leute waren erstaunt, warum sie nicht wieder einen Dokumentarfilm zu sehen bekommen haben. Ein Hinweis, dass es
höchste Zeit war für mich, das Genre zu wechseln, um nicht für den Rest meines Lebens in dieser Schublade zu landen.
Anders gefragt: Sie haben in Ihren letzten beiden Filmen auf viele Dysfunktionen im kapitalistischen System bzw. in den Nord-Süd-Beziehungen
hingewiesen. Gibt der Spielfilm eine Antwort auf aufgeworfene Fragen, indem er für Akteure im System (ich spreche bewusst
nicht von Opfern oder Tätern) ein Szenario humanen Handelns entwirft?
Erwin Wagenhofer: Das ist sehr gut auf den Punkt gebracht. Es ist mir in keiner Weise darum gegangen ? da habe ich das Gefühl,
dass es von manchen Kritikern falsch verstanden worden ist - , realistisch zu zeigen, wie Menschen eine Grenze überwinden
und welch fürchterlich tragische Situationen dabei entstehen. Mich hat von einem humanistischen Standpunkt aus die Frage interessiert,
was passiert, wenn zwei solche Charaktere in dieser Situation aufeinander treffen. Der eine ist ein Schlitzohr, aber nicht
durch und durch böse, die andere macht ebenfalls etwas vor dem Gesetz Verbotenes, auch wenn es ein menschlich nachvollziehbares
Handeln ist. Mich interessierte der Konflikt, in den diese Frau Don Pedro bringt. Es war nicht meine Absicht, die realen Umstände
der Flucht zu zeigen, was z.B. die anderen Flüchtlinge durchmachen, die in den kleinen Raum im Lastwagen eingepfercht sind.
Dass die beiden anderen Flüchtlinge anonym bleiben, höchstens klopfen und schreien und beinahe in der eigenen Scheiße ersticken,
erzählt ja auch etwas von der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Flüchtlingsproblems.
Erwin Wagenhofer: Dieser Ansatz hat mir zumindest in der Theorie sehr gut gefallen. Wir alle wissen, was alles passiert,
aber wir schauen nicht hin. Tarifa, die südlichste Stadt am europäischen Festland, wo Atlantik und Mittelmeer aufeinandertreffen,
ist eine Touristenattraktion und ein Surfparadies. Die Leute genießen dort Sonne und Strand, obwohl dort regelmäßig Leichen
von verunglückten Flüchtlingen angeschwemmt werden. Wir lesen davon in der Zeitung und wollen aber keinen Bezug zur Realität
herstellen. Das wollte ich an Don Pedro zeigen, er sperrt seine Flüchtlinge weg, will damit nichts zu tun haben. In dem Moment
aber, wo die Frau physisch da ist und nicht in Gestalt eines Opfers auftritt, dann wird alles anders.
Wie in den Dokumentarfilmen ist es Ihnen auch im Black Brown White wichtig, politisch Stellung zu beziehen. Was hat Sie veranlasst,
die Flüchtlingsproblematik ins Zentrum der Handlung zu stellen?
Erwin Wagenhofer: Ich habe vor gut zehn Jahren Limes, einen Dokumentarfilm über Grenzen, gemacht und im Winter bei Eiseskälte
einen Aufgriff mitten in der Nacht mitgefilmt. Es wurden ein iranisches Ehepaar mit zwei Kindern und zwei Schwarzafrikaner
aufgegriffen und ich habe damals den ganzen Schrecken mit der Kamera dokumentiert. Grenzen sind für einen Filmemacher ein
extrem interessanter Topos: nicht nur geografische Grenzen, menschliche Grenzen und Ausgrenzung haben mich schon immer interessiert.
Das hat vielleicht auch mit mir zu tun, weil ich mich in der österreichischen Filmbranche immer wieder ausgegrenzt fühle.
Jeder hat so seine Themen, mit denen er sich auseinandersetzt und zu denen er eine Haltung einnimmt. Es gibt im Film
zwei Dialogpassagen, die sehr explizit eine politische Haltung transportieren und die mir von der Kritik angekreidet wurden.
Ich wurde im Zuge von Let's Make MONEY unzählige Male gebeten zu erklären, wie man mit einem leerstehenden Haus Geld verdienen kann, was nicht einfach zu verstehen
ist. Dazu möchte ich folgendes sagen: Die Welt hängt zur Zeit in dieser Schieflage und diesem chaotischen Krisensystem, weil
sich heute zu viele Leute - in der Politik, in den Medien, in der Kunst - darum drücken, Dinge zu vermitteln und
in klaren Worten so zu erklären, damit sich die Menschen ihre eigene Meinung bilden und eine Haltung entwickeln können. Kein
Politiker hat uns vor zehn Jahren gesagt, dass, wenn uns die Banken einreden, die sicherste Investition seien Immobilienfonds,
dabei auch Blasen entstehen, die irgendwann platzen werden. Da besteht ein Vakuum und ich habe keine Berührungsängste, das
zu tun. Ich klage ja nicht an, sondern ich stelle nur fest. Darin liegt, glaube ich, die Stärke meiner Arbeiten.
Wie sieht das beim Thema Flüchtlinge aus?
Erwin Wagenhofer: Der Menschenhandel hat, was die Summe an mafiösen Geldern, die fließen, betrifft, den Drogenhandel längst
überholt. Wenn man in Nord- oder Westafrika mit Leuten zwischen 15 und 55 spricht, dann wollen alle auswandern. Das
hat einerseits damit zu tun, dass wir ihre ökonomischen Grundlagen zerstören und andererseits, weil wir ihnen mit westlichen
Werbespots den Mund wässrig machen und die Menschen dort glauben müssen, der Westen sei das Paradies. Jackie kommt im Paradies
an, begegnet dort auch manchen paradiesischen Bildern wie z.B. der Wohnanlage und muss aber feststellen, dass die Wirklichkeit
ein wenig anders aussieht. Ich werfe auch gerne immer wieder die provokante Frage auf ? wenn so viele Wohnungen leer stehen
und eine Million illegaler Flüchtlinge in behelfsmäßigen Unterkünften hausen, könnte man ihnen doch sagen: ?Dann geht doch
hinüber, dort habt ihr?s besser und die Häuser werden endlich genutzt?. Damit habe ich gespielt, da bewege ich mich natürlicherweise
im Bereich des Grotesken.
Don Pedro, der Protagonist von Black Brown White, ist Fernfahrer ein Milieu, das Sie im Zuge Ihrer Recherchen
zu We Feed the World studieren konnten. Wie würden Sie seine Typologie beschreiben, warum kommt Ihr Fahrer aus "gutem
Haus"?
Erwin Wagenhofer: Für diesen Fernfahrer gibt es ein echtes Pendant, der mich 2004 nach Südspanien mitgenommen hat. Ein
sehr sympathischer Mann, der sich in fünf Sprachen verständigen konnte, der mich durch seine Stärke und Eloquenz sehr beeindruckt
hat. Wer ständig diese lange Strecke über die EU-Außengrenze fährt, der muss einiges an Situationen bewältigen. Ich denke
allein an die Zollkontrolle bei der Fähre, wo ständig junge Leute versuchen, sich irgendwo im LKW zu verstecken. Wenn da jemand
ohne das Wissen des Fahrers mitkommt, dann hat er in Spanien ein großes Problem. Als Fernfahrer ist man ständig solchen Situationen
ausgesetzt und muss sie auch ganz alleine bewältigen. Darüberhinaus sind sie von den Fahrtenaufzeichnungen her total überwacht,
auch wenn sie ihre Methoden haben, die totale Kontrolle zu umgehen. Es bleibt ein beinharter Job. Sie sind viele, viele Tage
ihres Lebens allein unterwegs und werden weltfremd und schrullig, auch wenn sie gleichzeitig diese harten Typen bleiben müssen.
Man trifft in diesem Milieu auf die verschiedensten Typen - solche mit Bierbäuchen, Westerntypen, Aussteiger. Ich bin auch
vielen Studenten begegnet, die irgendwann begonnen haben zu jobben und nicht mehr weggekommen sind. Viele verlieren auch den
Bezug zur Wirklichkeit und träumen davon Indianer oder Cowboys zu werden. Alle sind sie einsame, in gewisser Weise entwurzelte
Figuren. Ich wollte keinesfalls eine stereotype Figur entwerfen.
Nicht nur Don Pedro entspricht nicht den gängigen Vorstellungen von Fernfahrern, Jackie, eine selbstbewusste Frau, ist ebenso
gegen den Strich gestaltet wie letztlich die ganze Geschichte, denn am Ende ist der Schlepper Don Pedro der Verlierer und
für Jackie, den Flüchtling, könnte es mit etwas Glück gut ausgehen. Im wirklichen Leben wäre es umgekehrt wahrscheinlicher.
Erwin Wagenhofer: Es ist ja so, dass sich Don Pedro in die Frau wenn schon nicht verliebt, so zumindest sehr starke Sympathien
für sie entwickelt. Er kommt in die missliche Situation, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als einem Konkurrenten die
Frau zu überlassen. Er kommt ja eigentlich über die Eifersucht drauf, dass er sich für die Frau interessiert. Und ich halte
es für einen sehr starken Moment, dass er die Frau, die ihm wichtig geworden ist, nur noch retten kann, indem er sie dem anderen
in die Hände gibt. Im Schlussbild steht er auf der Rampe und man sieht Jackie mit ihrem Sohn im Auto des Arztes vorbeifahren.
Don Pedro bricht aber nicht in Tränen aus, es befällt ihn zwar eine leichte Melancholie, aber auch das Gefühl, dass sich das,
was er gemacht hat, ausgezahlt hat, auch wenn es nicht so ganz perfekt gelaufen ist.
Der Film hat auch ironische, um nicht zu sagen groteske Momente, ich denke an die Szenen mit den Wallfahrern. Was hat
Sie veranlasst, diese Überzeichnung hineinzubringen?
Erwin Wagenhofer: Es hat mich gestört, dass in den letzten Jahren das fiktionale Kino besonders in Österreich immer dokumentarischer
geworden ist. Meiner Meinung nach macht es aber den Reiz und den Reichtum des fiktionalen Kinos aus, dass da viel mehr möglich
ist als im Dokumentarfilm, weil es so phantasievoll sein kann. Da ich in den letzten Jahren so viel mit Realismus konfrontiert
war, sagte ich mir - jetzt mach ich einmal etwas anderes. Auf meine erste Drehbuchfassung, die 150 Seiten hatte und noch den
Titel Just in Time trug (was inzwischen auf den LKW als Aufschrift gewandert ist), schrieb ich als Untertitel "Ein Märchen".
Natürlich wird der Film jetzt als Roadmovie oder als Liebesfilm verkauft, das Marketing verlangt, den Film in eine Lade einordnen
zu können. Ich wollte weder etwas Neues erfinden, noch mich an jemanden, der in Österreich Erfolg hat, anhängen. Ich wollte
einen Film machen, der nicht einzuordnen ist. Ich mag diese komischen Momente, ich kann selbst ein riesiger Schelm sein. Die
Szene mit der läufigen Hündin habe ich vor vielen Jahren selbst erlebt und sie sagt viel über den Charakter des Films aus,
denn realistisch ist das natürlich nicht, weil die Polizei in Wirklichkeit alles dicht machen würde, solange das nicht aufgeklärt
ist. Hier erlaube ich mir ein Augenzwinkern, das Leben spielt manchmal so. Mit einem Witz kommt man oft weiter, das hat viel
mit meiner Lebenseinstellung zu tun. Ich sehe das Leben viel vielfältiger als es oft im Kino dargestellt ist.
Straße und Landschaft sind Elemente, die sich von Anfang bis Ende durch diesen Film ziehen. Was symbolisiert die Straße?
Erwin Wagenhofer: Die modernen Cowboys sind auf der Straße unterwegs. Ich wollte so einen Cowboy, der in der Mitte des Lebens
steht, an dieser Schlüsselstelle, wo man oft bereit ist für etwas Neues. Don Pedro hat die Hälfte seines bisherigen Lebens
auf der Straße verbracht, sie ist ein wesentliches Element seines Lebens. Der Verkehr, der Handel sind in unserer globalisierten
Welt überhaupt die Schlüsselelemente. Die Idee der ökonomischen Globalisierung ist ganz klar definiert: Dort, wo es gerade
am billigsten ist, wird produziert, dann wird verteilt, zwar nicht in der ganzen Welt, aber in ganz Europa. Wenn das die Idee
der Wirtschaft ist, dann muss auch ständig jemand auf der Straße unterwegs sein.
Wie haben Sie mit Martin Gschlacht die Locations ausgewählt, die Bilder erarbeitet?
Erwin Wagenhofer: Einen Teil der Motive kannte ich schon von meinen vorangegangen Arbeiten. In Marokko haben wir nur in Tanger
Aufnahmen gemacht, die kargen, trockenen, sandigen Landschaften haben wir sehr lange gesucht und in Spanien gefunden. Wir
begannen zu Weihnachten 2009 gemeinsam die Motive zu begehen und kannten sie vor Drehbeginn alle. Es war alles durchfotografiert,
das Drehbuch oft durchbesprochen, auch wie man Dinge innerhalb des Rahmens unserer beschränkten Mittel filmen kann. Ich wollte
sehr helle, klare Kinobilder, auf alle Fälle keine «Wir-tun-als-ob»-Bilder, sondern im Bereich des Möglichen agieren und nichts
vortäuschen. Wir hatten in Wien die Auflösung erarbeitet und sie nur dann über den Haufen geworfen, wenn vorort etwas besser
war. Die Zusammenarbeit mit Martin Gschlacht verlief wunderbar. Vielleicht zwei -oder dreimal hatten wir eine entgegengesetzte
Vorstellung vom Bild, ansonsten waren wir uns bis auf die Brennweiten der Optiken einig.
Der Cast war deutsch-, englisch- und spanischsprachig - wie hat sich die Suche nach den Schauspielern gestaltet.
Erwin Wagenhofer: Das Casting war innerhalb der gesamten Produktion ein großer Kostenfaktor uns sehr aufwändig. Fritz Karl
stand sehr schnell und sehr früh fest. Für diese Rolle gab es zwei Auflagen von mir: die eine war der LKW-Führerschein. Und
zwar genügte es nicht, die Prüfung zu bestehen, der Darsteller des Don Pedro musste sich auch ohne Angst fahren trauen. Beim
Dreh hieß das ja dieses Auto mit einer Kamera drauf und einem ganzen Team im Rücken zu fahren, d.h. er hatte wirklich Verantwortung.
Es wäre spürbar gewesen, wenn er sich am Lenkrad unsicher gefühlt hätte, wer da am Steuer saß, der musste diesen Wagen "ausfüllen".
Das hat wunderbar geklappt, Fritz Karl ist sehr gut gefahren. Der zweite Punkte war der, dass ich wusste, dass Fritz Karl
sehr viel fürs Fernsehen dreht und ständig unterwegs ist, noch dazu war er kurz vor Drehbeginn wieder Vater geworden. Ich
bestand darauf, dass er vom ersten bis zum letzten Drehtag dabei war und schlug ihm vor, die Familie zum Dreh zu holen. An
den 43 Drehtagen, die wir hatten, war er immer dabei. Die Geschichte ist auch zur Gänze aus der Perspektive seiner Figur erzählt.
Clare-Hope Ashitey für die Rolle der Jackie zu finden war schwieriger. Wir suchten zunächst in Afrika, weil mir sehr daran
gelegen wäre, dass sie von dort kommt. Es hätte nicht unbedingt eine professionelle Schauspielerin sein müssen. In Senegal
haben wir jemanden gefunden, das scheiterte aber schließlich daran, dass sie nicht Englisch sprach. Clare haben wir schließlich
in London gefunden und bin sehr glücklich mit ihr. Das Kind zu finden war auch nicht gerade einfach. Und für die spanischsprachigen
Schauspieler hatten wir eine Agentur in Madrid, die uns mit DVDs geradezu eingedeckt hat.
Erster Spielfilm bedeutete auch erstmals Arbeit mit den Schauspielern. Wie haben Sie sich mit den Schauspielern auf den Dreh
vorbereitet?
Erwin Wagenhofer: Mit Fritz Karl und Clare-Hope Ashitey habe ich lange im Vorfeld geprobt. Da Fritz schon sehr früh für die
Rolle feststand, gab es mit ihm einen sehr regen Austausch über die Rolle. Viele Proben haben in München stattgefunden, da
Fritz wegen des Geburtstermins in der Nähe sein sollte. Wotan Wilke Möhring habe ich in Berlin getroffen und ihm Der Afrikaner
von Le Clézio zum Lesen gegeben und gesagt "Das bist du." Er ist ein großartiger Schauspieler. Francesc Garrido, der
in Spanien sehr bekannt ist, habe ich in Madrid getroffen, mit ihm die Rolle besprochen und ihn gebeten, zwei Tage vor Drehbeginn
ans Set zu kommen, wo wir noch mit Fritz alles durchprobten. Meiner fehlenden Routine, die natürlich bei diesem ersten Spielfilm
gegeben war, bin ich den Schauspielern mit sehr viel Vertrauen meinerseits begegnet und ich versuchte, energetisch an die
Sache heranzugehen, was bei ihnen eine wahre Spiellust ausgelöst hat. Oft waren Martin Gschlacht und ich schon zufrieden und
sie wollten noch einen Take versuchen. Diese Arbeitslust blieb bis zum Schluss aufrecht und ich sah darin auch meinen Hauptjob,
alle zu motivieren. Probleme gab es eher in Bereichen, wo ich nicht damit gerechnet hatte, ich denke da an Eitelkeiten. Und
bei einem so langen Dreh kommt natürlich dazu, dass jeder mal, auch ich selbst, einen schlechten Tag hat. Wie kompensiert
man das und erhält die gute Stimmung? Das sind die Fragen, mit denen man sich am Set auseinandersetzen muss. Ich habe auf
alle Fälle unheimlich viel durch diesen Film gelernt.
Wenn Sie die beiden Erfahrungen Dokumentarfilm, wo sie oft nur im Zweierteam gearbeitet haben, und Spielfilm
nun einander gegenüberstellen, in welche Richtung würden Sie jetzt lieber in Ihrer filmischen Arbeit gehen?
Erwin Wagenhofer: In beide Richtungen. Das wollte ich mir mit diesem Film auch erarbeiten. Dank der Erfahrungen, die ich beim
Dreh zu Black Brown White gemacht habe, kann ich in einem nächsten Projekt ganz anders an die Dinge herangehen. Die Freiheit des Erzählens beim Spielfilm
ist eine Sache, die Freiheit des Arbeitens im Zweierteam ist natürlich eine andere. An Dinge wie das Ruhezeitengesetz musste
ich mich erst gewöhnen, ebenso daran, dass ich nicht einfach die Kamera einschalten konnte, weil gerade die Lichtbedingungen
optimal waren. Da muss von der Disposition her ein Drehtag eröffnet werden, was eine Reihe von produktionstechnischen Konsequenzen
hat. Da war ich oft perplex. Ich glaube aber auch, wenn ich jetzt ans nächste Mal denke, dass hier sehr viel durch Kommunikation
aus dem Weg zu räumen ist. Ich bin alles in allem ganz zufrieden, der Film hat, obwohl er kurz vor der Oscar-Verleihung gestartet
ist und obwohl er in Wien viel negative Presse bekommen hat, bis jetzt schon mehr als 20.000 Kinobesucher gemacht. Für mich
ist jetzt eine Periode abgeschlossen und es geht in die Richtung von etwas Neuem.
Wenn Sie sich nun in beide Richtungen im fiktiven wie im dokumentarischen Erzählen weiter arbeiten werden, wo
wird der thematische Schwerpunkt der nächsten Projekte liegen?
Erwin Wagenhofer: Dafür muss ich etwas ausholen. Wir leben in einer Endzeit, das sieht man an den großen Krisen, die wir haben
- Finanzkrise, Wertekrise, Arbeitsmarktkrise ? das hat mich jetzt jahrelang beschäftigt und ich such seit langem nach einer
Antwort. Meiner Meinung nach liegt die Antwort in unserer Schulung ? nicht nur im Sinne der schulischen Ausbildung, sondern
im Sinne, wie wir in unseren ersten Jahren an das Leben herangeführt werden: Sozialisierung durch das Elternhaus, Alphabetisierung.
Alphabet heißt auch mein neues Projekt, wo ich mir Gedanken mache, warum es zu diesen Verwerfungen in der Gesellschaft kommt,
ob es nun das Essen, das Geld, die Werte, die Beziehungen betrifft. Wir haben seit langem nicht mehr das Problem der Nahrungsbeschaffung
und werden noch immer nach so alten Lebensmodellen erzogen, nach dem Motto "Alles ist Not". Mit dem Schüren der Angst,
jemand könnte uns etwas wegnehmen, kommt auch die Gier. Wenn die Kinder mit dem Bewusstsein erzogen würden, dass etwas Besonderes
in ihnen steckt, das heraus soll und dass es wichtig ist, dass sie sich im Leben gut fühlen, dann hätten wir auch eine
andere Gesellschaft. Damit beschäftige ich mich schon sehr lange und möchte gerne meinen Beitrag leisten. Dann habe ich auch
noch zwei fiktionale Stoffe, für die ich mich in einem positiven Sinne neu orientieren will.
Interview: Karin Schiefer
März 2011