INTERVIEW

Sudabeh Mortezai über CHILDREN OF THE PROPHET

 

Ich war ursprünglich sehr stark am Ritual selbst interessiert, ich wollte ergründen, was für Einzelpersonen stehen hinter dem, was diese Masse ausmacht, was treibt sie an. Dass es auch ein Film über Jugend geworden ist, hat sich von alleine aufgedrängt.

 

Bevor man näher auf den Film eingeht, ist es vielleicht ganz gut, ein paar generelle Informationen vorauszuschicken. Können Sie kurz die Bedeutung von Hossein beschreiben. Ist er eher eine politische oder vielmehr eine religiöse Symbolfigur?

SUDABEH MORTEZAI: Für die Sunniten ist die Bedeutung Hosseins nicht so groß, dennoch ist er als Enkelsohn des Propheten und damit als außergewöhnlicher Mensch anerkannt. Für die Schiiten hingegen, die einen Heiligenkult haben, ist er  d e r  Heilige. Für sie hat er eine spirituell-religiöse Bedeutung, er ist aber im historischen Kontext sicherlich auch eine politische Figur. Lange stand der religiöse Aspekt im Vordergrund, im 20. Jh. wird er wieder sehr politisch interpretiert und verstanden, bei den religiös eingefärbten, linken Intellektuellen im Iran in den siebziger Jahren und er wurde auch später bei der Revolution im Iran 1979 als Symbolfigur verwendet. Im Volksglauben ist er aber eher eine religiöse Figur, ein Heilsbringer, an den man sich mit seinen Wünschen wendet.


Hat sich die Bedeutung des Ashura-Festes gewandelt?

SUDABEH MORTEZAI: Die Schiiten waren ja zunächst eine geheime Sekte innerhalb des Islam und als Häretiker verfolgt. Ab dem 16. Jh. wird der schiitische Islam die Staatsreligion im Iran und von da ab sind sie sehr stark geworden, ab da hat es angefangen, diese Festlichkeiten und Prozessionen in großem Rahmen zu veranstalten. Blütezeit war im Iran sicherlich im 19. Jh., dann wurde es schwächer und ist in den letzten zwanzig Jahren wieder sehr erstarkt. In meiner Kindheit in den siebziger Jahren war es viel simpler, weniger karnevalhaft und gleichzeitig irgendwie frommer. Jetzt ist es mehr ein Spektakel geworden, es erstreckt sich über zehn Tage, die sich im Mondkalender jedes Jahr verschieben. Der letzte der zehn Tage ist der Jahrestag der Schlacht von Kerbala, wo dann das große Fest stattfindet. An den ersten neun Tagen gibt es die Armenspeisungen, kleinere Prozessionen oder Trauerrunden in Moscheen oder zu Hause.


Welche Rolle spielt das Alam?

SUDABEH MORTEZAI: Über seine Symbolik gibt es Spekulationen, recht sicher ist, dass es sich im 16. Jh. aus der Kriegssymbolik aus den Fahnen- oder Standartenträgern entwickelt hat, dann immer elaborierter und größer geworden ist. Es gibt aber auch die Theorie, dass es aus christlicher Symbolik übernommen wurde, da es ein bisschen wie ein Kreuz aussieht, die Forschung ist da relativ bescheiden. Die meisten Trauervereine haben ein Alam und je größer und schwerer es ist, umso größer ist der Kraftakt und auch die Ehre, es tragen zu können.


Mit welcher Prämisse sind Sie an die Dreharbeiten herangegangen? Ging es eher um den religiösen Aspekt im aktuellen Kontext oder darum, etwas über die jungen Menschen im Iran zu erzählen?

SUDABEH MORTEZAI:  Ich war ursprünglich sehr stark am Ritual selbst interessiert, dieser Fokus hat sich im Laufe der Arbeit verschoben. Die Jugendbewegung im Iran halte ich für sehr spannend, sie stand aber ursprünglich überhaupt nicht im Vordergrund. Ich wollte mich mit dem Ritual beschäftigen und mit dem Umstand, dass einzelne Menschen zu einem Kollektiv wachsen. Individuen mit unterschiedlichen  Wünschen werden durch dieses Ritual für einen Moment lang plötzlich eins und haben ein gemeinsames Ziel. Das hat etwas Faszinierendes und auch etwas Bedrohliches. Ich wollte ergründen, was für Einzelpersonen stehen hinter dem, was diese Masse ausmacht, was treibt sie an. Dass es zu einem gewissen Grad auch ein Film über Jugend geworden ist, hat sich von alleine aufgedrängt. Die iranische Gesellschaft ist extrem jung, ich habe Statistiken gelesen, wonach ca. 75% unter 25 Jahren sind. Sie bestimmen das Straßenbild, sie haben ihre eigene Kultur und Bedürfnisse, zumal eine totalitäre Regierungsform an der Macht ist, die den Islam in einem politisch-ideologischen Sinn benützt, um Repressionen zu rechtfertigen. Da drängt sich die Frage einfach auf, wie gehen die Jugendlichen damit um, was bedeutet für diese Leute Religion und Tradition, wo sie ihr ganzes Leben unter diesem Regime aufgewachsen sind. Tatsächlich gelebte Religion zu zeigen wurde im Laufe der Arbeit ein wesentlicher Bestandteil. Für manche hat dieses Fest gar nichts Religiöses, für diese eher hipperen Jugendlichen ist es eine Möglichkeit, sich zu treffen oder auf der Straße etwas zu erleben, was sonst nicht vorkommen darf.


Der Einstieg in den Film und auch die Strukturierung ist eine eher unfilmische - ein statisches Bild und ein theatralisches Element mit einem Erzähler. Geht dies auf eine Erzähltradition zurück?

SUDABEH MORTEZAI: Das Konzept des Films ist sehr abstrakt. Es gibt so eine Unmenge an Information, um überhaupt zu verstehen, wer dieser Imam Hossein ist, ohne die man die Bedeutung dieses Fests nicht begreifen könnte. Diese Information muss vermittelt werden und das wollte ich im kulturellen Kontext verankern und keine Off-Stimme benutzen, das wäre mir zu langweilig gewesen. Dieses Erzählen – Pardekhani, das heißt Lesen von der Leinwand – ist eine ganz krude Vorform des Kinos – unfilmisch, weil statisch, aber so hat das Geschichtenerzählen vor Fernsehen und Kino in einer oralen Kultur funktioniert. Der Erzähler hat seine Leinwand, auf der die Ereignisse dargestellt sind ? die wichtigeren groß, die Randgeschehnisse klein – und er zeigt mit dem Stock auf das Bild, das nur ein Kürzel dafür ist, was dann animiert im Kopf entstehen soll. Um das ins Filmische überzuführen, haben wir uns der Stummfilm-Zwischentitel bedient, weil ich wollte, dass eine ironische Distanz entsteht. Ich wollte deutlich machen, dass es da um etwas geht, das auf historischen Tatsachen beruht, es aber bereits im Bereich der Legende spielt. Bei Stummfilmen ist es ja auch so, dass viel passiert und viel gesprochen wird, und dann ist im Zwischentitel alles auf einen Satz verkürzt. Das passiert bei einer kulturellen Übersetzung auch, es geht dabei viel verloren, aber es kommt eine bestimmte Essenz dabei raus, etwas Krudes und dabei wollte ich es auch lassen. Der Derwisch im Film lebt in der Nähe von Teheran und ist einer der wenigen hauptberuflichen Erzähler. Es ist natürlich eine aussterbende Kunstform, und wird eher als eine Art nostalgischer Zeitvertreib gesehen.


Wie haben Sie Ihre ProtagonistInnen gesucht und gefunden?

SUDABEH MORTEZAI: Es war klar, dass mein Konzept mit den Protagonisten steht und fällt. Wir haben Straßencastings gemacht, natürlich mit Bedacht, wo man sucht. Wir haben mehrere Tage in einer Straße verbracht, wo v.a. Devotionalien verkauft werden und sind so z.B. auf den Blumenhändler Milad gestoßen. Oft haben wir jemanden über Netzwerke von Bekannten gefunden. Ich wollte unbedingt ? da es ja so ein männliches Ritual ist ? eine Frau haben, umso mehr als es für Frauen auch sehr wichtig ist, auch wenn sie weniger in der Öffentlichkeit präsent sind. Die Frauen bringen einen ganz anderen Blickwinkel und Humor hinein, auch eine Kritikfähigkeit, die nicht einmal die modernen Jungs an den Tag legen können. Ursprünglich hatte ich an eine viel religiösere, konservative Frauenfigur gedacht, die ganz schwarz verschleiert ist. Es wäre interessant gewesen, in ihre Glaubenswelt einzudringen. Ich hatte eine Kandidatin, habe aber in den Vorbereitungen gemerkt, sie würde sich nicht so öffnen, wie ich das für den Film brauchen würde.


Wie sah es überhaupt mit der Bereitschaft aus, vor der Kamera zu plaudern?

SUDABEH MORTEZAI:  Das Paradoxe an der Situation ist, dass die Leute eigentlich sehr offen und überhaupt nicht kamerascheu sind. Mit unserem Wunsch zu filmen, haben wir fast überall offene Türen eingerannt. Die Leute haben auch ein Bedürfnis zu zeigen, so sind wir und nicht so, wie die Regierung uns darstellt. Die Schleierfrage habe ich völlig offen gelassen, aber die Frauen wollten ohne Schleier vor die Kamera treten, natürlich nur in den eigenen Wänden, auf der Straße wäre das völlig unmöglich. Als Frau dort einen Film zu machen, war in manchen Situation schwierig, insgesamt betrachtet aber eher von Vorteil. Ich hatte sowohl einen Kameramann als auch eine Kamerafrau. Mit der Kamerafrau haben wir alle Szenen mit den Frauen gefilmt, ansonsten hatte ich einen Kameramann. Bei den Männern hat es teilweise die Sache sogar erleichtert, eine Frau zu sein, sie haben, glaube ich, viel Intimeres zugelassen. Die Moschee ist ein interessantes Beispiel, wo ich in einem männlichen Kontext gearbeitet habe. Überraschenderweise waren diese Männer sehr offen und großzügig und erlaubten vieles. Bei der Prozession, wo sie singend durch den Bazar ziehen, ist der Bazar für Frauen gesperrt. Wir hatten zwar Genehmigungen, aber man wollte gleichzeitig nicht zulassen, dass eine Frau präsent ist. Wir kämpften und haben es dann auch durchgesetzt, dass ich dabei sein durfte, die Leute der Moschee haben uns sehr unterstützt. Ich war dann die einzige Frau in einer Menge von Tausenden von Männern in einer sehr aufgeladenen Energie. Die Trauernden selbst haben sich nicht daran gestoßen, die waren in ihrer eigenen Welt, aber es gab Zuschauer, die sich aufregten. Dann musste immer jemand vom Filmteam intervenieren und erklären. Im Iran ist zwar alles verboten, es ist aber auch immer möglich, alles zu umgehen.


Es entsteht der Eindruck, dass Frauen einen anderen Umgang mit diesem Trauerfest haben als Männer, die sich offensichtlich viel stärker auf die Trauer einlassen, die Frauen wirken lebensfroher.

SUDABEH MORTEZAI: Aus der Trauer Energie schöpfen ist etwas, das sehr stark in der iranischen Kultur verankert ist. Es hat nicht nur mit dem Islam zu tun, es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass sich so richtig auszuweinen als kathartisches, sehr therapeutisches Element betrachtet wird. Das machen Männer wie Frauen sehr gerne, egal ob sie religiös sind oder nicht, es gilt als ebenso heilbringend wie richtig herzlich lachen. Im Film kommt dazu, dass die Frauen aus einer anderen Gesellschaftsschicht kommen als die Männer in der Moschee. Dadurch haben sie schon eine andere Haltung zum ganzen Ritual. Gleichzeitig entspricht es schon meiner Wahrnehmung, dass die Frauen im Iran diejenigen sind, die eine andere, verändernde und subversive Energie haben. Insofern spiegelt das etwas Richtiges wider.


Wie ernst ist diesen jungen Männern mit der Religion. Wieviel echte Religiosität steckt im Vorbereiten und Feiern dieses Festes drinnen? Hat es nicht auch viel mit Initiation zu tun?

SUDABEH MORTEZAI: Deshalb beschreibt der Film auch die verschiedenen Typen in ihren Nuancen. Es gibt jene, für die es hauptsächlich, aber nicht nur etwas Religiöses ist wie für die Mitglieder der Trauervereine in der Moschee. Es geht auch um das Gemeinschaftsgefühl in der Männerrunde bis hin zu diesen hippen Jugendlichen, für die es gar nichts Religiöses hat, das interessiert die gar nicht. Dazwischen ist z.B. Milad, der das Alam trägt, er ist so eine Mischung, ein Teil ist Religion und Tradition, zu einem großen Teil geht es aber auch darum, gesellschaftliche Akzeptanz, zu zeigen - ich bin so stark, dass ich das Alam tragen kann, wenn auch nur fünf Schritte. Bei den „hippen Jugendlichen“ geht es nur noch darum, ein Straßenfest zu feiern. Der Mohseni-Platz ist seit mehreren Jahren zum Epizentrum der Jugendszene geworden, wo sich Tausende Jugendliche getroffen haben, um ganz spontan ein Straßenfest zu feiern und so die Geschlechtertrennung zu umgehen. Die Trennung durch die Polizei, die man im Film sieht, das passierte zum ersten Mal. Es war den Autoritäten ein Dorn im Augen und nur eine Frage der Zeit, wann sie da einen Riegel vorschieben würden. Schicksal, dass es gerade passierte, als wir drehten. Wir haben in dokumentarischer Weise das Beste daraus gemacht, es ist vielleicht so viel spannender, weil es noch mehr den Kontext abgesteckt, in dem sie agieren. Es ist typisch für die iranische Gesellschaft, dass im öffentlichen Raum diese Strenge herrscht und im privaten passiert oft genau das Gegenteil. Dort werden Partys gefeiert, dort gibt es Alkohol, es wird getanzt, die neueste Mode ausgetragen. Der Staat kann auf der Straße bis zu einem gewissen Grad kontrollieren, aber nicht in jeder privaten Wohnung. Kurz nach der Revolution gab es Razzien, bei Leuten zu Hause, das wird schon länger nicht gemacht, inzwischen versteht die Regierung auch, dass die Leute ein Ventil brauchen.

 

Die religiösen Plakate im öffentlichen Raum sind etwas sehr Markantes und Ungewohntes für ein westliches Auge.

SUDABEH MORTEZAI:  Theoretisch gibt es im Islam ja ein Bilderverbot. Das gilt für den sunnitischen Islam. Der schiitische Islam ist wiederum sehr bilderfreundlich, die Tradition der Heiligenbilder gibt es schon sehr lange, es ist aber in den letzten Jahren etwas ausgeartet. Es ist ein umstrittenes Thema, auch unter Geistlichen gibt es eine Debatte, viele wettern dagegen, Verbote lassen sich aber nicht durchsetzen. Und es ist ein interessantes Phänomen, jedes Jahr kommen neue Moden auf, z.B. ändern sich die Bärte. Es ist interessant, wie sich der Geschmack, der Zeitgeist oder die aktuelle Mode darin spiegeln. Die Pop-Kultur fließt auch bei den Klageliedern ein. Es werden oft Melodien von Pop-Songs aufgenommen, sei es international oder iranische Pop-Gruppen, die in Los Angeles arbeiten, irgendwann wird Imam Hossein in den Text eingebaut und schon ist es ein Klagelied. Es ist auch im Film eine Trauerzeremonie aus einem Zelt mit Techno-Musik zu hören. Das gleiche geschieht mit den Heiligenbildern, sie haben ein Eigenleben angenommen, das von den Geistlichen sehr misstrauisch beäugt wird. Es ist aber gleichzeitig eine Kultur, die von diesem System gezüchtet wurde.


Woher kommt der karitative Aspekt des Ashura-Festes in Form der Speisung?

SUDABEH MORTEZAI:  Das ist eine sehr alte Tradition, die auch außerhalb des Rituals existiert. Im Iran ist es durchaus üblich, dass man sofort, wenn man einen Krankheitsfall in der Familie hat, ein Gelübde ablegt, und verspricht so und so viele Essen auszugeben, wenn nur die Person wieder gesund wird. Das ist übers ganze Land verteilt und geht vielleicht auf einen Glauben oder Aberglauben zurück, dass einem durch einen Akt der Großzügigkeit etwas gegeben wird. Es gibt ein traditionelles Gericht, das im Film von den Frauen zubereitet wird: Khoreshteh Gheymeh - das ist Lamm- oder Rindfleisch mit gelben Spalterbsen, Tomaten, getrocknete Limetten, dann wird es noch besonders gut gewürzt und wird dann mit Reis und Pommes frites serviert. Es muss aber nicht dieses eine Gericht sein. Ursprünglich war die Speisung nur für die Armen, es wächst aber manchmal zu einem sozialen Event, bis dahin, dass man die reichen Nachbarn beschenkt, die es gar nicht nötig haben. Das Interessante ist, selbst Leute, die überhaupt nicht religiös sind und nichts mit diesen Ritualen zu tun haben, dieses Essen schätzen. Es geht ums Teilen und viele Leute glauben, dieses Mahl zu essen bringt Segen und schmeckt außerdem besser.


Wie sieht Ihr persönlicher Bezug zum Iran aus?

SUDABEH MORTEZAI: Ich bin bis zwölf im Iran in einer säkularen Familie aufgewachsen und kenne diese Rituale nur als Beobachterin. Als ich zwölf war, ist meine Familie nach Österreich emigriert und seit ich erwachsen bin, reise ich immer wieder in den Iran. Ich fühle mich wirklich als Teil beider Kulturen. Ich bin in eine persische Volksschule und dann in ein zweisprachiges Gymnasium gegangen. Das Filmprojekt hat für mich jetzt kein Zurück an die Wurzeln bedeutet, sie sind es nicht mehr. Ich kenne sehr viel, vieles ist mir nah und anderes wieder ganz fremd. Es ist eine interessante Beziehung, ich bin da und dort Inländerin wie Ausländerin, das kann man drehen, wie man will. Es ist mehr eine Entdeckungsreise in das Land, wo einmal meine Wurzeln waren, es hat sich sehr viel verändert. Die junge Generation ist so einen Quantensprung davon entfernt, was meine Kindheit ausmachte. Für mich ist eine Reise dorthin eine Neuentdeckung.

 


Interview: Karin Schiefer
2007