Am 21. März 2000 begann in Wien ein Prozess gegen den 85-jährigen Psychiater und Gerichtsgutachter Heinrich Gross. Die Anklage
wirft Gross, der während des nationalsozialistischen Regimes an der Wiener Anstalt am Spiegelgrund tätig war, die Beteiligung
an Tötung und wissenschaftlichem Missbrauch von internierten Kindern und Jugendlichen vor. Nach einer Stunde wurde der Prozess
vertagt, der Angeklagte gilt seither als verhandlungsunfähig. März 2000 war nicht das erste Mal, dass Gross vor Gericht stand.
Seine Verurteilung zu Beginn der fünfziger Jahre wurde aus formalen Gründen aufgehoben. Rund 30 Jahre später zitierte er einen
Kollegen wegen übler Nachrede vor Gericht, da dieser die oben genannten Vorwürfe gegen ihn erhob. Das Medienecho war enorm
im Frühjahr letzten Jahres, als der Prozess vertagt wurde und Angelika Schusters und Tristan Sindelgrubers Dokumentation Spiegelgrund
im Kino startete. "Erstaunlich", so Angelika Schuster, "dass der Gross-Prozess und unser Film solchen Staub aufwirbelten,
denn eigentlich ist der Fall Spiegelgrund schon lange bekannt und in den Medien präsent. Alle fünf Jahre wird aber so getan,
als sei es etwas Neues. Für mich ist der Fall Spiegelgrund ein Paradebeispiel für den Umgang mit Betroffenen nach 1945."
Moralische Wiedergutmachung
Dass dieses Thema mit derselben Regelmäßigkeit in den Medien auftaucht, mit der es wieder verschwindet, war ein Grund für
Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber den Umständen tiefer auf den Grund zu gehen. Aus der kurzfristig ausgereizten Affäre
Gross sollte endlich eine Debatte Spiegelgrund werden. Darüberhinaus wollten die beiden Regisseure den bis heute nur in Einzelfällen
als Opfer des Nationalsozialismus anerkannten Betroffenen Gelegenheit bieten, die Geschichte ihrer Jugend, aber auch von ihrem
zähen Ringen auch um moralische Wiedergutmachung zu erzählen. "Unser Konzept", so Sindelgruber, "sah einen historischen Längsschnitt
vor, der die Geschichte der Personen von Anfang der vierziger Jahre bis in die Gegenwart aufrollt". Schuster wie Sindelgruber
näherten sich dem Thema zunächst von einem didaktischen Ansatz her. Beide, Sindelgruber als Lehrer für Geschichte, Schuster
als Streetworkerin in Wiener Gemeindebauten, arbeiteten mit Jugendlichen, die an der jüngeren Geschichte interessiert waren,
jedoch niemanden hatten, der bereit war, mit ihnen darüber zu sprechen. "Ich stellte die Frage", so Sindelgruber, "wie kann
ich 14-/15-Jährige noch mit Zeitgeschichte konfrontieren, wo es kaum noch ZeitzeugInnen in den Familien gibt. Film erschien
mir spannend, um einen Einstieg für Jugendliche ins Thema zu finden. Was mich dabei besonders interessierte, war die Frage
"was geschah mit Jugendlichen, die nicht systemkonform waren?"
Wettlauf mit der Zeit
Auf den Spiegelgrund kamen Kinder und Jugendliche, die aus Sicht der Verantwortlichen als nicht der "Volksgemeinschaft zugehörig"
eingestuft wurden. Sie gelangten entweder in das Erziehungsheim mit der vagen Aussicht zu reintegieren oder wurden in den
Pavillons 15 und 17 der Heil- und Pflegeanstalt für medizinische Forschungszwecke missbraucht und durch Hungern und der Verabreichung
von Luminal, einem den Organismus schwächenden Medikament, getötet. Einer der überlebenden Zeitzeugen ist Alois Kaufmann,
der mit neun Jahren, als schwer erziehbar eingestuft, auf dem Spiegelgrund landete und von der Panik und Verzweiflung mit
der er um seine Existenz bangte, erzählt. Heute, beinahe 60 Jahre danach, ist sein Alltag immer noch von früh bis spät vom
Trauma Spiegelgrund bestimmt. Antje Kosemund ist Angehörige einer der 228 Hamburger Frauen und Mädchen, die aus dem zerbombten
Hamburg nach Wien deportiert wurden. Sie kämpfte jahrelang um die Freigabe der sterblichen Überreste ihrer Schwester und weiterer
Hamburger Insassinnen. Einem Betreiben, dem zuletzt zumindest zum Teil stattgegeben wurde. Die Aussagen der drei direkt oder
indirekt Betroffenen - der dritte, Wilhelm Roggenthien, hatte sich freiwillig auf den Spiegelgrund begeben, um seine
Hamburger Freundin zu retten - sind ergänzt durch Expertenstatements aus psychoanalytischer und historischer Sicht. "Wir
wollten," so Sindelgruber, "die Betroffenen davon entlasten, Faktenwissen mitzuteilen. Es sollte aber keinesfalls so sein,
dass erst die Experten die Aussagen der Protagonisten legitimieren. Denn davon ist ja seit 1945 ihr Leidensweg gekennzeichnet,
dass sie ihr Schicksal erst noch beweisen müssen". Ob die Überlebenden vom Spiegelgrund Anspruch auf eine Opferrente haben
oder nicht, wird bis heute am Einzelfall entschieden, denn alle zählen sie zur diffusen Gruppe der "Asozialen", die einst
von Ärzten, Fürsorgern, Hebammen oder Lehreren vom Schreibtisch aus gemeldet und einem möglicherweise tödlichen Schicksal
ausgeliefert wurden. So liefert die Dokumentation neben erschütternden Erinnerungen auch ein Bild vom inkonsequenten Umgang
mit der Vergangenheit und kriminellem Mitläufertum. Spiegelgrund ist ein unbequemes Stück Zeitgeschichte, das vor Augen führt,
was selbst 60 Jahre später an Wiedergutmachung verabsäumt wird. Er wirft Fragen auf, wo mit lauen Kompromissen versucht wird,
sich aus der historischen Verantwortung zu flüchten und weist vor allem auf den Wettlauf mit der knappen Zeit hin, die zur
Verfügung steht, um die noch lebenden Opfer Zeugnis von der Unmenschlichkeit, die ihnen bis heute widerfahren ist, ablegen
zu lassen, ehe ihr Schicksal dem Vergessen preisgegeben ist.
Spiegelgrund
Eine Produktion der Schnittpunkt Film
Regie und buch: Angelika Schuster, Tristan Sindelgruber
71 min., Beta SP, Stereo
Karin Schiefer
2001