«Wenn man jung ist, sind Ideale die Triebfeder. Das ist gut und wichtig, sonst treibt einem das Leben nicht voran. Wenn man
in der Mitte des Lebens steht, dann ist es auch oft Zeit, sich von den Idealen zu verabschieden, weil man sonst den Rest des
Lebens nicht mehr gehen kann. Das trifft in diesem Film sehr stark aufeinander.»
Was stand nach Vollgas für die Entwicklung eines neuen Kinostoffes im Vordergrund?
SABINE DERFLINGER: Es stand von Beginn an für mich fest, dass die Geschichte in einem geschlossenen Raum, in einem Haus am Meer spielen sollte.
Es sollte sich in einem begrenzten Zeitraum etwas auftun, das das gesamte Leben der Protagonisten betrifft. Und ich wollte
einen starken Schauspielerfilm machen. Ich wollte einen Film machen, der viel stärker ein Ensemblefilm ist als Vollgas. Die
Frau sollte aber trotzdem die Hauptfigur bleiben, auch wenn es Nebenstrukturen gibt. Es bleibt es ihre Geschichte und das
galt es auch strukturell zu entwickeln.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Mogens Rukov?
SABINE DERFLINGER: Er hatte Vollgas gesehen, ihm gefiel der Film, ich erzählte ihm. Wir wurden einander vorgestellt und ich erzählte von meinem
Projekt. Manche Szenen hat er geschrieben, andere sind von mir und manche haben wir gemeinsam geschrieben. Grundsätzlich war
es so, dass ich geschrieben habe und er mir Feedback gab. Es war eine tolle Zusammenarbeit.
Wie sah die Grundstruktur der Geschichte aus?
SABINE DERFLINGER: Es war sehr schnell klar, dass es um Momente im Leben geht, wo man zurückschauen muss, um zu erkennen, dass man voranschreiten
muss. Es spielen auch Fassaden und Lebenslügen eine wesentliche Rolle, aber vor allem geht es darum, dass Menschen einander
nicht sagen, was sie meinen, nicht wirklich miteinander kommuniziere. Wir wollten einen Film machen, wo es keine großen Dramen
gibt. Die Frage war, ist es möglich eine Geschichte zu erzählen über jetzige Menschen, die Spannung zu erhalten und zum Kern
dessen vorzudringen, was Menschen beschäftigt, die nicht in finanziellen Nöten sind. In Vollgas oder Schnelles Geld geht es um Figuren, wo die existentiellen Sorgen immer finanzieller Natur sind. Die Frage war, was fehlt, wenn es nicht am
Geld fehlt. Es fehlt ja immer etwas.
Es ist eher selten, dass ein österreichischer Kinofilm im gutbürgerlichen Milieu spielt.
SABINE DERFLINGER:Es hat sich auch bei der Finanzierung als sehr schwierig erwiesen, als klar war, dass der Film in einem bürgerlichen Milieu
spielt. Das war vor fünf Jahren. Jetzt wäre man vielleicht froh über einen Film in diesem Milieu. Die Projektentwicklung hat
lange gedauert, es war schwierig, mir einen Film zuzugestehen, in dem keine sozialen Katastrophen passieren. Es stellt sich
die Frage, welche Art von Filmen gesteht man einer Frau zu. Nur engagierte, politische Filme mit einem „wichtigen“ Thema?
Es ist eine Frage der künstlerischen Selbstdefinition – brauche ich immer ein Thema, das arg, grauenvoll und wichtig ist,
damit ich einen Film machen darf. Oder darf ich einfach einen Film machen, der interessante Charaktere hat, der unterhaltsam,
spannend, aufregend und vielleicht streitbar ist.
Der Film ist sehr hochkarätig besetzt, wie verlief die Suche nach den Darstellern?
SABINE DERFLINGER: Die vier erwachsenen Protagonisten habe ich natürlich nicht gecastet. Es war sehr zeitintensiv zu überlegen, wer die vier
Figuren sind und ich habe viele Schauspieler getroffen, um zu wissen, wen ich schließlich nehmen werde. Das Arbeiten war mit
allen toll, natürlich ganz besonders mit den vier Hauptfiguren. Ich habe mich mit den Schauspielern einzeln auf die Rollen
vorbereitet, die Schauspieler haben sich auch alleine vorbereitet, dann sind wir auch gemeinsam etwas früher angereist und
haben an den Rollen gearbeitet. Die Hauptarbeit lag sicher in den Einzeltreffen mit mir. Ich mache das immer so, ich bespreche
mit einem Dinge, die andere vielleicht gar nicht wissen. Es geht darum, die Figur wachsen zu lassen, es gibt auch unterschiedliche
Anforderungen an die Schauspieler, wie sie sich auseinandersetzen, wie sie recherchieren, ob sie sich Vorbilder suchen.
Wie fiel die Wahl auf die beiden jungen Hauptdarsteller?
SABINE DERFLINGER: Die Suche nach der Darstellerin der Tochter hat sehr lange gedauert. Wir haben sowohl in Deutschland wie auch in Österreich
viele Mädchen gecastet. Vanessa Krüger hatte zuvor in Frankreich einen Kinofilm gemacht, ihre Agentin hat mir das Casting
dafür vorgespielt und ich war sicher, sie ist es. Da brauchte ich nicht nachzudenken. Sie hat das Zeug zu einem Star. Sie
ist aufgeweckt und gleichzeitig zerbrechlich, sie sieht gut aus und ist auch sehr widersprüchlich. Den Jungen habe ich auch
lange in Deutschland wie in Österreich gesucht. Jacob Matschenz sagte lange, er könne das nicht spielen, das sei nicht er
und wir würden ihn sicherlich falsch einschätzen. Das Casting hat er aber ganz toll absolviert, es bedurfte einer Menge Überredungskunst,
ihn dazu zu bringen, diese Rolle zu spielen.
Die Tochter spielt keine unerhebliche Rolle, Sie haben selbst eine erwachsene Tochter. War das Erwachsenwerden eines jungen
Menschen etwas, das Sie beschäftigt hat und das Sie auch in einem Film verarbeiten wollten.
SABINE DERFLINGER: Klar. Wenn man Mutter einer Tochter ist, dann ist es natürlich interessant, in dem Moment, wo die Kinder erwachsen sind,
festzuhalten, wo man selber steht und was es für einem selber bedeutet. Die Klarheit, dass man vieles im Leben nachholen kann,
dass man aber das, was junge Menschen erleben, in der Form später niemals nachholen kann, war eine klare Erkenntnis, die ich
nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Müttern erlebt habe. Die Frage der Konkurrenz taucht irgendwann auf. Es gibt auch
die Schwierigkeit, die Töchter mit Müttern immer haben, dass sie ihren Müttern eine eigene Sexualität zugestehen. Die Mutter
soll für die Tochter immer die Mutter bleiben und natürlich stellt sich in dem Moment, wo die Tochter selber erwachsen wird,
die Frage, in welche Bahn geht dieses Verhältnis, das einerseits die Mutter-Tochter-Beziehung bleibt und das gleichzeitig
zwei ebenbürtige Frauen einander gegenüberstehen lässt. Es stellt sich auch die Frage, was kann ich an eigenen Erfahrungen
weitergeben? Das ist natürlich minimal, jeder wird seine eigenen machen, man kann sie niemandem vermitteln.
In 42 plus geht es auch um enttäuschte Ideale?
SABINE DERFLINGER: Wenn man jung ist, sind Ideale die Triebfeder. Das ist gut und wichtig, sonst treibt einem das Leben nicht voran. Wenn man
in der Mitte des Lebens steht, dann ist es auch oft Zeit, sich von den Idealen zu verabschieden, weil man sonst den Rest des
Lebens nicht mehr gehen kann. Das trifft in diesem Film sehr stark aufeinander. Deshalb hat auch jede Generation recht, weil
die Jugend das Recht auf ihr Ideal hat, aber ich glaube, wenn man sich im Leben nicht von gewissen Idealen verabschiedet,
wird man schwer alt werden können. Der Verlust der Jugend und der Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt hat viel damit zu
tun, dass man Ideale aufgeben muss.
Nach Vollgas haben Sie auch fürs Fernsehen gearbeitet, wie sehen Sie dieses Arbeiten in verschiedenen Bereichen?
SABINE DERFLINGER: Nach Vollgas habe ich den Fernsehfilm Kleine Schwester gedreht, dann Schnelles Geld und dann eine 30-Minuten-Dokumentation für 3-Sat in Indien, über einen Jungen in Dehli, der
Mitglied einer Kinderbank ist, das ist ein betreutes Projekt. Er wurde für eine Serie Kinder im fremden Land porträtiert. Die Projekte waren sehr verschiedenartig, man taucht in Realitäten, dann wieder in Geschichten ein, man bewegt
sich in unterschiedlichsten Milieus. Das hat immer mein Leben ausgezeichnet, dass ich mich auf der Straße und dann wieder
in 5-Stern-Hotels bewege und nirgendwo dazugehöre und alles doch irgendwie zu meinem Leben gehört.
Würden Sie gerne wo dazugehören?
SABINE DERFLINGER: Nein, ich glaube nicht. Fernsehen ist auch ein Format. Kinofilme brauchen lange, es ist ganz schwierig, den Atem zu haben,
dass man das durchhält. Ich möchte lieber einen Kinofilm so lange vorbereiten können, dass er richtig funktioniert als ihn
irgendwann drehen zu müssen, weil es nicht mehr anders geht. Wenn ich einen Kinofilm nach dem anderen machen kann, ist es
natürlich ok, aber Fernsehen ist durchaus ein Format, wo man anspruchsvolle Sachen drehen kann. Ich glaube, dass die Grenze
sehr fließend ist. Es ist immer eine Frage der Produktionsbedingungen und eine Frage der Stoffe.
Wohin geht es beim nächsten Projekt?
SABINE DERFLINGER:Es wird eine männliche Hauptfigur geben. Es ist die Geschichte eines Musikers, wo es um die Frage der Selbstverwirklichung
geht. Wie weit darf man gehen und die anderen im Hintergrund lassen, um etwas zu erreichen. Ich werde nur Regie machen, es
ist für mich der zweite „fremde“ Stoff nach Kleine Schwester. Es ist eine sehr lyrische Geschichte, die sich auf verschiedensten Zeitebenen bewegt, ausschließlich visuell, wenig Worte,
in allem das Gegenteil von 42 plus. Dann habe ich noch ein anderes Projekt in Wien, wo ich an der Drehbuchentwicklung arbeite – Die Namensvetterin –, ein Projekt, das von der Prisma-Film entwickelt wird, da steht eine Frau im Mittelpunkt, und auch Sexualität, aber im
Gegenteil zu 42 plus geht es da weniger um Worte als um Bilder zur Sexualität. Es gibt dazu eine gleichnamige Romanvorlage von Sabine Neuber, da
schreibe ich mit der Autorin an einer Drehbuchfassung.
Sie leben seit einiger Zeit in Berlin?
SABINE DERFLINGER: Ich hoffe, dass sich dadurch mein Aktionsradius erweitert, was nicht heißt, dass ich nicht auch in Österreich arbeite. Ich
genieße es, in einer neuen Stadt zu leben, wo ich ein unbeschriebenes Blatt bin. Berlin ist sehr viel anstrengender als Wien,
nicht so schön, aber schneller und ich fühle mich im Moment irgendwie freier.
Interview: Karin Schiefer
2007