INTERVIEW

Sabine Derflinger im Gespräch über VOLLGAS

 

«Für mich ist diese Saisonarbeit im Hotel stellvertretend für sehr viele andere Arbeiten. Wenn man möglichst viel von sich selber hergeben muss, dann hat man relativ wenig Freiraum für sich selber und in diesem Freiraum hat man das Bedürfnis, alles zu spüren, was man vielleicht sonst nicht spürt.» Sabine Derflinger über Vollgas, ihren ersten Spielfilm, der im Wettbewerb von Saarbrücken seine internationale Premiere hat.

 

Abgesehen von den ersten beiden Kurzfilmen haben Sie bisher im Dokumentarfilm gearbeitet. Was hat Sie bewogen, in den Spielfilm zu wechseln?

SABINE DERFLINGER: Ich hab Drehbuch studiert, hab immer Bücher geschrieben und wollte auch immer Spielfilme machen. Es reizen mich sowohl der Dokumentarfilm als auch der Spielfilm, v.a. das grenzüberschreitende Arbeiten: im Dokumentarfilm Spielfilmstrukturen zu verwenden, und beim Spielfilm wiederum, aus dem Dokumentarischen zu schöpfen, sei es in der Recherche, sei es die Inszenierung an Originalschauplätzen. Jedes hat seine schönen Seiten. Der Dokumentarfilm ist interessant, weil man auf den Moment reagiert, weil man sich jedes Mal in eine ganz neue Welt einlässt, weil man zum großen Teil sehr intensiv arbeiten kann. Das kann man natürlich beim Spielfilm auch. Diese Grenzziehung ist relativ schwierig. Was mir am Spielfilm besonders gefällt, ist die Auseinandersetzung mit den Schauspielern. Die ersten beiden Dokumentarfilme haben einen starken sozialen Hintergrund. In Vollgas geht es um die Geschichte einer jungen Frau, es beinhaltet aber auch eine Milieuschilderung von den Auswüchsen des Tourismus. Für mich ist der Film eher ein Heimatfilm. Es ist ein Heimatfilm der anderen Art. Ich kenne keinen anderen Spielfilm, der in einem Wintersportort spielt, sich auf diese Art und Weise mit dem Milieu dort auseinander setzt und gleichzeitig eine Hauptdarstellerin hat, die den Film über seine ganze Länge bestimmt.

 

Warum fiel die Wahl auf den Wintertourismus?

SABINE DERFLINGER:  Es stand schon die Geschichte dieser jungen Frau im Vordergrund. Das Milieu hat sich angeboten, weil die Fun-Gesellschaft dort in einem sehr verdichteten Maß stattfindet und dazu ist ein Urlaubsort ein Ort, wo Menschen sich ohne Geschichte präsentieren und in gewisser Weise wurzellos sind. Es ist ein Ort, wo Leute versuchen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel möglichst intensiv zu erleben. Und es ist ein Ort, wo Österreich verkauft wird. Es ist alles konzentriert an diesem Ort. Freizeitmilieus interessieren mich überhaupt.

 

Ging es auch darum, eine gewisse Sozialkritik anzubringen?

SABINE DERFLINGER: Ich glaube, das ist die eigene Haltung. Ich bin nicht mit der Absicht angetreten, einen sozialkritischen Film zu machen, aber ich glaube, die Haltung, die man tatsächlich hat, die lässt sich in einem Film nicht verbergen.

 

Wie hat die Recherche ausgesehen?

SABINE DERFLINGER: Ich bin zur Zeit der Schisaison dorthin gefahren und versuchte, Leute kennen zu lernen, ohne zu erzählen, dass ich gerade einen Film mache. Ich sprach mit Leuten, die dort arbeiten. Es war erstaunlich, das Buch war in seiner Rohform schon fertig und ich hab die Figuren, die ich geschrieben hatte, wieder gefunden. Sie hatten sogar ähnliche Namen.

 

Gedreht haben Sie tatsächlich mitten in der Schisaison. Wie hat sich das gestaltet?

SABINE DERFLINGER: Es war für alle sehr anstrengend, an so einem Ort zu leben. Es ist schön, an einem Schiort zu sein, wenn man Schi fahren kann. Aber es ist sehr schwierig, wenn man, ähnlich den Personen, die dort wirklich arbeiten, immer um das Hotel dreht, die Zeit im Hotel verbringt und die Schönheit der Landschaft nicht erlebt. Wir drehten ja im Winter, es brach eine große Grippewelle aus, alle wurden krank und wir mussten unterbrechen, abbrechen je nachdem, wer gerade krank oder nicht krank war. Reine Drehzeit waren insgesamt sechs Wochen, eine davon war in Wien, fünf Wochen in Tirol. Das Drehen war auch insofern schwierig, als man in einem laufenden Hotelbetrieb nur zu gewissen Uhrzeiten drehen kann, auch wenn das Hotel sehr entgegenkommend war.

 

Dann haben die Innenaufnahmen also dokumentarischen Charakter?

SABINE DERFLINGER:  Natürlich. Wir hätten die Innenaufnahmen auch außerhalb der Saison drehen können. Nur hätte ich dann das Gefühl gehabt, das Surrounding nicht erzeugen zu können. Es ist ja so, wenn es z.B. Küchenszenen gibt, dann kochen die Angestellten ganz normal ihr Mittagessen, laufen durchs Bild und wir drehen gleichzeitig unsere Szenen. Wenn es eine Frühstücksszene gibt und davor wurde tatsächlich gefrühstückt und dann bleiben die Reste da und wir arbeiteten damit. Es wäre sonst unfinanzierbar gewesen. Wir hatten zwar Komparsen, baten aber auch Hotelgäste und Einheimische mitzumachen. Ein großer Teil der Après-Ski Szenen waren Leute, die wir auf der Schipiste angesprochen haben.

 

Sollte die Sprache nicht auch eher eine lokale Färbung haben?

SABINE DERFLINGER: Ursprünglich dachte ich schon daran, die Rolle mit einer österreichischen Frau zu besetzen. Nur sagte ich mir dann, ich besetze es mit der Frau, die gut passt. Es ist in der Tat so, dass in den Wintersportorten Leute von überall her arbeiten. In Galtür gab es ein Hotel, wo ausschließlich Deutsche arbeiteten. Insofern, als die Hauptfigur das Geheimnis über ihre Wurzeln bewahrt, finde ich das völlig in Ordnung.

 

Die Rolle der Evi ist eine sehr starke und intensive Frauenrolle.

SABINE DERFLINGER: Es war mir ein großes Anliegen, von einer Frau zu erzählen, die kein Opfer ist, sondern die stark ist. Eine Frau, die vielleicht bei manchen auf Missfallen stösst, die Leute polarisiert und die auch Anlass gibt, die Frauenrolle zu diskutieren. Das war mir ganz wichtig. Ich hab mich auch bemüht, nicht nur die Hauptfigur, sondern auch ihre Freundinnen als starke Frauen darzustellen. Vollgas geben bedeutet auch eine ständige Suche nach dem Limit, Evi ist eine Grenzgängerin und Grenzüberschreiterin. Das ist ein Thema, das ich spannend finde. Für Leute wie diese Saisonarbeiter gelten die Regeln der "normalen" Arbeitswelt nicht. Das hat immer mit grenzüberschreitenden Dingen zu tun. Für mich ist diese Saisonarbeit im Hotel stellvertretend für sehr viele andere Arbeiten. Wenn man möglichst viel von sich selber hergeben muss, dann hat man relativ wenig Freiraum für sich selber und in diesem Freiraum hat man das Bedürfnis, alles zu spüren, was man vielleicht sonst nicht spürt.

 

Kommt Evis Selbstzerstörungstrieb also aus dieser Überforderung durch die Arbeit.

SABINE DERFLINGER:  Nein, das ist schon ihre Persönlichkeit. Das Milieu ist ein guter Spiegel, aber im Prinzip geht es um ihre Figur. Es ist nicht so, dass das Milieu jemanden dazu bringt, dass er ständig Grenzen überschreiten muss, sondern vielmehr so, dass sehr viele Leute, die gerne über ihre Grenzen gehen, in diesem Milieu arbeiten. Wenn man sich körperlich so sehr verausgabt, ist man möglicherweise weniger stabil. Irgendeine Wertung - dieses Milieu ist so schlimm, deswegen passieren gewisse Dinge...  - möchte ich keinesfalls vornehmen.

 

Paula, Evis Tochter, spielt eine sehr wichtige Rolle.

SABINE DERFLINGER: Das Kind bietet den stärksten Kontrast zu dieser Welt. Ich kenne wenige Filme, wo die Faszination von Grenzüberschreitung mit einer Kinderwelt in Zusammenhang gebracht wird. Das Kind ist der totale Gegenpol. Bei einem Kind ist es so eindeutig und sicher, welche Bedürfnisse es hat. Dass diese beiden Welten nicht zusammengehen ist klar und der Konflikt wird dadurch deutlich. Sie ist auch eine sehr junge Mutter. Hätte sie kein Kind, würde ihr Leben ganz anders ausschauen oder würde die Problematik eine andere sein. Als junge, allein erziehende Mutter, die sich nicht ausgelebt hat, die noch nicht die Reife hat, ist der Konflikt programmiert.

 

Wie sind Sie im Vergleich zum Dokumentarfilm an die cinematografische Umsetzung der Geschichte gegangen?

SABINE DERFLINGER: Es gibt Menschen, die haben einen Film bereits im Kopf, dann gehen sie hin und drehen möglichst genau das, was sie im Kopf haben. Bei mir ist es ein permanenter Entwicklungsprozess. Es gibt Bilder, die sind klar da, manchmal ist es ein Rhythmus, manchmal nur ein Gefühl. Manchmal ist es dann so, wenn ich an das Originalmotiv komme, werden Dinge klar. Natürlich entsteht die Bildsprache auch in Zusammenarbeit mit der Kamera.

 

Sie sagten eingangs, es sei die Arbeit mit den Schauspielern, die einen besonderen Reiz des Spielfilms für Sie ausmacht.

SABINE DERFLINGER:
Die Darsteller wissen ziemlich genau, was passiert. Prinzipiell bin ich jemand, der dialogisch arbeitet. Das ist mir in jeder Phase absolut wichtig. Im Rahmen des Castings haben wir eher ausführliche Szenen erarbeitet. Dann hatten wir eine Woche Probe in Wien, eine Woche in Galtür. Diese zweite Woche war in erster Linie dazu da, um die Umgebung zu spüren und ein Gefühl für die Beziehungen zu entwickeln. Viele Dinge sind im Film letztendlich gar nicht drinnen, aber trotzdem gibt es viele Vorgeschichten, ohne die gewisse Szenen nicht möglich wären. Man steckt irrsinnig viel Energie in einen Film hinein, aber es ist sehr oft so, dass die an einem anderen Punkt rauskommt. Es gibt Dinge in der Vorbereitung, die nicht dort aufgehen, wo man es gerne hätte, sondern an einer anderen Stelle. Es gibt viele Dinge, die funktionieren nicht, dafür tun es andere. Die sind dann die Geschenke.

 

Interview: Karin Schiefer (2002)