«Bei Freigesprochen geht es um eine innere nicht mehr delegierbare Schuld. Es gibt im Sozialdrama sehr oft Figuren, die von der Gesellschaft,
der Familie, irgendwelchen Umständen angeblich dorthin gebracht worden sind, wo sie sind. Im Falle von Freigesprochen geht es um eine Schuld, die ganz alleine aus ihnen kommt, wenn auch durch die unglückliche Verkettung verschiedener Umstände.
Beide haben keinen Grund zu sagen, ich war ja eh nicht wirklich schuld, weil... Die beiden müssen damit umgehen und wollen
es dann auch nahezu triebhaft.» Ein Gespräch mit Peter Payer.
Freigesprochen beruht auf einem Theaterstück Der jüngste Tag von Ödön von Horvath. Worin sahen Sie darin das filmische Potenzial?
PETER PAYER: Für mich ist Horvath überhaupt ein sehr filmisch schreibender Dramatiker, sowohl was seine Romane als auch was seine Theaterstücke
betrifft. Seine Themen sind sehr zeitlos, fast archaisch. Genau diese Themen sind es auch, die mich am Kino interessieren.
Der jüngste Tag ist nochmals um vieles facettenreicher – es geht darin um das Thema Schuld, um den Umgang damit und die Unentrinnbarkeit;
um Flucht in Obsessionen und obsessive Affären und das Scheitern daran. Alles Dinge, mit denen jeder schon einmal, wahrscheinlich
in abgeschwächter Form, in Berührung gekommen ist.
In der filmischen Umsetzung ist der Stoff ins Heute transferiert. Es hat sich nicht nur das Außen, sondern auch etwas in der
Konstellation der Figuren verändert? Anna scheint bei Horvath stärker in einer Opferrolle zu sein.
PETER PAYER: Ich versuche bei jeder Form von Literaturadaptierung den Atem und den Geist, den der Stoff heute hat, zu spüren. Das erfordert
oft einen sehr intensiven Aufwand. Da ich im Heute lebe, versuche ich ihn ans Heute zu adaptieren und dabei muss man Entscheidungen
treffen ? darüber, was nicht mehr zeitgemäß ist bzw. was als Überhöhung durchaus gut ist. Es wird dadurch eher besonders zeitlos.
Im Fall dieses Stückes – die Unachtsamkeit eines Bahnbeamten, der sich von den Reizen einer jungen Frau kurz ablenken lässt
?, das würde ich nicht als historisch betrachten. Frau Hudetz ist bei Horvath ganz klar pathologisch eifersüchtig, das habe
ich definitiv verändert. Es wäre natürlich einfach, denn so hätte man das klare Böse als Bedrohung für den Ehemann. Das würde
ich mich als Filmemacher heute so nicht hinstellen trauen. Zu Horvaths Zeit, wo die Ehe eines jüngeren Mannes mit einer um
vieles älteren Frau noch etwas ganz anderes war, finde ich das aber interessant. Die Frauenfigur ist in Freigesprochen selbstbestimmter
und selbstbewusster, ich habe sie in einem Milieu angesiedelt, das über dem ihres Ehemanns ist. Sie kommt aus gutbürgerlichem
Milieu, er eher aus einem kleinbürgerlichen. Das ist definitiv eine Veränderung. Dass Anna bei Horvath ein Opfer ist, sehe
ich nicht so. In der Spiegelung mit Frau Hudetz erscheint sie durch die Täterin vielleicht eher als Opfer. Aktiv lügen tut
Anna bei Horvath auch. Es geht ja um Schuld, vor allem um Schuld durch Lüge. Eine Schuld nicht eingestehen, indem man sich
in eine Lüge flüchtet. Daran hat sich nichts verändert. Es gibt bei Horvath wie bei mir die verschiedenen Phasen der Schuldaufarbeitung,
Schock und Verdrängung gehören dazu, das ist ein völlig normaler Vorgang. Irgendwann lässt das nach und da versuche ich bei
meinen Figuren unterschiedliche Mechanismen zu zeigen, wie sie letztendlich eine nahezu lustvolle Verdrängung zu suchen, indem
sie die Schuld mit einer sexuellen Obsession zu übertünchen versuchen, die auch nur kurz halten kann, bis sie dann den finalen
Weg in der Erlösung suchen. Ich behaupte immer, der Film hat ein Happy End. Damit werden vielleicht nicht alle einverstanden
sein, wenn man es aber genauer durchdenkt, hoffe ich schon. Es ist eine Form von Befreitheit.
Warum haben Sie sich für eine Rahmenhandlung entschieden. Ganz zu Beginn sieht man diesen Selbstmord und täuscht sich im Laufe
des Films möglicherweise in der Person, die ihn begangen hat.
PETER PAYER: Ich habe definitiv keine Irreführung versucht. Ich glaube, man weiß es relativ bald, um wen es sich gehandelt hat. Dafür gibt
es mehrere Gründe. Natürlich soll die Frage des Ausgangs immer spannend bleiben und ich nehme das Ende ja nicht vorweg. Wenn
man dem Film eine fünf-Akte-Struktur andichten möchte, passiert der Selbstmord am Ende des vierten Aktes, vom fünften ist
nichts vorweggenommen. Die Geschichte beginnt im Spätsommer in der Erntezeit und nähert sich dem langsamen Kaltwerden und
Einfrieren. Das wird auch durch die visuelle Umsetzung klar, die diese Zeitspanne von Sommer zu Winter unterstützt. Da so
einen kleinen Schatten vorwegzuwerfen, wohin es gehen wird, hielt ich für notwendig. Und ich wollte zu Beginn schon eine Poesie
vermitteln, die Befreitheit und Erlösung vorwegnehmen. Daher diese nicht gerade unaufwändigen, im vergangenen Winter gedrehten
Schneeszenen, die bei plus zwölf Grad entstanden sind. Jede Schneeflocke im Bild ist hergestellt.
Die Figur des besten Freundes gibt es im Stück nicht?
PETER PAYER: Im Stück gibt es um vieles mehr Figuren rund um die Bahn, den Freund gibt es tatsächlich so nicht. Der letzte Teil im Stück
hat bei Horvath ja beinahe metaphysischen Charakter, um einen Vorgriff aufs Jenseits zu machen. Die Figur des Josef ? des
besten Freundes ? geht Thomas ab dem Moment, wo Josef verunglückt ist, als schlechtes Gewissen nicht mehr aus dem Kopf, und
zwar visuell und in Form einer Figur. Mir war wichtig, dass es auch eine ihm persönlich sehr nahe Figur gab, an deren Tod
er schuld ist. Ich wollte nicht, dass die Opfer alle anonym sind. Emotional wird es für die Hauptfigur nachvollziehbarer,
wenn sein bester Kumpel, mit dem er täglich rudern geht, auch dabei ist.
Das Thema des Gerichts, der Rechtssprechung steht auch bei Untersuchung an Mädeln im Mittelpunkt?
PETER PAYER: Das ist mir auch aufgefallen, bei zwei aus vier Filmen würde ich aber dennoch keine Regel ableiten. Bei Freigesprochen haben
wir uns jedenfalls bemüht, keinen Justizthriller daraus zu machen. Es geht um eine innere Schuld, das besonders Spannende
daran ist, dass es sich um eine nicht mehr delegierbare Schuld handelt. Es gibt im Sozialdrama sehr oft Figuren, die von der
Gesellschaft, der Familie, irgendwelchen Umständen angeblich dorthin gebracht worden sind, wo sie sind. Das ist legitim. Ich
weiß nicht, wie viele Filme es in Deutschland seit Hartz IV gibt, die ihre Figuren ausschließlich daraus nähren, dass sie
Hartz IV-Verlierer sind. Da ist eine Schuld immer delegierbar, ich kann nichts dafür, weil ... Im Falle von Freigesprochen
geht es um eine Schuld, die ganz alleine aus ihnen kommt, wenn auch durch die unglückliche Verkettung verschiedener Umstände,
aber die Schuld ist keinesfalls delegierbar. Beide haben keinen Grund zu sagen, ich war ja eh nicht wirklich schuld, weil...
Die beiden müssen damit umgehen und wollen es dann auch nahezu triebhaft. Ferdinand wäre beinahe bereit, selbst Thomas zu
richten und damit sein eigenes Leben zu zerstören, er hat aber letztendlich nicht den Mut, in diese Schuldverkettung einzutreten.
Kann man einer Figur die Hauptschuld zuweisen?
PETER PAYER: Nein, das ist auch keine Frage, die ich für besonders wesentlich halte. Was ich bei diesem Stoff, versucht habe, ist, alle
Figuren ans Thema zu binden. Alle Figuren haben in gewisser Weise Schuld, auch Frau Hudetz, auch Ferdinand ist schuld. Ferdinand
durch Wegschauen, durch zu naiv Sein, durch zu sehr an seinem autopilotmäßig gefassten Lebensplan Festhalten, ohne den Partner
zu beobachten ist eine Form von Schuld, natürlich nicht mit den gleichen tragischen Ausmaßen, wie den Tod von 22 Menschen
zu verantworten. Bei Frau Hudetz gibt es auch eine ganz klar vorliegend Form von Schuld, indem sie ihre eigenen Bedürfnisse
doch zu lange hintangestellt hat, ums sie dann so implodieren zu lassen.
Wie fiel die Entscheidung für Frank Giering?
PETER PAYER: Ich versuche beim Cast immer ensemblehaft zu denken. Frank Giering hatte ich sehr rasch im Kopf, auch wenn er eine Spur jünger
ist als in der Vorlage. Das ist auch eine Form von Adaption: ich wollte jemanden, der Mitte 30 ist, weil es falsch wäre, einen
50-Jährigen zu nehmen, der kurz vor der Pensionierung steht, so wie das bei der Österreichischen oder Deutschen Bahn der Fall
wäre. Außerdem wollte ich einen Mann in einem Alter an einem Umbruch. Ich halte ihn für einen außergewöhnlichen und beeindruckenden
Schauspieler. Er ist mir für diese Rolle einfach ideal erschienen, er hat eine jungenhafte Ausstrahlung, dann aber mit einer
Melancholie, die sehr tief geht. Er ist jemand, der seinen Beruf völlig unspektakulär ausübt.
In diesem Hotel scheinen auch zwei Zeiten aufeinander zu treffen, einerseits liegt es im Heute, andererseits erzählt es von
einer vergangenen Zeit.
PETER PAYER: Ich habe versucht, den Schauplatz ein bisschen zu entorten, aber gleichzeitig genau in sich zu verankern. Es soll ein Platz
im deutschsprachigen Raum sein, irgendwo entlang der Bahnlinie zwischen Budapest und Paris. Da gibt es unzählige Orte, die
etwas aufgeblasen wirken, weil sie früher Bahnknotenpunkte waren, bis die Autobahnen kamen. Dann waren da etwas zu große Bahnhöfe
mit etwas zu großen Hotels. Dann wollte man in den Siebzigern mit dem Tourismus nochmals einen Aufschwung bewirken, das hat
aber doch nicht funktioniert. Das sollte in allen Locations durchklingen. Österreich ist voll von solchen Hotels, auch wenn
das Filmhotel nicht in Österreich steht.
Wo und wie lange ist gedreht worden?
PETER PAYER: Quer durch Europa. Der Film ist eine Koproduktion zwischen Luxemburg und Österreich, die Außenaufnahmen wurden zum großen
Teil im Burgenland gemacht, der See ist der Zicksee, der Bahnhof ist in Luxemburg, der dort mit einem gewissen Aufwand sprachlich
adaptiert werden musste. Wir haben im August 2006 in Österreich zu drehen begonnen. September, Oktober in Luxemburg und dann
Ende Januar/Anfang Februar nochmals im Burgenland. Es hat natürlich einer großen logistischen Anstrengung seitens der Produktion
bedurft, einen Dreh über mehrere Jahreszeiten dorthin zu kriegen, vor allem wenn man einen Winter braucht und keinen Schnee
hat.
Eine Szene, die sehr aufwändig wirkt und wahrscheinlich auch war ist der Katastropheneinsatz. Wie geht man an die Umsetzung
einer solchen Szene heran?
PETER PAYER: Das ist sehr komplex und findet hauptsächlich im Kopf des Filmemachers statt, natürlich mit der entsprechenden Unterstützung
der Produktion. Wie erzählt man so etwas, ohne dass dem Zuschauer das Gähnen kommt, weil er eine vergleichbare Szene in Katastrophenfilmen
mit 200-fachen Budget schon gesehen hat. Ich habe im Buch mit zwei Stunden nach dem Entgleisen angesetzt. Eigentlich gar nicht,
um den Aufwand zu vermeiden, sondern um diese seltsame Stimmung bei einer Katastrophe rüberzubringen, wo man weiß, dass da
nun unzählige Menschen in Mitleidenschaft gezogen sind. Das wird mit einem lauten Knall wahrscheinlich emotional weniger gut
nachvollziehbar als mit dieser geschäftigen Professionalität, wenn 300 Einsatzkräfte ihre Arbeit tun. Da hinein die Verursacher
zu stellen, fand ich um vieles emotional nachvollziehbarer, auch was den Ton betrifft. Er muss hören, was da vor sich geht,
wofür er verantwortlich ist. Das war der Grund, warum ich die Szene erst zwei Stunden nach dem Unfall ansetze.
Dann heißt es, eine Bahnstrecke zu bekommen, wenn das möglich ist, das braucht einen enormen Vorlauf an Zeit, verschiedenste
Recherchen in verschiedenste Richtungen, um dann aufgrund dieser Recherchen ein mögliches Modell zu bauen. Man muss sich einen
starren Rahmen bauen und darin dann flexibel bleiben. Es wurden ein paar ausrangierte Waggons besorgt, die lackiert man auf
neu, um sie wieder zu verbrennen. Dann überlegt man die Auflösungen, die ja nur eine Zeitspanne von zehn Minuten umfassen,
die in zwei Drehtagen abgewickelt wurden, in denen dann auch noch ein Wetterwechsel stattfindet und ein Gewitterregen niedergeht.
Gefilmt wurde mit mehreren Kameras und jeder Menge Komparsen. Ich habe versucht, so etwas wie eine bedrückende Poesie zu erzeugen,
wie bei einem Infernogemälde. Wir haben zahllose Fotos und Aufnahmen von diversen Zugsunglücken studiert, was überall auffällt,
dass das sehr ruhig abläuft. Es ist eine sehr ruhige, hochprofessionelle Konzentration, beinahe Langsamkeit. Das herzustellen
war mein Hauptanliegen.
Wie fiel die Entscheidung für den Titel Freigesprochen?
PETER PAYER: Horvath hat den Stoff als Erzählung und nicht als Theaterstück begonnen und dabei tauchte der Arbeitstitel Freigesprochen
auf. Ich hätte mir nicht angemaßt, einen eigenen Titel zu suchen, ich hätte ihn wahrscheinlich auch nicht gefunden. Schön
finde ich auch die englische Übersetzung Free to Leave, das ist der Spruch mit dem im Zweifel für den Angeklagten, der Angeklagte
wird entlassen ? auch wenn er schuld ist, darf er gehen und muss selber damit umgehen, was "freigesprochen" auch impliziert.
Der Umgang mit der Schuld ist ein Thema, aber nicht das einzige, das implizit auch angesprochen wird?
PETER PAYER: Die Gesamterinnerung an das Horvathstück ist natürlich stark geprägt von der pathologisch eifersüchtigen Ehefrau, die letztendlich
der Auslöser für den Kuss ist. Anna küsst Hudetz im Stück absichtlich, um die Ehefrau zu ärgern. Es steckt natürlich sehr
viel Arbeit dahinter, dass man das trotzdem nachvollziehen kann, obwohl im Film Hudetz und seine Frau eine gute Ehe führen.
Die lieben sich jetzt noch. Der Film ist also auch ein Film über Lebensmodelle, über Visionen, die aufgehen, nicht aufgehen,
scheitern können, plötzlich ist durch einen kleinen Augenblick alles ganz anders. Ich hoffe schon, obwohl die Geschichte sehr
stringent gebaut ist, auch diese Facetten über die Geschichte mit der Schuld hinaus, zu berühren. Es ist auch ein Film über
Kommunikationsschwierigkeiten, über die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild. Um Hilfe geben können und suchen können,
um es sich überhaupt zu erlauben, Hilfe suchen zu dürfen oder es sich selber bereits zu versagen, was z.B. Anna durch ihre
beinahe kippende Persönlichkeit tut. Es wird aber doch nicht so intensiv, dass man das erwarten darf. Sie flüchtet sich eher
in eine vermeintliche Liebe, sie glaubt eine Zeitlang ja wirklich, dass sie ihn liebt. Und würde Thomas Hilfe in Anspruch
nehmen können, dann wäre das mit der Wahrheit verbunden. Ist Lüge bequem oder eine zusätzliche Last. Mein Subtitel während
der Arbeit war Ist Schuld teilbar? Glück wird ja schöner, wenn man es teilt (für Menschen, die ihr Gegenüber ernst nehmen).
Schuld wird, wenn man sie vervielfältigt, größer und nicht leichter zu ertragen.
Interview: Karin Schiefer
© 2007