"Ich wollte ein Gefühl finden für diese Zeit, die ich nie erlebt habe, in dessen Gebiet ich lebe und worin meine Wurzeln liegen.
Was hat sich verändert? Was ist gleich geblieben? Was beschäftigt die Menschen heute? Was sind die Probleme, Sorgen und Träume
heute? Ich habe einfach gemerkt, wie wenig ich über einen Raum, seine Menschen und seine Geschichte weiß, der vor 100 Jahren
ein großes Land mit der Hauptstadt Wien darstellte." Paul Rosdys Neue Welt hatte beim Festival in Karlovy Vary internationale Premiere .
Der Film ist als Reisefilm betitelt. Reisefilm bedeutet auch ein Abenteuer?
PAUL ROSDY: Ja sicher. Es war auch ein Abenteuer. Der Film heißt Neue Welt und spielt in der "alten Welt". Der Titel Reisefilm vermittelt dem Zuschauer von Anfang an das Gefühl, auf die Reise zu gehen.
Man kann sich einfach mehr darunter vorstellen, als wenn man Dokumentarfilm schreibt. Als Vorgangsweise stand von Beginn an
fest, dass ich kurze Zeitungstexte aus der Zeit um 1900 nehme, Archivfilme aus den Anfängen der Kinematographie sichte und
dann im Heute schaue, was sich tut und das dann weiterführe.
Was war der Anlass, in diese Zeit zurückzuschauen, so intensiv zu recherchieren und dann diesen Bezug zum Heute herzustellen?
PAUL ROSDY: Die Jahrhundertwende stellt für jemanden, der aus Wien kommt und hier lebt, eine Epoche dar, in der Entscheidendes passiert
ist. Diese Zeit wollte ich besser kennen lernen und dazu brauchte ich erste Quellen. Man kann kaum mehr jemanden interviewen,
man kann die Literatur lesen, aber ich wollte mehr über den Alltag wissen und vor allem ein Gefühl für die Sprache entwickeln,
wie geschrieben worden ist und was in den Zeitungen stand. Das war sehr witzig und erschütternd zugleich, weil man mit einer
Sprachweise konfrontiert ist, die ziemliches Chaos und Unruhe reflektiert. Ich wollte ein Gefühl finden für diese Zeit, die
ich nie erlebt habe, in dessen Gebiet ich lebe und worin meine Wurzeln liegen. Es war ganz klar, dass das über Tageszeitungen
am ehesten möglich war. Und dann wollte ich diese Zeitungstexte mit dem Heute vergleichen, aber diesmal durch Menschen und
ihre Gewohnheiten. Was hat sich verändert? Was ist gleich geblieben? Was beschäftigt die Menschen heute? Was sind die Probleme,
Sorgen und Träume heute? Ich habe einfach gemerkt, wie wenig ich über einen Raum, seine Menschen und seine Geschichte weiß,
der vor 100 Jahren ein großes Land mit der Hauptstadt Wien darstellte. Es war mir ein Bedürfnis, meine Nachbarn besser kennen
zu lernen.
Aus welchen Archiven stammt das historische Filmmaterial?
PAUL ROSDY: Ich begann in Washington im National Archive, in der Library of Congress und im Smithonian Institute, das war fantastisch,
die Arbeitsbedingungen sind dort einfach sehr gut. Du recherchierst alles im Internet, dann besorgst du Ansichtskopien bzw.
fährst hin und findest noch viel mehr. Ich habe auch lange im British Film Institute in London recherchiert, dort gibt es
fantastische Filme über die Monarchie, ich fand dort die Filme von der österreichischen Riviera und den vom Café Corso in
Zagreb - eine Rarität insofern, als es kaum Innenaufnahmen aus dieser Zeit gibt aufgrund der Lichtverhältnisse. Der Film zeigt
Innenaufnahmen vom größten Café in Zagreb. Dann habe ich in Warschau, in Ungarn, im Bundesarchiv in Berlin, in Frankreich
im Archiv von Pathé recherchiert und auch in Österreich. Die besten Dinge über Österreich & Ungarn für den Film hab ich aber
im Ausland gefunden.Wie lange dauerte diese Recherche und wann war der Punkt erreicht, wo es notwendig wurde, mit dem vorhandenen Material weiterzuarbeiten?
PAUL ROSDY: Ich habe zunächst Archivfilme und Zeitungstexte gesichtet und gesammelt, dann einen Plan gemacht, wohin ich fahren möchte.
Ich bin viel herumgefahren, um Land und Leute kennenzulernen und auch die Möglichkeiten hinsichtlich des Drehens auzuloten.
Der Plan entstand in erster Linie aufgrund der Lektüre. Als ich las, dass in Kotor im Jahre 1909 zum 1100-jährigen Jubiläum
der dortigen Marine-Vereinigung der Kaiser (anlässlich seines 60jährigen Regierungsjubiläums) eine Fahne schenkte, war für
mich klar, dem muss ich nachgehen, ob es diese Vereinigung noch heute gibt. Ich bin kein Historiker und für mich war es einfach
interessant herauszufinden, wie Städte und Ortschaften entstanden sind, wo die Wurzeln gewisser Dinge liegen oder im Fall
von Kotor, bei diesem Seefahrertanz mit dieser sich immer wiederholenden Musik in traditionellen Kostümen zu schauen, was
dahinter liegt. Die Orte sind nicht aufgrund großer historischer Begebenheiten gewählt, sondern intuitiv - aufgrund von Sympathie,
aufgrund meiner Neugier und dem Gefühl, hier möchte ich etwas machen.
Wie entstand dann die Reiseroute für die Dreharbeiten?
PAUL ROSDY: Wir haben 2002 bis 2003 ca. zehn Wochen gedreht, aber nicht in einem durch. In der Ukraine haben wir zwei, drei Wochen lang
alles auf einmal gedreht. Bosnien & Herzegovina und Ungarn war ein Dreh, Kotor habe ich mit Triest kombiniert, es ging immer
in Bausteinen vorwärts, entsprechend den Möglichkeiten, die sich uns boten. Es war mir sehr wichtig, den Dingen in gewisser
Weise ihren freien Lauf lassen zu können. Die Episode mit den Gänsen z.B. war nie geplant. Wir drehten bei den Waldarbeitern
in Rumänien, fuhren durch die Puszta und diese weißen Gänse in der weiten Ebene boten einfach ein schönes Bild. Ich habe mir
die Freiheit genommen, das näher zu betrachten. Einerseits war da dieses Kitschbild der Puszta mit den Gänsen und da galt
es, den Gegensatz mit der Geschichte eines Musikers der dort lebt, und den Gänsen die dort industriell verarbeitet werden,
herauszuarbeiten. Also was befindet sich hinter der schönen, idyllischen Oberfläche? Auch der Stopp in Stanislau war eher
Zufall (während der Recherchen) auf einer Fahrt von Lemberg nach Czernowitz. Der Rabbi dort hat mir viel gezeigt, als wir
zwei Jahre später wieder kamen, um zu drehen, hatte sich nichts verändert. Ähnlich wie beim Ölfeld oder der Buslenkerin, da
hat sich in zwei Jahren zwischen Recherche und Dreh nichts geändert und andere Dinge wiederum haben sich sehr spontan ergeben.
Spontan waren die Ölschule. Ich fragte nach einem Ölarbeiterlied, sie sagten es gibt dieses eine Lied, welches die Studenten
mit den Lehrern verfasst hatten und wir nahmen es in der Aula der Schule auf und drehten ein paar Szenen im Klassenzimmer
oder das Lokal in Triest - es gilt als ein klassisches Wiener Stehbuffet, wo es verschiedenstes Schweinefleisch gibt. Etwas
"typisch Wienerisches", das es in Wien gar nicht mehr gibt. Am Rande bewahren sich diese Dinge oft länger als im Zentrum.
Das Zentrum schreitet schon woanders hin, weil es führt, am Rande wird eher bewahrt. Ich fand es schön, mich so am Rande zu
bewegen. Die Anekdote der Frau Pollheim-Wartenburg war auch ein wichtiger Anstoß - sie ist jemand, die einen teil ihres Vermögens
den Armen des Jahres 2000 gewidmet hat. Diesen Text habe ich vor sehr langer Zeit gelesen, der Autor des Textes fragte sich,
wird es denn überhaupt noch Arme geben im Jahr 2000. Eigentlich liefert der Film die Antwort. Die Leute sind noch immer arm,
kämpfen noch immer, es hat viele Kriege gegeben, sie feiern noch immer, trinken noch immer, leiden noch immer, sind glücklich
noch immer.
Neben diesen "charaktervollen Nebensächlichkeiten" aus den Zeitungen tauchen im Film auch immer wieder Personen auf, deren
Lebensgeschichte als Einzelschicksale einfließen, wie fiel die Wahl auf sie?
PAUL ROSDY: Ich hab' bei der Zeitungslektüre herausgefunden, dass es um 1900 viele Verkehrsprobleme gegeben hat, nicht nur in Czernowitz.
Der Straßenverkehr steckte in seinen Anfängen, es gab keine Regeln wie heute. Auf alten Filmen von der Ringstraße gehen die
Leute kreuz und quer, es gab unheimlich viele Unfälle, die Zeitungen sind voll mit Meldungen von Unfällen, es sind auch die
Fotos aus dieser Zeit viel interessanter, lebendiger. Heute ist alles reglementiert, das sagt ja auch etwas aus - im Guten
wie im Schlechten. Ich war deshalb viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. In Czernowitz hat mich dieser alte, klapprige
Bus interessiert, mit dem wir herumfuhren, da sind wir Aljona, der Lenkerin begegnet, das geschah intuitiv und aus Sympathie.
In Sarajewo habe ich Denisa getroffen, weil mich die Oper und Musik im allgemeinen interessierten, sie hat mich mit ihrer
positiven Einstellung zum Leben beeindruckt, ich wollte nicht über die Schrecken des Krieges sprechen, sondern das normale
Leben im Heute zeigen, die Leute dort haben dieselben Gefühle oder Wünsche wie wir, ob die Häuser nun zerstört sind oder nicht.
Die Episode in Stanislau geht über das Einfangen des Alltags hinaus, hier geht es in die jüngere Geschichte und das Schicksal
der jüdischen Bevölkerung in dieser Stadt?
PAUL ROSDY: Die Zeit um 1900 war eine Zeit des Endes mit dem Zusammenbruch der Monarchie, es war aber auch eine Zeit des Aufbruchs, die
Gebiete am Rande eines großen Landes waren viel exponierter als das Zentrum. Der Nationalsozialismus war das schlimmste Verbrechen
des letzten Jahrhunderts und irgendwie trifft sich alles in der Mitte. Man schaut sich 1900 und das Heute an und versucht
eine Erklärung zu finden, und diese Antworten laufen in der Mitte zusammen. Politisch gesehen war die Mitte der Zweite Weltkrieg,
die Judenvernichtung und der Kommunismus, der darauf folgte. Diese einschneidenden historischen Ereignisse waren bei mir nicht
das Thema des Films, sie sind aber im Alltagsleben einfach spürbar. Man fängt sie ein, ob man will oder nicht, ob man sie
erkennt oder nicht, sie sind da, und es war dann die Frage: wie zeigt man es, wie geht man damit um?
Großes Thema im Film ist die Musik?
PAUL ROSDY: Ich liebe Musik und wollte sie immer als tragendes Thema im Film haben, ich kenne die Sprachen nicht und man versteht sich
halt einfach mit Musik. Es berührt alle Menschen, egal ob man den Text versteht oder nicht. Die Melodie geht darüber hinaus
und es ist spirituell, es öffnet den Kopf für neue Dinge, man denkt an sein eigenes Leben und an das Leben anderer und man
stellt sich die Frage: What is this life, this life I'm in? So schön und schrecklich zugleich... So traurig und hoffnungsvoll
zugleich... ich wollte einen Film machen, der diese Gefühle vermittelt - Gefühle und Gedanken die wir alle in uns tragen.
Die alten Lieder Triest oder Adria habe ich gefunden, die neuen Lieder haben sich so ergeben. Ich habe nach Musik gefragt,
wir haben gesprochen, probiert und es dann eben gemacht, nichts war von mir bestellt. Ich habe die Lieder, Melodien ausgewählt
die mich am meisten berührt haben bzw. die ein Gefühl für Land und Leute vermittelt haben.
Es war ein großer Aufwand den Film zu recherchieren und drehen, ihn zu schneiden war gewiss nochmals eine große Sache?
PAUL ROSDY: Ich habe sehr frei und offen gearbeitet, es war sehr viel Material vorhanden und daraus etwas zu machen, das funktioniert,
das erfordert einfach Zeit, die muss man sich nehmen und sich durchkämpfen. Ich hab sie mir genommen, es war sehr anstrengend,
aber ich bin froh, dass ich sie mir genommen habe. Ich habe lange mit Dingen gearbeitet, die letztendlich nicht funktionieren,
das ist ganz normal. Es ist manchmal schwierig, es sich einzugestehen. Der Film muss einfach atmen, daher gibt es eine Abfolge
von schnellen Sequenzen und dann Phasen, wo mehr Ruhe eintritt.
Sie haben das ganze Projekt als Ein-Mann-Firma von der Produktion bis zum Schnitt abgewickelt. Wenn man mehrere Jahre so intensiv
an einem Projekt arbeitet, dann werden Film und Leben irgendwann wohl eins?
PAUL ROSDY: Ich habe mir da angemaßt, einen Film über Länder und ihre Menschen zu machen, von deren Geschichte ich nicht so viel wusste.
Ich drehe dort und schneide, aber ich lebe auch mit diesen Leuten, es bestehen nun seit Jahren Kontakte und Freundschaften,
das ist ein Teil von mir geworden, der mich sehr bereichert hat und ich bin trotz (oder gerade wegen) der langen Arbeit sehr
froh darüber. Ich habe diese Zeit sehr genossen und tue das noch immer. Der Grund, weshalb ich auch die Produktion selbst
in die Hand genommen habe, liegt darin, dass ich Freiheit brauche. Ich konnte realisieren, was ich vorhatte, ohne das Risiko
einzugehen, eine fremde Firma finanziell in Schwierigkeiten zu bringen. So bin ich dafür verantwortlich und trage auch die
Konsequenzen. Natürlich lastet unheimlich viel auf mir, ich hatte aber auch ein wunderbares Team, das bei den Recherchen und
den Dreharbeiten gewachsen ist, ohne die ich es nie geschafft hätte.
Der Film beginnt mit einer Einstellung, die von muslimischer Tradition erzählt. Warum ist diese Entscheidung gefallen?
PAUL ROSDY: Dies hat mehr filmstrukturelle als inhaltliche Gründe. Ein Mann kniet, schaltet den Kassettenrecorder ein, das Band läuft,
dann eine alte Postkarte mit rufendem Muezzin aus 1900. Ein Bild der Moschee von außen wie der Ruf auf der Straße wirkt, während
ein Mann im Kaffeehaus sitzt. Das Element des Rufens bringt etwas hervor, es erweckt aus dem Heute Aufnahmen anno 1900. Das
Thema des Films ist etabliert und noch dazu mit einer spirituellen Note, ich finde das schön. Inhaltlich führt es in die ferne
Welt, die doch so nah ist. Später kommen im Film noch christliche und jüdische Elemente vor und mir war wichtig, die religiösen
Elemente dieser Region filmisch in ihrer Vielfalt zu verarbeiten. Der Rabbi, der die grausame Wahrheit und zugleich die Auseinandersetzung
damit erzählt, der rufende Moslem, die tanzenden Seeleute von Kotor die ihre mittelalterlichen christlichen Traditionen pflegen
oder die ukrainische Tanzgruppe auf der Suche nach ihren Wurzeln. Ich finde diesen Tanz der Seeleute in Kotor schön anzuschauen,
dieser Männer-Gruppentanz - und das an einem katholischen Stadtheiligenfest. Ist doch interessant, welche Assoziationen sich
damit verbinden, für manche ist das langweiliger Folklorekitsch, für andere, auch für mich hat das etwas Erotisches an sich,
für andere wieder stellt es die Verbindung zu den eigenen Wurzeln dar - diese weißen Tücher, die Beine der Männer, das hat
Stil und ist vieldeutig, das hat mir Gefallen und gefällt mir noch immer. Natürlich muss man so offen sein und seine eigenen
Scheuklappen und Vorurteile gegenüber solchen Dingen fallen lassen.
Was bedeutet für Sie die "neue Welt"?
PAUL ROSDY: Neue Welt ist immer ein Gebiet gewesen, wo man hingeht, auswandert, um ein neues Leben aufzubauen. Das gab es auch in der Monarchie,
da wurden auch Menschen aus Wien in den Osten geschickt, um Gegenden zu besiedeln, nachdem sich die Türken zurückgezogen hatten.
Es geht um die neue Welt in der alten Welt. Für mich ist "neue Welt" etwas sehr Öffnendes. Diese alten Filme und alten Texte
bilden für mich eine neue Welt, die Menschen, die Sprachen, alles ist neu und es hat meinen Horizont geöffnet. Bei so einem
Thema muss man sehr aufpassen - Österreich-Ungarn, die Monarchie, das ist natürlich ein wenig angestaubt und es ist filmisch
gefährlich, so etwas zu machen. Ich habe das Thema Monarchie überhaupt am Rand gelassen und nur als Mittel zum Zweck benutzt.
Vieles hat sich im Laufe des Arbeitens so ergeben, ich hatte nicht von Anfang an eine These, an der ich festgehalten habe,
komme, was wolle. Ich habe eher alles kommen lassen und daraus etwas gemacht. Ich hatte immer einen offenen Rahmen, der lautete
Texte, Archivfilme und Heute. Das hat mich weder zeitlich noch räumlich eingeengt und konnte organisch wachsen.
Interview: Karin Schiefer (2005)