INTERVIEW

Othmar Schmiderer im Gespräch über IM TOTEN WINKEL »

 

"Es ist für uns ein Beispiel, wie wichtig es ist, in die eigenen Geschichten zu schauen. Daher auch der Titel des Films, weil es auch darum geht, die eigenen toten Winkel anzuschauen. Dieses schmerzhafte Zulassen ist ein wichtiger Prozess, sonst werden wir ewig dieselben Geschichten wiederholen. Es sind ja immer wieder dieselben Verhaltensmuster, aus denen Opfer wieder zum Täter zu werden. Wie Traudl Junge in diesen toten Winkel hineingeht, das ist in einer gewissen Form schon exemplarisch." Othmar Schmiderer über Im toten Winkel.

 

Traudl Junge legte mit 80 eine Art Lebensbeichte vor der Kamera ab. Wie wurde sie dazu bewogen?

OTHMAR SCHMIDERER:  Traudl Junge hat im Laufe der Zeit schon Interviews gegeben. Die Erfahrungen, die sie mit dem Journalismus gemacht hat, waren für sie nicht unbedingt die besten. Sie hat knapp nach Kriegsende ein Skript geschrieben, in dem sie ihre Erinnerungen auf 120 Seiten aufgezeichnete. Nachdem sie die Anne Frank Biografie von Melissa Müller gelesen hat, hat sie ihr dieses Skript geschickt und Melissa Müller hat dann mit ihr Kontakt aufgenommen. Sie wiederum gab das Skript André Heller zu lesen, der das für eine sehr interessante Geschichte hielt, und er schlug das Thema im Bewusstsein, dass es eine heikle Geschichte sein würde, der Dor Film vor. Über die Dor Film wiederum kam ich ins Projekt. Wir fuhren dann nach München, ohne zu wissen, was genau passieren würde. Für uns stand nur fest, mit minimalem Equipment nicht als das übliche Filmteam aufzutreten und wir wollten ihr deutlich zu verstehen geben, dass wir uns für ihr Leben interessierten und nicht als Inquisitoren kamen, um zu richten.

 

Wie verliefen die Gespräche?  

OTHMAR SCHMIDERER:  Als wir schon in München waren, hat sie zunächst noch abgelehnt, sie hätte solche Kreuzschmerzen. Darauf hat Andre Heller ihr den besten Arzt in München versprochen, aber wir würden jedoch so lange in München bleiben. Schließlich rief sie nochmals an und lud uns in ihre kleine Einzimmer-Wohnung ein. Wir zeichneten auf Video auf und machten ihr klar, dass sie über das entstandene Material verfügen konnte. Wir haben ja selbst auch nicht gewusst, wie uns geschieht, wenn man da plötzlich Hitlers Sekretärin gegenüber sitzt. Es ist uns aber schließlich gelungen, ihr Raum und Vertrauen zu geben. Entscheidend dabei war sicherlich, dass wir uns für ihr Leben interessierten, weniger die Geschichte um Hitler herum. Es war auch kein Interview im klassischen Sinn, sondern ein offenes Gespräch, in dem man sich füreinander interessiert, wir haben auch aus unserem Leben erzählt und es hat sich immer mehr gelockert. Und von dem Moment an, wo dieser Bann gebrochen war, ist es wie ein Wasserfall aus ihr heraus. Es war eine glückliche Fügung, dass im richtigen Moment die drei richtigen Menschen zusammen gekommen sind, in dem Sinn war es fast höhere Regie.

 

Wieviel Material ist insgesamt entstanden?

OTHMAR SCHMIDERER: Wir waren insgesamt nur drei Tage in München und hatten schließlich sieben Stunden Material. Nach diesen drei Tagen meinte sie, dass sich das Gesagte vielleicht schon für einen Film eignen würde und meinte aber, sie könne nicht alles noch einmal erzählen. Ihr war gar nicht bewusst, dass wir mit dieser kleinen Kamera wirklich einen Film machen konnten. Der einzige dramaturgische Kniff, den wir setzten, war, sie noch einmal mit dem Material zu konfrontieren und sie dabei zu filmen, wie sie reagiert. Das halte ich für eine sehr wichtige Gegenüberstellung, auch im Hinblick auf die Wirkung für die Zuschauer. Wir waren natürlich auch verblüfft, über ihre faszinierende Art und Weise zu erzählen. Die längste Sequenz ist 25 Minuten, ein Monolog, wo sie diesen letzten Tag beschreibt, der ja Beckettsche Dimensionen hat. Und es war natürlich auch ab diesem Moment klar, dass wir diese Sequenz nicht zerschneiden und den Film darum herum bauen würden. Nachdem wir das Material auf dreieinhalb Stunden zusammen geschnitten hatten, luden wir sie in Hellers Haus nach Italien ein, haben ihr das Material nochmals vorgespielt und noch einmal gedreht. Sie selbst hatte große Bedenken, weil sie einerseits fürchtete, dass es niemanden interessieren würde, andererseits, dass sich erst wieder die Ewig-Gestrigen sich darauf setzen würden. Sie selbst war von dieser Dreieinhalb-Stunden Fassung sehr angetan, es stand aber von vornherein fest, dass sie entscheiden würde, was mit dem Material passiert. Hätte sie gesagt, sie gibt das Material nicht frei, gäbe es keinen Film. Nach dem Dreh in Italien gingen wir nochmals über die Dreieinhalb-Stunden Fassung. Wir entschieden uns schließlich für eine 90-Minuten-Version. Die spielten wir ihr im Herbst letzten Jahres vor, daraufhin hat sie auch das OK gegeben. Das war für sie, glaub ich, sehr rund, eine sehr schöne, berührende Geschichte. Kurz vor ihrem Tod sagte sie "Jetzt hab ich die Geschichte losgelassen, jetzt lässt mich das Leben los, ich beginne mir zu verzeihen". Es war im Grunde genommen so etwas wie eine Beichte.

 

Warum haben Sie sich formal für diese reine Form des Gesprächs entschieden?

OTHMAR SCHMIDERER:  Form ist in diesem Fall auch Inhalt in der Geschichte. Es war ein bewusster Verzicht auf Foto- und Archivmaterialien, um nur beim Menschen zu bleiben. Ich glaube, dass man wieder lernen muss, den Menschen zuzuhören. Man sieht sehr viel, wenn man genauer hinschaut, welche Blicke, welche Bewegungen wohin gehen in welchem Moment. Mit der Bearbeitung begann für uns die Auseinandersetzung mit der Thematik, die auch immer wieder die Frage aufwarf, was ist Wahrheit und was nicht? Was erzählt sie uns? Glaubt man ihr, vertraut man ihr? Uns ging es aber nicht um Wahrheit und Nicht-Wahrheit, sondern darum, ihr ganz bewusst diesen Raum zu überlassen. Schlüsse daraus ziehen muss der Zuschauer für sich selbst. Für mich ist es das eigentlich Interessante, was bei einem selbst entsteht. Was passiert mit mir als Betrachter, welcher Prozess setzt in mir ein? Der Film kann nicht die Antwort liefern, die Frage ist, wie geht man als Zuschauer mit der Frau um. Meines Erachtens ist es eine der wenigen adäquaten Formen, so einen Film zu machen. Einfach nicht abzulenken und wirklich an der Person zu bleiben. Viele Filmemacher in Deutschland sagen, das ist ein Manifest gegen all diese gängigen Fernsehlösungen. Das war uns auch sehr wichtig, einen Kontrapunkt zu setzen.

 

Wie sah die Arbeitsteilung zwischen Ihnen und André Heller aus?

OTHMAR SCHMIDERER:   André Heller hat natürlich das Gespräch geführt. Ich wollte grundsätzlich sehr risikobereit drehen und mich nicht mit irgendeinem künstlichen Licht absichern, da mir die Intimität sehr wichtig war. Die wollte ich nicht opfern, nur um schön ausgeleuchtete Bilder zu bekommen. Über die Reduktion auf das minimale Equipment waren wir uns einig, und das war sicherlich entscheidend. Sie hätte nie in dieser Form gesprochen, das ist der Vorteil dieser neuen Technik. Den Film hab ich dann mit meinem Cutter, Daniel Pöhacker, geschnitten und dazwischen gab es immer wieder Treffen mit André Heller, wo wir die weiteren inhaltlichen Schritte diskutierten.


 Welchen Eindruck hatten Sie von Traudl Junge als Person?

OTHMAR SCHMIDERER: Sie ist eine sehr kontrollierte, intelligente Frau, die aufgrund der Niederschrift ihres Skripts das Thema immer wieder durchgearbeitet hat. Daher rührt auch eine sehr große Achtung unsererseits für sie, weil man sieht, wie intensiv sie sich damit auseinander gesetzt hat und es wenige aus dem engen Kreis um Hitler gibt, die das in dieser Form gemacht haben. Auf die Ursache ihrer Geschichte ist sie letztendlich auch nicht gekommen. Sie hat schwere Depressionen gehabt, ihr Leben war ab diesem Zeitpunkt nur noch davon geprägt. Sie hat es sich nie leicht gemacht, sie hat viel darüber gelesen und war eine sehr wissbegierige, gebildete Frau. Natürlich hat sie ihr Leben, ihre Erzählung unter Kontrolle, wobei man bei genauerer Betrachtung schon sieht, dass das teilweise bricht. Wesentlich ist, das Verzeihen-Können, ein wichtiger und schmerzhafter Prozess. Es ist für uns ein Beispiel, wie wichtig es ist, in die eigenen Geschichten zu schauen. Daher auch der Titel des Films, weil es auch darum geht, die eigenen toten Winkel anzuschauen. Dieses schmerzhafte Zulassen ist ein wichtiger Prozess, sonst werden wir ewig dieselben Geschichten wiederholen. Es sind ja immer wieder dieselben Verhaltensmuster, aus denen Opfer wieder zum Täter zu werden. Wie Traudl Junge in diesen toten Winkel hineingeht, das ist in einer gewissen Form schon exemplarisch. Wir waren einhellig der Meinung, wir würden uns das wünschen, wenn die Leute auch in diesem Land mehr so mit ihrer Geschichte umgehen würden.

 

Was waren die anfänglichen Bedenken in Zusammenhang mit dem Thema?

OTHMAR SCHMIDERER: Ich glaube vor 20 Jahren hätte man diesen Film in dieser Art nicht machen können. Natürlich hatten wir Bedenken, das könnte von der falschen Seite vereinnahmt werden. Andererseits waren wir der Meinung, es müsste möglich sein, einen "neutralen" Blick darauf zu werfen, auch wenn unsere Montage wieder subjektiv ist. Ich glaube, wir haben die Essenz aus diesem Material gefunden. Das Gespräch war so angelegt, dass Frau Junge erzählen sollte, wie es ihr damals gegangen ist. Es war für mich z.B. sehr verblüffend, dass sie sich kein einziges Mal rechtfertigt. Das findet man selten.

 

Wie waren die Publikumsreaktionen auf den Festivals?

OTHMAR SCHMIDERER:  Es war immer interessant zu sehen, welche Diskussionen entstanden sind. Es gab sehr berührende Momente vor allem von Frauen, weil das Besondere an dem Film auch ist, dass einmal aus der Perspektive einer Frau erzählt wird, die auf Details achtet, die nur eine Frau beobachtet. Ich will hier keine analytischen Aussagen zu treffen, aber ein wesentlicher Punkt war natürlich die Vater-Geschichte, das spricht sie ja selber an. Darin liegt sicher auch die Ursache, warum sie von Hitler in irgendeiner Weise begeistert war oder in ihm unbewusst einen Familienersatz gesucht hat. Sehr verblüfft hat mich, dass auch ein relativ junges Publikum auch so in die Geschichte eingestiegen ist. In Frankreich gab es gerade von jungen Leuten auch eine irre Ablehnung, da entstanden innerhalb des Publikums vehemente Diskussionen. Ich glaube, wir haben keine andere Chance als uns gewisse Sachen zu verzeihen, aber das ist natürlich ein unangenehmer Prozess. Da ist sie natürlich ein Beispiel, obwohl es ihr natürlich auch nicht ganz gelungen ist, auf den Punkt zu kommen.

 

Waren Sie auch persönlich sehr betroffen durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Frau Junge?

OTHMAR SCHMIDERER: 
Natürlich, das ist ja auch das Interessante an der Arbeit, dass man dadurch die Möglichkeit hat, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen. Es war eine interessante, aber keine leichte Auseinandersetzung, wo man an die eigenen Grenzen stößt. Sie spricht auch von den Erziehungsmechanismen, die ja unsere Generation noch voll mitgekriegt hat, da sind auch persönliche Geschichten wieder hochgekommen, wenn man von der vernichtenden Systematik dieser Erziehungsmechanismen hört und sich bewusst wird, wie verbreitet das in den Familien sitzt und zu solchen Verhaltensphänomenen führt. Natürlich ist es ein Glück gewesen, so eine eloquente Erzählerin zu finden. Das war natürlich ein Grund mehr, keine Stilmittel einzusetzen, sondern klar bei ihr zu bleiben. Es ist heute ein Problem, dass man nicht zuhören kann, man ist pausenlos unter optischen Reizen und man hört nicht mehr, wie es dem anderen eigentlich geht. Die Frage des Mitgefühls ist aber eine der zentralen Fragen für mich.

 

Interview: Karin Schiefer (2002)