INTERVIEW

Michel Daëron im Gespräch über ATLANTIC DRIFT

 

«Ich glaube, dass ein Großteil der Zeugen so tief der Erinnerung an diesen Mann verbunden ist, weil man sich die Frage stellt – Wie kann man dem Holocaust entgehen, über so viele Möglichkeiten, ein derartiges Potenzial, des künstlerischen Ausdrucks verfügen und sich schließlich doch das Leben nehmen, zu einem Zeitpunkt, wo man sich als gerettet betrachten kann. Für mich ist das die wahre Frage. Der Film gibt keine Antwort, aber ich denke, er verharrt genau auf dieser Frage ohne Antwort.»

 

 

Wie kommt man 124 jüdischen Flüchtlingen auf einer kleinen Insel im Indischen Ozean auf die Spur?

MICHEL DAËRON: Ganz zu Beginn wollte ich einfach nicht an diese Geschichte glauben. Sie wurde mir auf Mauritius erzählt. Ich war damals aus anderen Gründen dort und erfuhr, dass es jüdische Flüchtlinge in Mauritius gegeben hat. Nach einem Gespräch mit einer Historikerin, stellte sich heraus, dass diese Geschichte überhaupt nicht archiviert war und so schenkte ich ein ganzes Jahr lang der Sache keine wirkliche Beachtung. Im Zuge einer Reise nach Mauritius sah ich den jüdischen Friedhof vor dem Hintergrund des Meeres. Ein Bild, das sich mir sehr einprägte. Mauritius ist so sehr nur ein kleines Stückchen Welt und dort Spuren von Menschen zu finden, die von europäischen Hauptstädten kamen, die einerseits der Bedrohung durch den Nationalsozialismus entkommen waren und andererseits in den Händen anderer umgekommen sind, war sehr beeindruckend. Auch wenn die Zahl 124 lächerlich klein scheinen mag, ist ihre metaphorische Kraft ziemlich stark. Es gibt ein Zitat von Claudio Magris, das, meine ich, sehr auf meine Arbeit zutrifft: Geschichte existiert nicht. Es ist der Historiker, der Geschichte erschafft und produziert, indem er seine Frage aufwirft und die entsprechenden Forschungen anstellt.

 

Der Beginn der Recherche war sicherlich alles andere als einfach

Michel Daëron: Ich arbeitete seit der Chaconne d'Auschwitz an diesem Projekt, d.h. seit 1997. Nachdem ich die Gräber gesehen hatte, sagte ich mir, hier muss man etwas tun. Es war natürlich sehr schwierig, ausgehend von diesen Gräbern die ganze Geschichte der Atlantic herauszufinden. Es dauerte einige Monate allein, die Spuren der Überlebenden zurückzuverfolgen. Ich recherchierte in Israel und fand heraus, dass sich die Überlebenden von Mauritius ziemlich regelmäßig in Israel treffen. Es gelang mir, bei einem dieser Jahrestage dabei zu sein.

 

Waren die Überlebenden grundsätzlich bereit zu kooperieren?

MICHEL DAËRON: Auf der Liste waren 120 und heute gibt es ungefähr 80, das nimmt jedes Jahr ab. Ich traf drei Zeitzeugen in Australien, später eine Frau in San Francisco, die kategorisch ablehnten zu sprechen, bis ich auf Ruth traf. Ruth lebt in Phönix - ich erzähle gerne die Anekdote von unserem Treffen. Es ist in den USA praktisch überall verboten zu rauchen, noch dazu dauert es 18 Stunden, bis man überhaupt in Phönix ankommt, dort muss man 60 Grad im Schatten ertragen, im Flughafen sind überall Kameras, damit man nirgendwo ungesehen rauchen kann. Und als ich dann endlich bei Ruth ankam, war das wie im Paradies, wir rauchten beide eine Zigarette nach der anderen, ich konnte rauchend das Interview führen. Deshalb blieb ich auch sehr lange.

 

Sie lieferte ja einen entscheidenden Beitrag?

MICHEL DAËRON: Ich war schon im Aufbruch, da ich meine Arbeit erledigt hatte, als ich ihr - eine Zigarette im Mund - eine letzte Frage stellte, sagte sie mir, dass sie ein Tagebuch hätte. Ich setzte mich also wieder, zündete eine neue Zigarette an. In diesem Tagebuch war wie bei allen Überlebenden Skizzen von Fritz Händel. Auf dieser bildlichen Ebene erfasst man sofort, dass diese Zeichnungen eine Geschichte erzählen, die ihnen gehört. Ich fragte nach dem Urheber dieser Zeichnungen und sie, die so ausnehmend sympathisch gewesen war und so bereitwillig erzählt hatte, verschloss sich wie eine Auster. Immerhin nannte sie mir den Namen Fritz Händel und dass er ist dort unten gestorben war. Woran? Keine Antwort. Ich fragte, ob es Überlebende seiner Familie gäbe. Sie sagte, es gäbe seine Frau und seinen Sohn, aber da wäre nicht die geringste Chance. Sie würden mit niemandem darüber sprechen und ich solle überhaupt aufhören, darüber Fragen zu stellen. Klarerweise, war nun erst recht mein Interesse geweckt. Ich führte zwei Parallelrecherchen, eine historische in den Archiven und eine zweite, viel persönlichere. Als ich Hannahs Sohn, Schlomo, zum ersten Mal traf, fanden wir uns beide in ungefähr der gleichen Situation, was seine eigene Geschichte betraf. Wir entdeckten uns gegenseitig als Komplizen, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen und es entstand eine wirkliche Freundschaft daraus. Die Suche nach der Wahrheit über seinen Vater war auch für ihn in der Geschichte der Atlantic enthalten.

 

Was machte alles so schwierig?

MICHEL DAËRON: Ich hatte in der Zwischenzeit Überlebende getroffen. Aber eine beträchtliche Anzahl der Gespräche, muss ich zugeben, waren eher langweilig. Bei dieser Art von Geschichten, die 50 Jahre lang verschüttet sind und die über diese Treffen an Jahrestagen auferstehen, kommt es dazu, dass es schließlich einen gemeinsamen Kern der Geschichte gibt, der auf die gleiche Art und Weise, mit den gleichen Details erzählt wird. Erinnerung kann auch eine Lüge sein. Deshalb ist das Tagebuch von Ruth so ein Glücksfall, weil es sich hier um die totale Subjektivität der Erinnerung handelt und es von einer tiefen Wahrheit ist im Vergleich zu den Zeugenberichten, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Ein beträchtlicher Teil ist in der Erinnerung uniform geworden. Das Tagebuch hingegen, das im Moment im Alter von 17 ohne jegliche Einschränkungen geschrieben wurde und die Zeichnungen sind die beiden dramatischen Elemente, die mich gerettet haben. Denn nur Überlebende allein zu interviewen hätte mich nach meiner Arbeit an Chaconne d'Auschwitz nicht interessiert, da ich nicht auf die gleiche Intensität traf.

 

Was verbarg sich hinter dem Geheimnis Fritz Händel?

MICHEL DAËRON: Es gibt keinen Überlebenden, der nicht auch Zeichnungen von Fritz Händel hätte. Es gibt auch keinen Überlebenden, der bereit ist, über Fritz Händel zu sprechen. Nicht, dass sie plötzliche inne halten und nicht mehr weiter sprechen. Die Leute reden davon, ohne etwas zu sagen. Das ist für mich die schlimmste Art, die Erinnerung auszuschalten. Es gab keine Blockade wie in der Chaconne d'Auschwitz, wo dahinter ein Mysterium lag. Bei diesen Leuten gab es kein Mysterium, weil über etwas gesprochen, aber gleichzeitig nichts gesagt wird. Ich musste an Schlomo denken, der bei all diesen Leuten die Geschichte seines Vaters zusammensuchen musste, der auf dieses Schweigen traf, das kein richtiges Schweigen ist. Selbst vom Selbstmord erfuhr er erst, als er 25 war, erhielt aber keine weiteren Details. Die Geschichte der Atlantic wirft einen bisher unbekannten Aspekt auf diese Epoche. Die Deportation der Atlantic selbst ist ja ein Fall einer von den Aliierten initiierten Deportation. Das heißt also, dass nicht nur die Deutschen Juden deportiert haben, damals gingen die Aliierten davon aus, dass man Juden deportieren konnte. Und sie verwendeten auch dieselbe Sprache und das weist darauf hin, dass die Geschichte nicht unbedingt diejenige ist, an die man sich erinnert. Dazu fällt mir ein Zitat des österreichischen Dichters Franz Grillparzer ein, der sagt "Das moralische Urteil über diese Welt kann nicht mit den Ereignissen, die ihre Entwicklung markieren, gleichgesetzt werden. Die Tatsachen sind nicht mit den Werten zu verwechseln ebenso wenig wie das, was ist, mit dem, was sein sollte". Der Sieg von 1945 auf Seiten der Aliierten , ist ein Sieg aus der Perspektive der Unterlegenen, aber er ist eine Niederlage vom moralischen Standpunkt aus. Die Geschichte der Atlantic enthüllt eine enorme moralische Niederlage. Die Aliierten waren bereit, bis zum Äußersten zu gehen und haben sogar die Versenkung der Flüchtlingsschiffe in Erwägung gezogen. Es gibt sicherlich Puristen, die dieser narrativen Darstellung von Geschichte kritisch gegenüber stehen.

 

Wie sieht Ihr Konzept vom Dokumentarfilm aus?

MICHEL DAËRON: Es gibt Puristen, und es ist ihr gutes Recht, die grundsätzlich den Einsatz von Musik im Dokumentarfilm ablehnen. Sie sagen, die Realität darf in keiner Weise inszeniert werden. Jeder Film, den ich gemacht habe, hat die gleichen Probleme aufgeworfen. Was ich hingegen an meiner Arbeit sehr interessant finde, ist, dass es einen historischen Teil gibt, der immer eine Forschungs- bzw. journalistische Arbeit im klassischen Sinn erfordert, andererseits aber gibt es auch die Suche nach dem erzählerischen Werkzeug. Für mich sind die Archive ebenso wie die Musik Erzählwerkzeuge von extremer Subjektivität. Meine Art, diese Geschichten zu schreiben liegt darin, niemals die Subjektivität dieser Werkzeuge zu beeinflussen und niemals, den Anspruch auf eine Objektivität der Realität zu erheben. Man kann stundenlang über das philosophische Konzept der Realität diskutieren, für mich existiert Realität nicht und ich komme wieder auf das Zitat von Magris zurück, Geschichte existiert nicht. Der Historiker erschafft und produziert Geschichte?. So sage ich "Realität existiert nicht. Der Dokumentarfilmer schafft und reproduziert die Realität".

 

Gilt das auch für die vorangegangenen Filme?

MICHEL DAËRON:  Bei Contrejour de Sibérie sagte mir ein Jury-Mitglied in München, dass es kein historischer Film, sondern ein hysterischer Film sei. Die Verwendung des Archivmaterials, man sieht Züge mit Deportierten in Richtung Gulag und die Musik unterstreicht in keiner Weise die Aussage, ganz im Gegenteil, sie ist auf ihre Art beinahe auf ungehörige Weise fröhlich. Es gibt ja auch den Aspekt der Fröhlichkeit im extremen Schmerz. Von den Frauen in Chaconne d'Auschwitz erfuhr ich, dass sie in Auschwitz lachten, dass es dort mitten in der Hölle Momente des Glücks gegeben hat, viele sagen, es ist nur dem Humor zu verdanken, dass wir überlebt haben. Ich glaube, es ist der Subjektivität zu verdanken, dass man überlebt. Die historischen Filme, die ich gemacht habe, sind keine Pamphlete, die einen Bildungsanspruch erheben. Es sind Filme, die eine Geschichte erzählen, sie sind auch Dokumentarfilme, gleichzeitig verteidige ich aber ihre Subjektivität. Im Französischen existiert das Konzept des "docu-menteur", das mir aus Lust an der Provokation gefällt, wenn es auch etwas restriktiv ist, aber es gefällt mir die Idee, die Elemente in ihrem zutiefst subjektiven Inhalt zu bearbeiten.

 

Die Musik war auch in Atlantic Drift Stein des Anstoßes? Welche Idee steht hinter der Filmmusik.

MICHEL DAËRON:  Während ich das Buch schrieb, begann ich den Ausdruck "lyrischer Western" zu verwenden, wo sich die Bilder der Donau mit einem musikalischen Tagebuch vermischten. Ich sah mich den verschiedenen Elementen gegenüber -da war ein sehr persönliches Bilder-Tagebuch mit den Skizzen von Fritz Händel, der täglich zeichnete - weiters ein literarisches Tagebuch, das von einem weiblichen Flüchtling verfasst worden war, und eine dritte, wenn auch etwas kühle Form, ist das "Gegen-Tagebuch" der Archive. So wurde die Musik zu einem Ton-Tagebuch, das eine weitere Figur im Film repräsentiert. Es ging mir darum, dass der Komponist eine Musik schreibt, die die metaphorische Projektion dieser Geschichte in die heutige Welt sein könnte. Jedes Niveau des Films, seien es die Interviews mit den Überlebenden, seien es die Archive, sei es Ruths Stimme, die man nie zu sehen bekommt - jedes dieser Erzählniveaus wird durch eine Musik, die ihre eigene Erzählung vertritt, durchquert. Auch das war eine komplett subjektive künstlerische Entscheidung.

 

Sowohl für die Musik als auch für die Kamera gelang es Ihnen, eine außerordentliche Equipe zusammenzustellen?

MICHEL DAËRON:  Genau. Ich kann nicht dankbar genug sein, mit Georges Diane, einem der größten Kameraprofis, zusammenzuarbeiten. Ich schätze es, wenn ein Kameramann aus der Welt der Fiktion in die Welt des Dokumentarfilms wechselt und dabei Super-16 als Format beibehält. Ich finde, man sollte nicht, nur weil es sich um einen Dokumentarfilm handelt, auf überstürzte Weise drehen. Das heißt nicht, dass ich gegen DV bin, es ist wunderbar dann, wenn es absolut unverzichtbar ist. Was ich an Georges sehr schätze ist, dass er ein Kameramann ist, der es gewohnt ist, im Komfort des Spielfilms zu arbeiten, der aber mit der Realität des Dokumentarfilms umzugehen weiß. Man muss beim Dokumentarfilm permanent eine unglaubliche Gymnastik vollbringen und sich ständig fragen, wie werden wir das lösen ohne Digitalkamera, mit der man 70, 80 Stunden drehen kann. Ich liebe diese Sparsamkeit, wenn man nur einige Einstellungen pro Tag erledigt. Die Rekonstruktion dieses tragischen Schicksals ist manchmal kontrastiert von sehr "touristischen" Einstellungen aus Mauritius. Diese Einstellungen repräsentieren das, was in der Vorstellungen jedes einzelnen von Mauritius als eine touristische Destination vorherrscht. Etwas, was auch in Ruths Tagebuch sehr präsent ist, ist die permanente Überlagerung von Schönheit und Schrecken. Die touristischen Bilder von Mauritius sind ein Zugeständnis an die Schönheit, eine Art Bühnenbild für den Ablauf von Schlomos und Hannahs Geschichte und die dramatische Entwicklung ihrer Beziehung, wenn er sich dem physischen Ort des Todes seines Vaters nähert und sich gleichzeitig noch etwas mehr davon entfernt, weil seine Mutter weiterhin darüber nicht redet. In gewisser Weise war es für mich der Versuch, eine Spur der plastischen Schönheit zu lassen.

 

Sind die Arbeiten Fritz Händels inzwischen auch einem größeren Publikum zugänglich geworden?

MICHEL DAËRON: Fritz Händel wird nun durch einen Agenten in Jerusalem vertreten, ebenso wie Schlomo, der auch wieder zu malen begonnen hat. Er hat offensichtlich 20 Jahre lang nicht gemalt, jedenfalls hat er das Talent seines Vaters geerbt, auch wenn seine Arbeiten grundlegend anders sind. Ich glaube, dass eine Ausstellung in N.Y. in Vorbereitung ist, die den Titel Father and Son hat. Bleibt zu hoffen, dass seine Arbeiten mehr Bekanntheit erlangen. Fritz Händel war offensichtlich einer dieser universellen Menschen, denen alles gelingt, was sie sich vornehmen. Er war einerseits einer der führenden Figuren in der Schiffsleitung, er war ein versierter Pianist, Zeichner, Maler, er machte Marionetten. Und ich glaube, dass ein Großteil der Zeugen so tief der Erinnerung an diesen Mann verbunden ist, weil man sich die Frage stellt - wie kann man dem Holocaust entgehen, über so viele Möglichkeiten, ein derartiges Potenzial, des künstlerischen Ausdrucks verfügen und sich schließlich doch das Leben nehmen, zu einem Zeitpunkt, wo man sich als gerettet betrachten kann. Für mich ist das die wahre Frage. Der Film gibt keine Antwort, aber ich denke, er verharrt genau auf dieser Frage ohne Antwort.

 

Interview: Karin Schiefer (2002)