«In der letzten Szene, wo sie zusammen sind, gibt es einen Punkt, wo alles gut ausgehen könnte. Zuerst ist sie wütend, dann
macht sie das Geschenk auf und da sagt sie, "du weißt doch schon lange, dass ich eine Hure bin. Da könnten sie miteinander
Frieden machen. Es wäre nicht ideal, aber sie hätten eine echte Chance. Da ist aber dieses furchtbare Problem der Sexualität,
das sich überall hineinzwängt, dass jeder Mann auf der Welt zu ihr gehen darf, nur er nicht. Das verkompliziert alles.» Michael
Sturminger über seine Verfilmung von Gabriel Loidolts Roman Hurensohn, die in Saarbrücken mit dem Filmpreis des Saarländischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet wurde.
Sie haben Anfang der neunziger Jahre zwei Filme gedreht, in den vergangenen Jahren sehr viel Oper und Theater inszeniert,
bedeutet Hurensohn eine Rückkehr zum Film?
MICHAEL STURMINGER: Es gibt sehr wenige Kollegen, die vom Kinofilm leben können. Ich hab in den letzten Jahren auch Drehbücher geschrieben, die
abgelehnt wurden oder welche für andere - Wolfgang Murnberger oder Florian Flicker - geschrieben. Die Rückkehr zum Film hat
sich vielmehr ergeben. Man ist ja als Regisseur sehr davon abhängig, welche Möglichkeiten einem geboten werden und das ist
von Zufällen geprägt. Theater ist schnelllebiger als Film und bietet mehr Möglichkeiten. Es war mir in erster Linie wichtig,
meine eigenen Sache machen zu können als etwas aus materieller Notwendigkeit machen zu müssen. Es ist problematisch, wenn
man etwas des Geldes wegen machen muss, weil es einem ein bisschen die Liebe ruiniert. Es ist mir gelungen, etwas zu halten,
was ich wirklich mit Leib und Seele machen will. Bei Hurensohn hat es Jahre gedauert von der Idee, den Film zu machen bis
zum Dreh.
Wie sind Sie auf den Roman von Gabriel Loidolt gestoßen?
MICHAEL STURMINGER: Völlig zufällig in einer kleinen steirischen Buchhandlung, ich las die erste Seite und dachte mir - das nehme ich mit. Ich
nehme oft einen ganzen Stoß Bücher mit. Das da hab ich aber in einem durchgelesen und am nächsten Tag Josef Aichholzer, den
Produzenten, angerufen und ihm gesagt, er solle es auch lesen. Zwei Tage später beschlossen wir, dass er sich um die Rechte
zu bemühen würde.
Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, wo Ozren die Geschichte als Tragödie ankündigt. Warum haben Sie die dramaturgische
Entscheidung getroffen, das Ende vorwegzunehmen?
MICHAEL STURMINGER:Der Roman funktioniert so. Der Roman beginnt mit dem Geständnis. Es gab sehr viele Für und Wider und viele Meinungen zu dieser
Lösung. Ich habe Leuten verschiedene Fassungen gezeigt und mit ihnen diskutiert, man ist ja immer wieder auf der Suche nach
der Unschuld dem Stoff gegenüber. Irgendwann ist klar, dass man nur sein eigenes Bauchgefühl hat und die Objektivierbarkeit
gegen Null geht. Beide Versionen lassen sich dramaturgisch einwandfrei begründen. Dramaturgisch gesehen bekommt eine Geschichte,
die so vorbestimmt ist, eine starke Aufladung, was ein Vorteil und ein Nachteil sein kann. Das Wissen verliert aber nach einer
gewissen Zeit wieder an Bedeutung und das halte ich für den interessanten Effekt. Man meint, dass dieses Geständnis stören
könnte und alles, was nun folgt, nur noch in Erwartung dieses Todes gesehen wird. Es stellt sich aber heraus, dass auch der
Film einen Alltag hat und man möglicherweise wieder ganz darauf vergisst.
Letztendlich kommt es auch anders als erwartet...
MICHAEL STURMINGER: Das ist die zweite Sache, dass ich die Zuschauer auf eine Fährte schicke und hoffe, sie überraschen zu können. Der Film entwickelt
keine Absehbarkeit, auch wenn man glaubt, es ist viel vorweg genommen. Was mich letztlich dazu bewogen hat, war das Buch.
Es beginnt mit dem Satz, "Ich habe meine Mutter umgebracht, meine allerliebste Mutter". Auch hier geht man auf eine Reise,
wo man glaubt zu wissen, wie es ausgeht. Wir haben sehr viel am Buch ändern müssen, weil es ein innerer Monolog ist. Ozren
sitzt das ganze Buch lang am Klo, und lässt seine Erinnerungen ineinander fließen und kommt immer wieder auch in die Gegenwart.
Der Cast war sicherlich eine große Herausforderung. Es galt vier Ozrens zu finden und darüber hinaus haben Sie zwei Hauptrollen
mit hochkarätigen Stars besetzt. War Miki Manoijlovic ein Wunschkandidat?
MICHAEL STURMINGER: Ja. Das war ein echter Wunschkandidat, an ihn dachte ich beim Schreiben. Die Rolle ist ja fast zu klein, es gibt nur ein paar
Momente, wo er zeigen kann, was er kann. Er ist jemand, der so eine unglaubliche Güte und Menschlichkeit ausstrahlt und mir
war sehr wichtig, dass dieses Kind viel Schönes erlebt. Bei der Rolle der Mutter war Grundvoraussetzung, jemanden zu finden,
der sympathisch ist. Chulpan Khamatova strahlt so viel Wärme aus, dass es nicht leicht ist, sie unsympathisch zu finden. Ich
wollte den Eindruck vermeiden, dass ihr eine Schuld zukommt. Außerdem brauchte ich jemanden, dem man den Alterswechsel von
18 bis 34 abnimmt. Chulpan kann zwischen 15 und 40 alles spielen. Sie hat so etwas Kindliches und auch sehr Erwachsenes.
Wie sah die Suche nach Ozren aus?
MICHAEL STURMINGER: Man musste zunächst einen 16-jährigen Ozren finden, dann seine kleinen Versionen. Stanislav Lisnic kommt aus Moldawien und
lebt in Österreich, er hat mich sehr überzeugt und sehr glücklich gemacht. Den Achtjährigen finde ich sehr gut, die dreijährige
Version ist auch in Wirklichkeit sein kleiner Bruder. Mit dem Dreijährigen zu drehen war eine echte Herausforderung. Die wirklich
tollen Kinderfilme entstehen meist in Ländern, wo sehr viel Zeit zur Verfügung steht. Je mehr Zeitdruck da ist, desto schlechter
sind die Kinder. Der Achtjährige ist sehr begabt, aber bei einem Dreijährigen ist es so, dass der tut, was er will. Er geht
die Stiege rauf, man kann es 25 Mal machen, ohne dass es funktioniert, weil er einfach stehen bleibt oder sich umdreht. Es
läuft einem die Drehzeit davon, alle verlieren die Nerven und als Regisseur muss man ruhig bleiben. In dem Moment, wo es dann
passiert, ist es wie ein Gottesgeschenk. Wenn es einen Gott gäbe, würde ich es als solches bezeichnen. Es ist ein reines Glück,
was er tut. Man muss da sehr flexibel sein und würde ein Vielfaches der Drehzeit benötigen, wenn man es wirklich gut haben
will.
Wie sehen Sie den Unterschied zwischen Film und Theater in der Schauspielerarbeit?
MICHAEL STURMINGER: Im Theater hat man einen rohen Stein, den man langsam rundherum behaut und der nach und nach genauer wird. Im Film muss man
aus dem großen Stein sofort eine Nase herausmeißeln und wie sie dann ist, ist sie. Das heißt der methodische Unterschied ist
groß, aber andererseits ist der Versuch, eine Wahrhaftigkeit herzustellen sehr ähnlich. Ich glaube nicht an gute Theaterschauspieler,
die schlechte Filmschauspieler sind. Natürlich gibt es ein gewisses Handwerk am Theater, das man im Film nicht braucht, um
wirklich gut zu sein. Viel Technik, Lautstärke und Maske machen es manchmal sogar schwerer, eine glaubwürdige Figur zu kreieren.
Georg Friedrich ist bei den Filmfestspielen in Berlin Österreichs Shooting Star. In Hurensohn spielt er eine seiner großartigen Nebenrollen.
MICHAEL STURMINGER: ch kenne Georg schon sehr lange und schätze ihn sehr. Ich habe ihn zum Theaterspielen überredet, er hatte seit 15 Jahren nicht
Theater gespielt und wir haben Geschichten aus dem Wiener Wald und Was ihr wollt gemeinsam gemacht. Er hat diese Fähigkeit,
ganz bei sich zu bleiben und das, was er in Hundstage hingelegt hat, ist etwas, was es im österreichischen Film ganz selten
gibt. Er hat eine Direktheit und Offenheit, es ist immer ein Vergnügen mit ihm zu drehen und er kann natürlich das Milieu
bedienen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass jemand anders diese Rolle hätte spielen können, das war beim Schreiben
schon klar.
Mit Maria Hofstätter spielte noch eine zweite Darstellerin, die dank ihrer Leistung in Hundstage auf sich aufmerksam gemacht
hat.
MICHAEL STURMINGER: Maria Hofstätter ist eine wunderbare Darstellerin, auf sie kam ich erst viel später, da ich jemand anderen gesucht hatte.
Ich überlegte lange, aber ich entschloss mich dann etwas, das man auch am Theater lernt -, dass ich lieber die Konzeption
einer Figur einem Schauspieler entgegenbringe, als unbedingt an meiner ersten Vorstellung festzuhalten. Das führt nämlich
dazu, dass der Schauspieler so aussieht, wie man es sich vorgestellt hat, er aber nicht das spielen kann, was man sich vorstellte.
Mit Maria hatte ich das Glück, dass sie das spielen wollte. Wenn ich eine Besetzung mache, dann suche ich zu siebzig Prozent
einen guten Schauspieler, der vielleicht zu dreißig Prozent für das passt, was ich brauche. Aber zunächst muss ein Potenzial
da sein, das kann man als Regisseur nicht schaffen. Filme sind voll von Figuren, die sich daraus ableiten, wie jemand ausschaut,
was er vorher gespielt hat, welchen Namen er hat, selten von der schauspielerischen Qualität und was da drinnen steckt in
den Leuten. Die Arbeit des Regisseurs ist zumindest zu fünfzig Prozent das Casten.
Hurensohn ist eine sehr komplexe Geschichte aus einer Reihe von Einzelschicksalen, die Mutter und der Sohn im Vordergrund, aber auch
der Onkel, die Tante oder die neue Mitschülerin verbergen ganze Schicksale hinter ihren Rollen.
MICHAEL STURMINGER: Sie ist komplex und wieder einfach. Sie hat einen Bogen, den sie einlöst, aber im Prinzip versucht sie, einen Wirklichkeitsausschnitt
zu zeigen, der Menschen auch in ihrer Tiefe ahnbar macht. Ich hoffe, dass jede dieser Figuren einem klar macht, dass es niemanden
gibt, der außerhalb seiner Befindlichkeit steht, dass man weder einen Bösen noch Schuldigen braucht, um in einer Welt zu leben,
wo das Überleben für den Einzelnen sehr schwierig wird. Ich finde, dass es eine schicksalhafte Geschichte ist, insofern als
es sich nicht 1:1 aus dem Verhalten der Protagonisten resultiert, sondern, dass es einfach passiert. Ich sehe die Mutter als
eine Figur, die nicht über den Punkt kommt, sich selber anzunehmen. Sie ist ehrgeizig, intelligent und auch erfolgreich, sie
hätte alles, was ein schönes Leben auszeichnet, aber sie kann sich selber nicht verzeihen, dass sie eine Hure ist und kommt
nicht über diesen Punkt. Wir erwarten Dinge von uns, denen wir nicht entsprechen können, das macht das Leben unerträglich.
Was ist Ozrens Problem?
MICHAEL STURMINGER: Die Scham über den Beruf seiner Mutter, die Verachtung, die er trotz seiner Liebe für sie empfindet? Ich glaube, es ist das
fehlende Vertrauen und das fehlende Selbstbewusstsein der Mutter. In der letzten Szene, wo sie zusammen sind, gibt es einen
Punkt, wo alles gut ausgehen könnte. Zuerst ist sie wütend, dann macht sie das Geschenk auf und da sagt sie, "du weißt doch
schon lange, dass ich eine Hure bin". Da könnten sie miteinander Frieden machen. Es wäre nicht ideal, aber sie hätten eine
echte Chance. Und dann ist da dieses furchtbare Problem der Sexualität, das sich überall hineinzwängt, dass jeder Mann auf
der Welt zu ihr gehen darf, nur er nicht. Das verkompliziert alles. Sie könnte ihm sagen, jetzt weißt du's und du darfst nicht
herkommen. Wir trennen das, aber ich muss dir nichts mehr vorspielen, wir versuchen ehrlich damit umzugehen. Und dann ist
da dieses blöde Buch, auf dem sie ausrutscht. Es ist ein Pech, aber gleichzeitig spielt auch diese unbewältigte Situation
eine Rolle, die man immer mit sich herumträgt und die dann möglicherweise irgendwann zu so etwas führt.
Er selbst beschreibt sich als Außenseiter. Was macht ihn dazu?
MICHAEL STURMINGER: Es gelingt ihm nicht, genügend Distanz zu seiner Mutter aufzubauen. Er hat immer das Gefühl, er hat zu wenig von ihr und
hängt deshalb zu sehr an ihr. Er wird ihr gegenüber nicht erwachsen. In der Schule hat er als Ausländer- und Hurenkind natürlich
Probleme, aber das wäre alles zu bewältigen. Ich wollte nicht, dass man das Gefühl hat, dass das Milieu dafür verantwortlich
ist. Er bewundert seine Mutter zu sehr, sie ist etwas Entrücktes für ihn, und daher ein aufgeblasenes Überbild. Wenn sie sagen
könnte, ich mache das, weil ich nicht anders kann und bin darüber unglücklich, wäre ein Weg offen, wo sie miteinander auskommen
könnten. Aber sie ist immer perfekt, immer die Tolle.
Das Klo ist ein neuralgischer Punkt, der Ort des Rückzugs und auch der Ort, der das Geheimnis aufbricht.
MICHAEL STURMINGER: Das kommt aus dem Buch, wo Ozren immer am Klo sitzt und von da aus die ganze Geschichte erzählt. Jeder flieht in jedem Alter
aufs Klo und das Thema des Fluchtortes zieht sich durch und funktioniert im Film auch ganz gut. Es gab eine Version mit sehr
viel mehr innerem Monolog, vielen Übergängen und Rückblenden. Ich hab es dann immer puristischer gemacht. Es war nicht so
einfach, Entscheidungen bezüglich Musik und Schnittrhythmus zu treffen, weil ich jetzt schon lange keinen Film mehr gemacht
habe. Ich denke, bei einem dritten Film würde ich mir schon leichter tun.
Jürgen Jürges, ist jemand, der gerne mit jungen Regisseuren arbeitet...
MICHAEL STURMINGER: ...und gleichzeitig mit so vielen alten Hunden gedreht hat. Der ist wirklich ein Glücksfall für mich gewesen. Der ist so
unglaublich offen und interessiert und hat in keiner Sekunde die Gönnerhaftigkeit des alten Profis, der dir sagt wie's geht.
Er ist von einer unglaublichen Bescheidenheit und wirklich ein Künstler. Er kann wahnsinnig viel und hat mir enorme Sicherheit
gegeben. Erstaunlich war, wie wenig er mich an der Hand nahm, um mir zu sagen, wie es geht. Er hat sich unheimlich bemüht
herauszufinden, was ich will und nie versucht, mir etwas einzureden.
Wie kam es zu diesem völlig stilisierten Schlussbild, das einen deutlichen Bruch zum Rest der Geschichte setzt?
MICHAEL STURMINGER: Die Idee war, dass sie sich durch ihren Tod wieder der Beurteilung für ihren Sohn entzieht. Sie bleibt am Schluss nur mehr
eine Ikone. Ein Toter ist kein angreifbarer Mensch mehr, sie entzieht sich wieder der Auseinandersetzung, ist nur mehr wunderschön
und unerreichbar wie eine Diva. Deshalb entschieden wir uns für diese Lösung. Wir hatten beim ganzen Film versucht, so selbstverständlich
und zurückhaltend wie möglich zu filmen und uns sehr auf die Figuren zu konzentrieren. Am Schluss kommt es zu einer Stilisierung,
da sind wir aber aus der Geschichte schon ausgestiegen. In gewisser Weise schließt sich der Bogen, wenn der Onkel Ozren vom
Klo wegholt, das ist der Anfang vom Schluss und das Leben geht irgendwie weiter. Das andere ist fast so ein nachgestelltes,
überhöhtes Klagebild, das ästhetisch herausspringen sollte.
Interview: Karin Schiefer (2004)