«Den Status quo in Frage stellen». Michael Haneke über seinen im Wettbewerb von Cannes uraufgeführten Film Code Inconnu und seine geplante Verfilmung von Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin.
Nach vier österreichischen Kinofilmen ist mit Code Inconnu Ihr erster französischer Film entstanden. Wie kam es zu dieser
Produktion?
MICHAEL HANEKE: Durch Juliette Binoche, die mich eines Tages anrief und fragte, ob wir nicht etwas miteinander machen können. Ich wollte
immer schon einen Film über die neue Völkerwanderung machen, die ja das große Thema dieses Jahrhunderts sein wird. Es gab
an der Wende von der Antike zum Mittelalter eine Völkerwanderung, jetzt gibt es eine neue, die im Detail natürlich andere
Ursachen hat, aber im Prinzip waren es damals wie heute wirtschaftliche Gründe, das Gefälle zwischen Arm und Reich. Das passt
vielen Leuten bei uns nicht, ist aber unumgänglich. In Europa gibt es jetzt bereits zwei Städte, wo man das deutlich ablesen
kann und wo tatsächlich eine multikulturelle Gesellschaft existiert. Und eine davon ist Paris. Nachdem Juliette mich gefragt
hatte, ob wir etwas miteinander machen, sagte ich mir, was kann ich, der ich ja nicht Franzose bin, schon über Frankreich
groß sagen, was die Franzosen nicht besser sagen können. Und das hat sich mit dieser Konstellation gut getroffen: ich als
Fremder mit dem Thema der Fremdheit. Ich habe mehrere Monate in Paris recherchiert begonnen und so entstand dann dieses Buch.
Wie haben sich die Arbeitsbedingungen für Sie als Regisseur in Paris von Ihren bisherigen österreichischen Erfahrungen unterschieden?
MICHAEL HANEKE: Im Prinzip gibt es da und dort gute und schlechte Leute. Der Unterschied für mich lag natürlich darin, dass es wesentlich
anstrengender ist, in einer Sprache zu drehen, die man nicht perfekt beherrscht. Es bedarf wesentlich größerer Konzentration,
um da auf der Höhe seiner Möglichkeiten zu sein. Das war der eigentlich stressende Unterschied.
Sprache bzw. die Schwierigkeiten der Verständigungen sind ja ein wichtiger Aspekt in Ihrem Film?
MICHAEL HANEKE: Der überwiegende Teil ist in Französisch, aber insgesamt ein Drittel des Films wird in anderen Sprachen gesprochen, in Rumänisch,
in einem afrikanischen Dialekt, der in Mali gesprochen wird, und in Taubstummensprache. Es geht ja wieder mal, wie immer in
meinen Filmen, um die Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Kommunikation.Juliette Binoche, die Hauptdarstellerin Ihres Film,
ist nicht nur eine große Schauspielerin. Sie ist ein Star.
Welche Bedeutung hat das für Sie?
MICHAEL HANEKE: Überhaupt keine. Das war genau so, wie mit jedem anderen Schauspieler. Sie ist sehr professionell, aber das sind gute Schauspieler
eigentlich immer. Und außerdem ist sie eine neugierige Schauspielerin. Die Arbeit war mit ihr genauso wie mit allen anderen,
spannend und bereichernd.Die Dramaturgie des Films ist eine sehr radikale und unterscheidet sich deutlich von Ihren bisherigen
Arbeiten.
Was hat Sie an dieser filmischen Erzählstruktur, die sich durch die Plansequenzen ergibt, gereizt?
MICHAEL HANEKE: Es gibt ja auch in meinen anderen Filmen eine ganze Reihe von Szenen, die in einer Einstellung durchgedreht wurden. Also,
das ist schon etwas, wozu ich grundsätzlich tendiere. Wie alle meine Filme, beschäftigt sich auch dieser mit der Frage, ob
es überhaupt möglich ist, Realität im Kino abzubilden oder ob die Vorgabe, Realität als Wahrheit zu behaupten, schon von vornherein
eine Lüge ist. Wenn man die Montage ausklammert, hat man zumindest einen Teil der Manipulation ausgeklammert. Das heißt, ich
bin zumindest gezwungen, in Realzeit eine Szene zu drehen ohne die Möglichkeit, den kontinuierlichen Zeitablauf zu verkürzen
oder zu verlängern, wie ich das mit der Montage kann.
Wie intensiv mussten diese großen Szenen geprobt werden?
MICHAEL HANEKE: Es gibt eine Szene die wir sehr genau geprobt haben. Die Eröffnungssequenz am Boulevard, die zehn Minuten dauert, wo 200 Leute
und alle Schauspieler vorkommen, haben wir zwei Tage lang probiert. Es gibt noch eine Szene auch mit vielen Statisten in einem
Restaurant, die auch ähnlich lang ist, die haben wir einen Tag probiert und einen Tag gedreht. Sonst haben wir ganz normal
gearbeitet.
Wo würden Sie Code Inconnu in der Reihe Ihrer bisherigen Filme einordnen.
MICHAEL HANEKE: Das kann ich nicht, das müssen die anderen machen. Solche Selbstinterpretationen oder Selbstkategorisierungen sind immer schwierig.
Da weigere ich mich, weil man sich da meistens in die Nesseln setzt. Aber ich meine, jedem Vater sind alle seine Kinder gleich
lieb aber natürlich ist das letzte immer im Moment das wichtigste. Andererseits sind Gemeinsamkeiten offensichtlich. Etwa
die kritische Haltung zur Abbildung von Wirklichkeit im Kino. In Benny's Video oder Funny Games kommt das natürlich besonders stark vor, aber auch durch die Reduktion der Form in Der Siebente Kontinent, das ist ja auch kein naturalistischer Film. Das ist immer ein Kino, das sozusagen unter Anführungszeichen lebt. Und weil
das wirklich das Thema ist, von dem ich denke, dass es für jeden Filmemacher im Zeitalter der medialen Manipulation eine Conditio
sine qua non ist. Wer das nicht reflektiert, den kann ich nicht ganz ernst nehmen. Man kann nicht so tun, als wäre man im
19. Jahrhundert und als ließe sich Wirklichkeit in toto wiedergeben. Das ist absurd. Aber genau das machen ja 90 Prozent der
Regisseure und beziehen aus diesen Erklärungsmodellen, die sie damit liefern, natürlich auch ihre Publikumswirksamkeit. Die
Leute wollen ja beruhigt und nicht irritiert werden. Aber Kunst ist eigentlich immer dazu da, den Status quo in Frage zu stellen.
So gesehen sind Haneke-Filme eigentlich immer hochpolitisch.
MICHAEL HANEKE: Kommt darauf an, was man unter politisch versteht, wenn man das weit definiert, sage ich ja. Aber meine Filme haben nie irgendwelche
parteipolitischen Interessen vertreten, das hat mich immer gelangweilt. Nicht nur das, ich finde, das ist auch ein Widerspruch
in sich. Wer sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, kann sich keinem Parteiprogramm verpflichten.
Ein zentrales Thema von Code Inconnu ist Fremdenfeindlichkeit...
MICHAEL HANEKE: Aber das ist keine politische Frage, das ist eine humanistische, eine moralische Frage, denke ich. Fremdenfeindlichkeit ist
eine Mischung aus Dummheit und Angst. Das einzige, was man dagegen tun kann, ist zu versuchen, die Leute ein bisschen aufzuklären
und auf der anderen Seite die Leute, die daraus Nutzen ziehen wollen, bloßzustellen.
Ihr nächster Kinofilm wird wieder ein österreichischer sein. Nach Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin.
MICHAEL HANEKE: Das Projekt ist ja nun schon sehr lange in Ihrem Kopf. Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Ich habe seinerzeit das
Drehbuch geschrieben, um es auch selber zu machen. Das hat aus verschiedensten Gründen nicht hingehauen. Dann hat sich der
Paulus Manker um die Rechte bemüht und fragte mich, ob ich ihm das Drehbuch schreibe und das habe ich schließlich auch getan.
Das Buch blieb dann leider Gottes fast zehn Jahre liegen. Ich sagte damals schon, dass ich diesen Film, wenn ich ihn mache,
mit Isabelle Huppert machen möchte. Jetzt sind die Rechte alle wieder zurück gefallen. Und dann hat mich der Veit Heiduschka
von der Wega-Film eben gefragt, ob ich es nicht machen möchte. Er hat sprach auch mit Elfriede Jelinek und die hielt es auch
für eine gute Idee. Und naja, so findet das jetzt statt. Ich habe gesagt, ich mache es nur, wenn die Huppert spielt.
Wann sollen die Dreharbeiten für Die Klavierspielerin beginnen?
MICHAEL HANEKE: Ab August. Es wird gemischt gedreht, d.h. die drei Hauptdarsteller sind französisch und der Rest, da gibt es ja noch eine
ganze Reihe von Schauspielern und Kleindarstellern und das werden natürlich Leute von hier sein. Und es wird dann sozusagen
zwei Originalfassungen geben, eine französische und eine deutsche. Geplant ist eine Drehzeit von drei Monaten in Wien. Es
wird ein langer und schwieriger Film, der mindestens 2 1/2 Stunden dauern wird. Es wird Ihre erste Literaturverfilmung fürs
Kino sein. Es ist, wenn man so will, ein Psychodrama aber ohne die Erklärungen des Psychodramas. Ich lehnte es bisher immer
ab, Literaturverfilmungen fürs Kino zu machen, weil im Großteil der klassischen Romanliteratur die Verhaltensweisen der Figuren
immer begründet und analysiert werden. Das ist genau das, wogegen ich im Kino immer polemisiere. Und die Jelinek tut das nicht.
Bei Elfriede Jelinek gibt es auch eine Aufzählung von psychologischen Faktizitäten, aber keine Begründungen. Und das wird
der Film auch haben, dadurch wird er auch seine Irritation nehmen. Es wird den Leuten eben nicht gesagt, wie sie es verstehen
müssen.
Interview: Karin Schiefer
April 2000