INTERVIEW

Kurt Mayer über ERIK(A)

 

«Ich glaube, dass Eriks Geschichte erzählt werden muss, weil sie Qualitäten hat, die vielen anderen Menschen helfen kann. Erik(A) ist ein Kinoerlebnis, das bewegt. Da setzt sich einer durch gegen die Familie, gegen einen übermächtigen Schiverband, gegen die Öffentlichkeit. Eine Geschichte, wie geschrieben fürs Kino. Und sie geht gut aus – wie in einem richtigen Hollywoodfilm.»

 

Sie waren in Schwimmer in der Wüste bereits auf den Spuren Ihres Vaters. Wie sind Sie auf die Spuren Erik Schineggers gelangt?

KURT MAYER:  Auf die Spur des Erik Schinegger ist Hanne Lassl gestoßen, die auch die Autorin des Drehbuches ist. Sie ist mit dem Stoff zu mir gekommen. Die Geschichte Erik Schineggers ist ein Thema, das jeden bewegt. Die Entscheidung für den Film fiel also ganz instinktiv, ich spürte, dass es wichtig ist, diesen Film zu machen, dass er machbar ist und dass er viele interessieren wird.

 

Hatte Hanne Lassl bereits eine Recherche durchgeführt oder zunächst einmal das Thema an sich aufgegriffen?

KURT MAYER: Hanne hat sich lange und sehr intensiv mit Gender-Fragen befasst und sie kannte das Buch von Erik Schinegger Mein Sieg über mich. Sie hat es in einem Antiquariat entdeckt. Es ist Ende der achtziger Jahre herausgebracht worden und längst vergriffen. So ist sie auf die Geschichte gekommen. Es hat sich in der Vorbereitungsphase herausgestellt, dass beinahe jeder, den man auf den Namen Erik Schinegger anspricht, auf dieses Thema reagiert, auch Leute, die viel zu jung sind, um von diesem Geschehen etwas mitgekriegt zu haben. Sein Schicksal hat das Land bewegt, mehr als man annehmen würde.

 

Der Film war also für Erik Schinegger nicht die erste Auseinandersetzung mit dem Thema, die sich an eine große Öffentlichkeit richtet.

KURT MAYER: Es war nicht das erste Mal, aber sicherlich von allen Versuchen, der intensivste. Das Buch hat ja jemand anderer geschrieben, außerdem ist ein Buch etwas, das kontrolliert, wieder gelesen und auch geschönt werden kann. Wenn jemand unabhängig einen Film macht, dann ist das etwas anderes, als wenn ich meine eigene Biografie verfassen lasse.

 

War er sofort bereit, dem Projekt zuzustimmen?

KURT MAYER:  Er war, kann man sagen, sehr rasch bereit, mitzumachen. MGM, also Hollywood, hatte vor einigen Jahren eine Option auf seine Geschichte erworben. Dann aber, ab dem Zeitpunkt, als Schineggers Scheidung von seiner ersten Frau an die Öffentlichkeit gelangt war, war es mit dem Interesse vorbei. Damit war das Happy-End fürs große Kino gestört und auch das Interesse an der Geschichte verloren. Wir brauchten für unseren Film kein Happy End à la Hollywood – im Gegenteil, die authentische Lebensgeschichte mit ihren Höhen und Tiefen macht die Spannung aus.
 

Wie erfolgte die Auswahl der Gesprächspartner?

KURT MAYER:  Wer die Protagonisten sind, stand durch das Buch fest. Vor allem galt es Jugendfreunde und Freundinnen zu finden, das erste Mädchen in Eriks Leben, den Nachbarbuben, der heute Bäcker im Burgenland ist. Aber auch den Teamarzt, der sich ganz sicher war, dass die Erika ein richtiges Mädchen ist, den Schiverbandsfunktionär, der das alles nie für möglich gehalten hätte und aus allen Wolken fiel. Einen Journalisten, der heute nicht mehr versteht, warum er froh war, kein Interview mit dem frischgebackenen Erik machen zu müssen. Natürlich waren nicht alle bereit, vor die Kamera zu treten. Es gab schon einige vor allem aus dem Schiverband, die sich geweigert haben und manche, die nicht zu überzeugen waren, dass es wichtig und notwendig ist, darüber zu sprechen.

 

Wie schwierig oder einfach war es, mit Erik Schinegger selbst über dieses Thema zu sprechen?

KURT MAYER:  Es gibt schon blinde Flecken, die wahrscheinlich direkt nicht mehr zu entfernen sind, aber die sind das Ergebnis einer bestimmten Persönlichkeit, Ergebnis einer zeitlichen Distanz. Das hat sich alles Ende der sechziger Jahre ereignet, das darf man nicht vergessen. Auch die Tatsache eines blinden Flecks, auch die Auslassung ist eine Erzählung in einer Erzählung.

 

So wie in diesem Film in vielerlei Hinsicht eine erzählte und eine nicht erzählte Geschichte stecken, es gibt nach wie vor vieles, das unausgesprochen bleibt und es bedurfte sicherlich sehr viel Fingerspitzengefühls für die Interviews.

KURT MAYER: Wir haben in großen Abständen immer wieder über mehr als ein halbes Jahr Interviews gemacht und wir haben viele Fragen mehrmals gestellt. Das ist manchmal besser, manchmal schlechter gegangen. Das ist der Vorteil, wenn man einen Film macht und keine Fernsehreportage. Man ist nicht darauf angewiesen, dass das, was jetzt in der folgenden halben Stunde passiert, das Endresultat sein muss.

 

Erik Schinegger spricht sehr lange nur aus dem Off und kommt erst relativ spät ins Bild. Welche dramaturgische Überlegung stand da im Hintergrund?

KURT MAYER:  Er kommt an dem Punkt der Erzählung ins Bild, wo er schildert, wie er sich nach Bekannt-Werden des Sextest-Ergebnisses erstmals der Öffentlichkeit gestellt hat – in St. Urban in der Kirche. Das ist der einzige öffentliche Ort, den es dort gibt und gleichzeitig ist das ein Ort ganz klarer Geschlechtertrennung - die Frauen links, die Männer rechts. Das war für mich der Zeitpunkt, wo man ihn auch im Film erstmals sehen muss. Bis dahin baut sich Spannung auf – wie sieht Erik heute aus?

 

Viele Gespräche wurden im Auto aufgenommen.

KURT MAYER:  Ja, es ist eine Reise. Es gibt sehr viele verschiedene Arten zu reisen und viele verschiedene Wege zu nehmen. Der Film versucht, den Zuschauer auf diese Reisen mitzunehmen, nicht nur von einem Ort zum anderen, sondern auch in die Tiefe sonst verschlossener Täler.

 

Erik Schinegger selbst steuert auch einiges aus seinem privaten Amateur-Filmarchiv bei?

KURT MAYER:  Es gab – und das war eine große Überraschung – es gab Homemovies, die authentisch sind und dadurch dem Film eine ganz besondere Qualität geben. Die Erzählung vierzig Jahre danach einerseits und die Aufnahmen aus der Zeit, ihre Textur und die Art, wie sie gemacht wurden, andererseits. Meine Lieblingseinstellung ist natürlich die am Start des WM-Abfahrslaufes in Portillo, wo er noch schnell mit der Hand in die Kamera winkt, bevor er losfährt.
 

Der Film thematisiert nicht nur die Gender-Frage, es geht auch um ein Stück Sportgeschichte, den Mythos Schilauf und v.a. auch die Maschinerie, die dahintersteht?

KURT MAYER: Das ist ein Thema, das im Film sehr präsent ist. Erik ist immer noch ein leidenschaftlicher Schifahrer und in den Schisequenzen spürt man das Elementare, das über das einfache Schifahren hinausgeht. Schifahren war ja auch die erste Medizin, die er gegen seine Verunsicherung eingesetzt hat. Der Leistungssport ist ein starkes Dopingmittel, das hilft einige Zeit.

 

Man gewinnt den Eindruck, dass er den Schmerz und die Demütigung, die er erfahren hat, sehr gut weggesteckt hat?

KURT MAYER: Man muss bedenken, dass er fast vierzig Jahre lang seine Geschichte immer wieder erzählen, sich immer wieder rechtfertigen musste. Bis heute ist das so. Jeder Blick, der ihm gilt, ist zugleich eine Prüfung. Ich glaube nicht, dass nur er das subjektiv so wahrnimmt, es ist tatsächlich so. Das ist eine Situation, die man sich schwer vorstellen kann. Wir kennen das nur punktuell, dass wir prüfend angeschaut werden. Was wir nicht kennen ist, wenn jeder Blick, jede Begegnung zu einer Identitätsprüfung und einer Geschlechtsprüfungsfrage wird. Er erwähnt das auch. Die ersten Fragen, die an ihn herangetragen werden, sind, wer ist er? ist er's? kann er's? ist er potent? Das ist eine Frage, die sich in kleinen Dosen einem Mann immer wieder stellt, oder er glaubt wenigstens, dass sie gestellt ist. Wenn sich das dann unter den gegebenen Umständen "potenziert", dann ist das schon ein Leben unter Hochspannung.

 

Haben Sie den Eindruck, man würde heute anders mit dem Thema umgehen?

KURT MAYER: Vielleicht. Natürlich ist das eine ganz andere Zeit. Der eine Journalist sagt ja auch, er versteht nicht, wie er so reagieren konnte. Es hat damals keine psychologische Betreuung nach der Operation gegeben. Umgehen würde man heute sicher anders damit. Ob das Ergebnis ein anderes wäre, wage ich nicht zu beantworten. Nach wie vor ist Sport in nationaler Hinsicht gesehen ein starkes, identitätstiftendes Element für eine Nation, da schwingt einiges mit. Wehe da wird etwas verunsichert. Man würde heute vielleicht eleganter damit umgehen. Man hätte weniger Probleme, Dinge beim Namen zu nennen, aber man würde trotzdem auf andere Weise zu verstehen geben, dass man damit nicht wirklich konfrontiert sein will.

 

Von Seiten des Verbandes oder der Familie gibt es wenig Gewissenbisse?

KURT MAYER: Nein, da hat man seine klaren Positionen. Vom Vater, der nun schon lange tot ist, wollte man so komplizierte Dinge fernhalten, er wurde von einer sehr dominanten Mutter ganz hinausgehalten, die ihre Lieblingstochter gehegt und das Schifahren unterstützt hat. Erik ist natürlich auch als der, der Karriere gemacht hat, in der Familie in einer Sonderposition.

 

Neben den Teamkolleginnen ist auch Karl Schranz immer wieder präsent. Welche Rolle spielt er als Kollege und welche Rolle spielt die Sequenz mit seinem Startverbot in Sapporo und seinem Empfang in Österreich?

KURT MAYER: Beide waren im Nationalteam in Portillo, Schranz ist damals gestürzt. Schranz hat auch immer wieder beim Training gesagt – "Mir fahrt kein Weiberleut davon", als die Erika immer schneller geworden ist, hat immer wieder seine Zweifel geäußert, hat sie auch immer wieder einmal aufgrund ihrer tiefen krächzenden Stimme "Adele Sandrock" genannt. Das sagt er nicht vor der Kamera, aber es ist nachzulesen. Für mich ist Karl Schranz eine Art Gegenbild. Es gab damals das Startverbot für Schinegger und wenig später aus ganz anderen Gründen das Startverbot für Schranz, das wollte ich gegenüber stellen. Schranz gilt als eindeutig männlich. Ein Schistar, dessen Gender-Identität außer Zweifel steht. Wenn seine Fassade in irgendeiner Form angekratzt wird, dann steht die ganze Nation bis zum Kanzler auf und beschützt ihn. Er steht für die Fassade der Nation, die man vor allen Witterungseinflüssen schützt. Wenn so eine Fassade, wie bei Erika, von innen in Frage gestellt ist, dann gibt es keinen Pardon.

 

Kann man sagen, er hat Pionierarbeit geleistet?

KURT MAYER:  Die Geschichte von Erik Schinegger ist wie ein großes Märchen, eine beispielhafte Erzählung über Courage. Die meisten Filme, die sich dem Thema der Intersexualität widmen, zeigen ein ganz anderes Bild. Viele, die mit dem Problem konfrontiert sind, geraten an den Rand der Gesellschaft, suchen Zuflucht in urbanen Subkulturen. Erik ist Energie geladen und von Ehrgeiz getrieben. Sonst wird man kein Weltmeister, sonst schafft man es vielleicht auch nicht in den eigenen Ort zurückzugehen und dort gegen alle Widerstände Erfolg zu haben. Er lebt bis heute in seinem Dorf, in St. Urban in Kärnten, die Schischule ist ein paar Kilometer den Berg hinauf und es war sehr sehr wichtig für ihn, in seinem Ort zu bleiben und sich dort durchzusetzen. Ich glaube, dass Eriks Geschichte erzählt werden muss, weil sie Qualitäten hat, die vielen anderen Menschen helfen kann. Erik(A) ist ein Kinoerlebnis, das bewegt. Da setzt sich einer durch gegen die Familie, gegen einen übermächtigen Schiverband, gegen die Öffentlichkeit. Eine Geschichte, wie geschrieben fürs Kino. Und sie geht gut aus - wie in einem richtigen Hollywoodfilm.

 

Welche Bedeutung kommt den Sequenzen mit den Kindern und Schülern des Schigymnasiums zu?

KURT MAYER: Es verankert die Eriks Schicksal in der Gegenwart: Es gibt jedes Jahr in Österreich zwanzig Neugeborene, die in irgendeiner Weise mit diesem Problem fertig werden müssen. Intersex ist heute leichter und schneller zu diagnostizieren, die Methoden des operativen Eingriffs haben sich verfeinert, aber der Umgang der Menschen mit Identität und Sexualität hat sich vielleicht nicht ganz so toll weiterentwickelt, wie das man glauben möchte.

 

Erik(A) ist in den Medien nicht nur von Filmjournalisten thematisiert worden.

KURT MAYER: Erik(A) ist von Filmkritikern mehrheitlich positiv aufgenommen worden. Darüber hinaus haben auch viele Sport- und Gesellschaftsjournalisten geschrieben. Die Pressevorführungen waren äußerst gut besucht, die Reaktionen, die ich selbst zurückbekommen habe, lassen darauf schließen, dass das Thema bewegt. Jetzt muss man das an der Kinokasse überprüfen. Das wird die Nagelprobe sein, ob das stimmt, was so in kleinem Kreis vermutet wurde. Ich bin aber jetzt schon sicher, der Film wird lange zirkulieren.

 

War es Ihnen ein Anliegen, dass der Film gesellschaftpolitisch Anstoß zu einer Diskussion liefert?

KURT MAYER:  Natürlich liegt mir daran, dass der Film auf vielen Ebenen wirkt und Reaktionen auslöst. Ob es gelungen ist, werden wir nach den ersten Wochen im Kino wissen. Das ist kein Film, der unbedingt die Kids anspringt, auch wenn sie eine wichtige Besuchergruppe sind. Ich glaube, dass der Dokumentarfilm aufgrund bestimmter Themen und bestimmter Herangehensweisen die Möglichkeit hat, Publikumsschichten zu erfassen, die nicht nur dem klassischen Marketing-Mainstream-Konzept des Kinos unserer Tage entsprechen. Das hat sich schon mehrmals erwiesen, und das ist auch ein Anspruch, den ich stelle.

 

Wie schnell klappte es mit der Finanzierung des Projekts?

KURT MAYER: Ich musste zweimal einreichen, beim ersten Mal ist es nicht durchgegangen, dann ist in letzter Minute noch das Land Kärnten abgesprungen. Dankenswerterweise hat in dieser Situation Cine Tirol sehr geholfen und die anderen Beteiligten haben den Ausfall des Heimatbundeslandes von Erik Schinegger mitgetragen. Wir haben in Kärnten und Tirol gedreht, aber auch in Frankreich. Wir hoffen, dass wir in Frankreich damit ganz gut starten können - soweit ein kleiner Dokumentarfilm Publikum erreichen kann - ich bin aufgrund einiger Reaktionen guter Dinge, dass uns das zum groß gefeierten Jubiläum von 40 Jahre Portillo in Val d'Isère gelingen könnte.
 

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Komponistin Olga Neuwirth?

KURT MAYER: Wir haben uns über das Thema getroffen. Auch für sie war der Name Schinegger ein Begriff, sie hat sofort darauf reagiert. Sie hat auf sehr berührende Weise das erfasst, was nicht direkt ausgesprochen wird. Die blinden Flecken in der Erzählung des Erik Schinegger sind in der Musik der Olga Neuwirth ganz hell und klar präsent.

 

Interview: Karin Schiefer (2005)