Ritas letzter Blick geht direkt in die Kamera, ins ratlose Gesicht des Zuschauers. Fragend? Provokant? Teilnahmslos? Schwer
zu sagen. Sie hat wenige Stunden zuvor ihre Eltern erschossen. Ohne mit einer Wimper zu zucken, ohne darüber sehr verstört
zu wirken. Ob ihr in dem Moment klar ist, was sie getan hat, ob sie fähig ist, die Schwelle zwischen Recht und Unrecht zu
erkennen, bleibt bis zum Ende unklar. Was geht in diesem seltsamen Mädchen vor?, ist die Frage, die sich von der ersten Einstellung
an dem Zuschauer stellt und mit der die Regisseurin einen auch wieder nach Hause entlässt. Ohne klare Antwort, denn die gibt
es bei Jessica Hausner nicht. Klar hingegen ist ihre filmische Sprache, die sie bereits in ihrem bei der Cinéfondation 99
in Cannes gezeigten Diplomfilm Inter-View definierte und konsequent weiterverfolgte. Auch diesmal bewegt sich die 29-jährige
Filmemacherin in den Grauzonen bestehender Wertvorstellungen und suchte nach den adäquaten Möglichkeiten, eine Gewalttat zu
beschreiben. Nach einer Special Mention der Cinéfondation-Jury für Inter-View ist Lovely Rita der nächste Schritt, der das Konzept Cinéfondation bestätigt: Jessica Hausners Langfilmdebüt, das sie mit der von Abgängern
der Wiener Filmakademie gegründeten Firma coop99 auch mitproduziert hat, läuft in der Sélection officielle des Festivals von
Cannes im Rahmen von Un Certain Regard.
Absicht oder Zufall
Die Filmemacherin hat für ihren ersten Spielfilm Lovely Rita lange nach einem geeigneten authentischen Fall gesucht, der den
in der Kriminalliteratur selten Umstand ein Mädchen begeht einen Mord zum Thema hat. Bei Recherchen am Jugendgerichtshof
wurde sie fündig eine 16-jährige aus gutem Hause, bei der nichts auf materielle oder seelische Verwahrlosung wies,
tötet scheinbar unmotiviert ihre Eltern. "Mich hat", so erinnert sich Jessica Hausner, "zum einen dieser Gegensatz fasziniert
"junges Mädchen begeht eine entsetzliche Gewalttat", die aber zum anderen sicherlich teils aus Zufall geschehen ist, weil
die Waffe gerade herumlag, als es zu einem Streit mit den Eltern gekommen war. Der wesentliche Punkt, worum es mir bei Lovely Rita ging ist diese Mischung aus Absicht und Zufall zu zeigen, dass Grenzen verschwimmen und sich der Vorfall einer Beurteilung
entzieht, weil keine Einteilungen in Richtig und Falsch mehr möglich sind." Auch die gar nicht so liebe Protagonistin entzieht
sich allen eindeutigen Kategorien. Sie könnte einem leid tun in dieser Familie, wo alle ihren kleinen, miserablen Machthunger
an ihr sättigen und ein Glas zum Anstoßen sich zum Inbegriff von familiärer Nähe und Innigkeit entpuppt. Doch das Mitgefühl
für sie hält sich in Grenzen, denn Rita lügt wie gedruckt, sperrt ihre Widersacherin in der Schule am Tag der Aufführung in
die Theatergarderobe, ver- und entführt den schwer kranken Nachbarjungen Fexi, den sie sich mit nur einigen gezielten Blicken
zum willenlosen Objekt ihrer eigenen Machtansprüche erzieht und lässt ihn bedenkenlos im Stich, als sie in Bedrängnis gerät.
Gerade dort, wo ihr Wärme entgegen käme, wo sie ihre Sehnsucht nach Nähe stillen könnte, zerstört sie sie, indem sie gefühllos
Grenzen überschreitet.
Hohle heile Welt
Ritas Umwelt ist so heil wie hohl. Gnadenlos scharf, manchmal bitter-ironisch fasst Jessica Hausner die Stumpfheit dieser
Welt ins Bild, wo einzig und allein Rituale, das Sinngefüge für einen autoritären Vater und eine ziemlich farblose Mutter
mühsam zusammenhalten. Ob es nun angesichts eines offenen Klodeckels zu einer von Vaters Gemütsentgleisungen kommt, die sich
im Wortlaut kaum von der des Vortages unterscheiden, er seine völlig entfremdete Tochter nicht ohne tägliches Bussi auf seine
Wange in die Schule entlässt, es sind beinahe karikaturhafte Momentaufnahmen aus dem Familienalbum, die in die Abgründe dieser
Gutbürgerlichkeit blicken lassen. "Die Geschichte", so die Regisseurin, "hat sehr viel mit verborgenen und gezügelten Impulsen
zu tun und natürlich mit der Diskrepanz zwischen der Oberfläche dieses Kleinbürgerdasein und dem, was dahinter ist. Die Geburtstagsfeier
ist für den Vater sehr schön und gleichzeitig ist diese Schönheit so gebrochen, dass man spürt, wie schon die Leichen unter
dem Teppich liegen". Die emotionale Kälte zieht sich auch in der Farbigkeit durch den Film, kräftige, grelle Farben prallen
aus der grau-blauen Winterlandschaft und bringen einen Teil der die verinnerlichten Aggressionen ans Tageslicht. «Wir verwendeten»,
so Jessica Hausner, «klare Grundfarben rot, grün, gelb, blau , um eine gewisse Stilisierung zu erreichen, die
einen Gegensatz zum Realismus der Erzählweise bildet, der sich daraus ergab, dass wir auf Video und mit Laien drehten. Es
ist der intuitive Versuch, der Realität etwas Allgemeingültiges, Zeitloses, das über die Geschichte der Rita hinausgeht, zu
entlocken.»
Versuchter Urknall
Unentrinnbar verfestigt sich das Schicksal der Protagonisten in der statischen Kamera von Martin Gschlacht. Halb geöffnete
Türen, beinahe geschlossene Vorhänge geben immer nur eine partielle Sicht auf die "Wirklichkeit", die nur eine subjektive
und unvollständige Wahrnehmung der Tatsachen sein kann. "In einem Film", so die Regisseurin, "schaffe ich dieses uneindeutige,
seltsame, vielschichtige Gemisch an Wahrheiten, die gleichzeitig passieren." Dieses spezielle Gefühl für die Wirklichkeit
war es auch, die Jessica Hausner dazu veranlassten, nicht mit professionellen Schauspielern zu drehen. "Laien sind sich ihrer
selbst nicht so bewusst wie Profis", erläutert die Filmemacherin ihre Entscheidung, "und ich wollte diese Präzision vermeiden.
Mit Laien ist es eher so wie in der Wirklichkeit, dass jemand etwas sehr Kluges, im nächsten Moment aber sehr Dummes sagt.
Sie haben den ganzen Fächer an Wahrheiten, die gleichzeitig existieren". Das Casting war neben der Postproduktion eine der
Arbeitsphasen, der die beteiligten Produktionsfirmen bewusst sehr viel Zeit einräumten und auch überzeugt sind, dass sich
nicht nur die lange Schnittzeit in Berlin, sondern auch die intensive Suche nach den Darstellern im Endergebnis bezahlt macht.
Jessica Hausner hielt nicht nur wochenlang ihre Augen auf der Straße offen, sie ging auf Schulbälle und allerlei Veranstaltungen,
um die treffenden Figuren aufzuspüren. Für Rita traten gar über 550 Mädchen vor die Kamera, ehe es die Richtige war. "Ich
versuchte", so die Regisseurin, "die Leute auszusuchen, die von vornherein mitbrachten, was ich benötigte. So war es möglich,
sie einfach aufeinander loszulassen, ohne sie in bestimmte Bahnen zu lenken. Es sollte so eine Art Urknall sein".
Karin Schiefer