«Wir spürten die ganze Zeit, dass da etwas völlig Neues entsteht. Ein Film. wie es ihn noch nie gab.Das klingt jetzt pathetisch,
aber so war es einfach. Wir fühlten uns als Forscher und Rebellen gleichzeitig. Es gab keinen Produzenten und keinen Redakteur,
der uns dreinredete. Wir machten alles genau so, wie wir das wollten, es gab keine Zensur, keine Kontrolle. Wir verletzten
alle Regeln, die es bei der Filmherstellung gibt.»
Sie haben für einen Filmemacher einen sehr ungewöhnlichen Lebenslauf, der auch ihre genaue Kenntnis des Krankheitsbildes des
Protagonisten erklärt. Können Sie den kurz beschreiben?
HANS WEINGARTNER: Ich habe mich in meinem Studium der "Cognitive Science" intensiv mit dem Krankheitsbild der Schizophrenie aus neurophysiologischer
Sicht beschäftigt. Dieser wissenschaftliche Background verhalf mir zu einem objektiveren Standpunkt, von dem aus ich versuchte,
die üblichen Klischees in Psychiatriefilmen zu vermeiden.
Was motiviert einen Neurowissenschaftler nach den langen Jahren der Ausbildung, eine Filmhochschule zu absolvieren?
HANS WEINGARTNER: Neben meinen Studien habe ich mich immer mit Film beschäftigt. Beides, Wissenschaft und Film, fesselt mich, und die Verbindung
zwischen den beiden Feldern ist überhaupt sehr spannend. Das Post-Graduate-Filmstudium samt Stipendium bot mir die Möglichkeit,
mich drei Jahre lang mit nichts anderem als Film zu beschäftigen. Der Kreativpool an einer Filmhochschule, die technischen
und inhaltlichen Ressourcen, diese Spielwiese bringt enorm viel. Man kann Dinge ausprobieren, ohne dem Druck der Industrie
ausgesetzt zu sein.
Beruht die Geschichte von Lukas auf einem Ihnen bekannten Fall oder entstand sie als reine Fiktion, basierend auf Ihren Erfahrungen
als Mediziner?
HANS WEINGARTNER: Das Buch entstand in Zusammenarbeit mit drei Personen. Die Geschichte ist reine Fiktion, basiert aber auf den Lebengeschichten
mehrerer Betroffener, die ich persönlich kennen gelernt habe. Nach der Auswahl Daniel Brühls als Hauptdarsteller haben wir
außerdem die Geschichte auf ihn zugeschrieben.
Was bedeutet der Begriff das "weiße Rauschen"?
HANS WEINGARTNER: In der Physik bezeichnet man damit ein Geräusch, das aus allen überhaupt möglichen Frequenzen besteht, doch der Begriff kommt
schon in der mittelalterlichen Mystik vor. Siehst du alle Visionen aller Menschen, die jemals gelebt haben, dann siehst du
das weiße Rauschen, heißt es da. Die Summe aller Informationen ist gleich Null. Totales Chaos erzeugt absolute Ruhe. Das ganze
Universum auf einmal. Nirvana, Tao, Zen, Sartori sind verwandte Begriffe aus fernöstlichen Religionen. Lukas sucht das weiße
Rauschen, weil er hofft, es könnte die Stimmen in seinem Kopf beruhigen. Der Psychiater Hinderk Emrich, der unseren Film betreut
hat, sieht übrigens darin eine Metapher für die Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt. Der Begriff Schizophrenie bedeutet
nämlich weniger die Spaltung der Persönlichkeit in sich als ihre Abspaltung von der Welt. Im weißen Rauschen findet Lukas
in die Welt zurück. Der Film wird zu einem großen Teil von der Intensität seines Hauptdarstellers getragen.
War Ihnen Daniel Brühl schon aus anderen Filmen bekannt und ein Wunschkandidat oder gab es ein langes, aufwändiges Casting?
HANS WEINGARTNER: Wir haben ziemlich lange gecastet. Ich wusste, dass man bei dieser Art des Drehens hochtalentierte, natürlich wirkende Darsteller
braucht, das sieht man ja auch bei Cassavetes. Da handelt es sich um ein Geschichtenerzählen durch die Schauspieler. Wir sind
also wochenlang herumgefahren und haben Probeaufnahmen gemacht. Ich habe mir außerdem bestimmt 500 Schauspieler auf Demobändern
angesehen. In der Endphase haben wir mit allen potenziellen Hauptrollen Szenen gedreht, und zwar nicht in irgendeinem Studio,
sondern direkt vor Ort am Motiv, also da, wo der Film dann auch gedreht wurde. Bei der Auswahl war uns wichtig, dass der Schauspieler
Begeisterung für dieses radikale Projekt mitbringt. Gut aussehen und Gesicht in die Kamera halten, das bringt bei dieser Art
des spiellastigen Drehens nichts. Wir konnten unsere Schauspieler übrigens nicht bezahlen, und deshalb habe ich gesagt: wenn
sie das schon gratis machen, muss auch ein Film dabei rauskommen, der sie gut rüberbringt, und das geht nur, wenn sie korrekt
besetzt sind.
In der Jurybegründung von First Steps heißt es "in jeder Einstellung spürt man die Passion, die Hingabe des Regisseurs, von
der wir sicher sind, dass sie bei den Dreharbeiten das ganze Team erfasst hat". Trifft das zu? Wie verliefen die Dreharbeiten?
HANS WEINGARTNER: Wir lebten und arbeiteten sehr intensiv zusammen. Was man spüren konnte, war, dass sich jeder der Beteiligten 100% und bedingungslos
auf das Projekt eingelassen hatte, mit allen Vor- und Nachteilen, die so ein intensives Miteinander mit sich bringt. Dadurch
fielen auch diese unangenehmen Dispos und Terminabsprachen weg. Wir mussten nicht auf ein Blatt Papier schauen und darauf
suchen, was als nächstes passiert, wir hatten das "weiße Rauschen" verinnerlicht. Mit "verinnerlicht" meine ich, alle wussten,
was sie taten und wofür sie es taten, es war der Spaß daran, mit anderen Leuten in einer Ausnahmesituation kreativ zu arbeiten,
jeder konnte seine Meinung äußern, jeder wusste was passierte, keiner wurde übergangen, dadurch gab es keine Missverständnisse
und es wurde nicht gemobbt. Nach einer Woche hatte uns ein Sog der Begeisterung erfasst, der bis zum Ende nicht mehr abbrach.
Wir spürten die ganze Zeit, dass da etwas völlig Neues entsteht, ein Film, wie es ihn noch nie gab. Das klingt jetzt pathetisch
aber so war es einfach. Wir fühlten uns als Forscher und Rebellen gleichzeitig. Es gab keinen Produzenten und keinen Redakteur,
der uns dreinredete. Wir machten alles ganz genauso wie wir das wollten, es gab keine Zensur, keine Kontrolle. Niemand außer
uns hatte das Drehbuch gelesen. Wir verletzten alle Regeln die es überhaupt bei der Filmherstellung gibt. Teilweise ging es
am Set ganz schön wild zu. In der ganzen Phase der Nachbearbeitung war ich dann wie im Fieber, weil ich genau wusste, dass
ich da auf einer Bombe saß, und es kaum noch erwarten konnte, den Film zu zeigen. Und als er dann raus kam, brach tatsächlich
ein Inferno los. Die Verleiher prügelten sich darum, die Teammitglieder und Schauspieler bekamen massenhaft Angebote, jeder
wollte wissen, wie der Film gemacht worden war, die Fernsehsender traten uns fast die Tür ein. Die ganze Branche stand Kopf.
Es war gigantisch.
Sie stehen nicht nur für Buch und Regie in diesem Film, sondern auch für die Kamera. Ein Autorenfilm durch und durch?
HANS WEINGARTNER: Autorenfilm? Was ist das? Kleiner Scherz. Nein, das hat sich nur so ergeben. Ich habe einige Erfahrung im Kamerabereich, und
bei unserer Art des Drehens auf DV geht das ja ganz schnell, dass man sich mal eben die Kamera schnappt und selbst eine Einstellung
dreht. Viele Takes wurden auch mit drei Kameras gedreht. Aber die Hauptarbeit wurde von meinen Kameraleuten Matthias Schellenberg
und Tobias Amann geleistet. Ich hätte niemals gleichzeitig Regie und Kamera ganz machen können. Ein interessantes und vielschichtiges
Element in diesem Film ist der Ton. Wir haben vier Monate am Sounddesign gearbeitet. Der O-Ton war sehr schlecht, und es kostete
einige Mühe, ihn aufzufrischen. Unser Protagonist hört außerdem Stimmen. Ich habe die Berichte von Leuten hergenommen, die
tatsächlich Stimmen hören und versucht, eine Entsprechung zu finden. Ein interessantes Detail ist etwa, dass sich die Akustik
der Stimmen oft den Räumen anpasst. Daher denken die Leute, es wäre tatsächlich jemand im Raum, der zu ihnen spricht. Eine
unheimliche Sinnestäuschung. Gemeinsam mit dem Sounddesigner Uwe Dresch suchten wir nach einer Lösung, diese Halluzinationen
einzubauen und dem Film seinen dokumentarischen Touch zu bewahren. Das haben wir jetzt so gemacht, dass die Halluzinationen
sich aus tatsächlich vorhandenen Geräuschen sozusagen "ernähren". Außerdem hört er zunächst die Stimmen von Leuten die tatsächlich
im Raum sind. Es kommt dann stufenweise zu einer Verstärkung. Die Stimmen kommen zuerst von außen, dann immer mehr von innen,
synchron zur Abkapselung des Protagonisten von der Außenwelt. Man wird parallel zum Protagonisten in eine Wahnwelt hingesaugt.
Das wirkt im Film so dahingeworfen, ist aber genau durchdacht.
Der Film ist der Abschlussfilm an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Gibt es Gründe, weshalb Sie sich für eine Ausbildung
in Deutschland eher als in Österreich entschieden.
HANS WEINGARTNER: Köln ist eine sympathische, weltoffene und liberale Stadt. Die Kunsthochschule für Medien ist ein Spitzeninstitut und von
der Technik her die bestausgestattete Europas. Sie hat außerdem ein breit gefächertes wissenschaftlich-philosophisches Lehrangebot
zu bieten, das mich natürlich von meinem Lebenslauf her sehr interessiert hat. Die Aufnahmekriterien sind sehr hart und nachdem
ich das Glück hatte, reinzukommen, gab es kein langes Zögern.
Wie hoch war das Budget des Films?
HANS WEINGARTNER: Finanziert wurde er zu einem Großteil vom Filmbüro Nordrhein-Westfalen.
War der Film auch bei österreichischen Förderstellen eingereicht?
HANS WEINGARTNER: Das genaue Budget darf ich nicht verraten, aber es war extrem wenig. Nachdem ich in den letzten acht Jahren trotz dutzender
Anträge nie Förderung aus Wien bekommen hatte, hatte ich bei diesem Film keine Lust mehr auf den Papierkrieg. Die Kölner Produktionsfirma
CAMEO hat dann doch noch beim BMWF um Produktionsförderung eingereicht, wurde aber ohne Angabe von Gründen abgelehnt, obwohl
80% der Finanzierung bereits standen. Eigentlich ein Skandal. Vom Land Vorarlberg kamen 35.000.- öS. Der Film kann mit dem
Max Ophüls Preis und nun First Steps zwei wichtige Preise für sich verbuchen.
Stößt der Film international auf großes Interesse bei Festivals? Wird es in Deutschland oder Österreich einen Kinostart geben?
HANS WEINGARTNER: Die Firma Orfeo (Das Fest, Breaking the Waves, Schwarze Katze Weißer Kater) hat den Weltvertrieb übernommen und das Interesse der Festivals ist riesig. Wir hatten große Probleme mit der Untertitelung,
aber im Herbst soll es losgehen. X-Verleih wird den Film im Januar 2002 in Deutschland und Österreich im Vertrieb von Warner
Brothers flächendeckend ins Kino bringen.
Wie sehen Ihre künstlerischen Zukunftspläne aus? Werden Sie sich nur noch auf das Filmemachen konzentrieren oder auch wieder
in Ihrem ursprünglichen Beruf arbeiten? Gibt es auch Pläne, wieder in Österreich zu arbeiten?
HANS WEINGARTNER: Ich habe keinen Beruf. Ich tue, was mich freut, solange es mich freut. Zunächst einmal konzentriere ich mich auf das Filmemachen.
Irgendwann will ich aber auch wieder wissenschaftlich arbeiten. Ich hätte große Lust, wieder in Österreich zu drehen, warte
nur noch auf den richtigen Stoff.
Interview: Karin Schiefer (2001)