INTERVIEW

Jasmila Zbanic über GRBAVICA

 

«Was gegen einen Dokumentarfilm sprach, war der Umstand, dass ich sie das nicht noch einmal durchleben lassen wollte, schon gar nicht vor einer Kamera. Medien haben sie während des Krieges genug mit Reportagen missbraucht, in diesem Punkt war ich mir sicher. Außerdem hatte ich das Gefühl, ein Spielfilm würde die Leute für einen Augenblick in Esmas Welt mit hineinnehmen, für einen Moment vermitteln, was es heißt, das zu durchleben?» Goldener Bär-Preisträgerin Jasmila Zbanic über ihren Film Grbavica.

 

Esmas Situation, wie sie in Grbavica beschrieben ist, ist mehr eine Sache des Schweigens, der Tabus, des verborgenen Schmerzes als einer offenen Diskussion. War es dieser verborgene Schmerz, der unausgesprochen in dieser Stadt spürbar ist, der Sie bewog, diese Geschichte zu schreiben oder war es der konkrete Fall einer Frau, die Sie kennen?

JASMILA ZBANIC:  In gewisser Weise beides. Es war zuerst einmal der Umstand, dass ich von dem Zeitpunkt an, wo ich erfuhr, dass Vergewaltigung als Kriegsstrategie eingesetzt worden war, etwas zu diesem Thema machen wollte. Ob es ein Film werden sollte, wusste ich anfangs noch nicht genau. Grbavica ist aber auch eine Geschichte darüber, wie ich das Leben jetzt in Bosnien wahrnehme, die Fragen, die jeden hier beschäftigen, der verborgene Schmerz. An der Oberfläche wirkt Sarajewo ziemlich normal, so wie jede andere kleinere europäische Stadt, zerstörte Gebäude gibt es kaum mehr. Dieser Krieg ist aber immer noch da, ich sehe es zumindest so. Ich recherchierte sehr viel, traf diese Frauen und mit einigen von ihnen habe ich gesprochen, was für mich ebenso schwierig war wie für sie. Ich sprach auch mit einer Frau, die ein Kind aus einer Vergewaltigung hat, nie aber über dieses Thema. Sie wusste, dass ich an einem Drehbuch über vergewaltigte Frauen arbeitete, wir einigten uns darauf, dass sie meine Beraterin sein würde und ich ihr jeden Monat etwas zahle. Ich kam nur zu ihr in die Wohnung, trank mit ihr Kaffee und wollte hören, wie ihr Alltag aussah.


Sie haben schon zuvor einige kurze Dokumentarfilme gemacht. Hatten Sie das Gefühl, dass dieses Thema zu heftig wäre, um sich ihm dokumentarisch zu nähern? Warum haben Sie sich für einen Spielfilm entschieden?

JASMILA ZBANIC: Was gegen einen Dokumentarfilm sprach, war der Umstand, dass ich sie das nicht noch einmal durchleben lassen wollte, schon gar nicht vor einer Kamera. Medien haben sie während des Krieges genug mit Reportagen missbraucht, in diesem Punkt war ich mir sicher. Außerdem hatte ich das Gefühl, ein Spielfilm würde die Leute für einen Augenblick in Esmas Welt mit hineinnehmen, für einen Moment vermitteln, was es heißt, das zu durchleben.


Während der Schreibphase haben Sie sehr eng mit Barbara Albert zusammengearbeitet. Welche Rolle hat sie gespielt?

JASMILA ZBANIC:  Sie war die erste Person, mit der ich darüber sprach. Ganz genau genommen die zweite. Mein Mann, der auch mein Produzent ist, war der erste, der sagte – das machen wir. Ich schickte Barbara ein Treatment und sie mochte es sehr. Es war wirklich eine Zusammenarbeit, es ist viel ihres kreativen Inputs in der Geschichte, auch wenn wir nicht gemeinsam geschrieben haben. Manchmal brauchte ich das "Auge des Fremden", das Fragen stellte, weil ich zu nahe an dieser Sache dran war. Und Barbara verfolgte jeden Schritt, jede Version. Sie kommentierte viel und gab wirklich großartiges Feedback.


Wie lange dauerte die Drehbuchphase?

JASMILA ZBANIC:  Ich brauchte ziemlich lange. Als ich das Treatment geschrieben hatte, sagte ich mir, das wird zu hart für mich und ließ wieder davon ab. Kam wieder darauf zurück und schrieb am Drehbuch, dann sagte ich mir, nein, ich möchte lieber etwas Fröhlicheres schreiben. Es ging hin und her und schließlich schrieb ich ein Drehbuch und sagte mir, das ist jetzt endgültig die Geschichte und die mache ich. Ich veränderte im Laufe der Zeit und des Arbeitens noch viel, wenn ich mit den Schauspielern arbeitete, haben wir gemeinsam gelesen, diskutiert, sie haben Vorschläge gemacht, wir haben Verschiedenes ausprobiert und schließlich kamen wir zu einer endgültigen Form.


Im Hintergrund der Geschichte von Esma und Sara liefert der Film darüber hinaus ein scheinbar sehr realistitisches des aktuellen Sarajewo. Fließen hier viele realistische Elemente in die Fiktion ein?

JASMILA ZBANIC:   Es beruht ziemlich viel auf der Realität, wie sie heute ist. Natürlich sind nicht alle Männer so, es gibt Intellektuelle, viele Leute, die nützliche Dinge tun. Ich wollte diese Gruppe von Männern nutzen, weil sie Esma mit ihrem Trauma konfrontieren, obwohl Frieden ist. Diese Macho-Aggression ist in dieser Gesellschaft einfach sehr präsent. Es ist eine Übergangsgesellschaft zum Kapitalismus, wo die Stärksten und Aggressivsten die Reichsten sind und in wichtigen Positionen sitzen. Ich wollte diesen Konflikt sichtbar machen, der für Esma nicht vorüber ist, nur weil der Krieg vorüber ist. Diese Leute wären in einer anderen Gesellschaft anders. Pelda, der vor dem Krieg Wirtschaft studiert hat, wäre in einer anderen Gesellschaft wahrscheinlich ein Banker. Es geht darum, wie sehr ihn die Gesellschaft verändert und zu etwas gemacht hat, das er möglicherweise nicht verdient.


Auf der Website zu Grbavica ist zu lesen, dass Sie in Sarajewo weder ein Verlangen nach Rache noch nach Vergebung verspürt haben. Lässt sich das durch einen Zustand der Lähmung, der noch immer herrscht, erklären?

JASMILA ZBANIC:  Ja, und das gilt nicht nur für Bosnien oder Sarajewo. Der Krieg ist auf eine sehr unfaire Art zu Ende gegangen. Die serbische Armee hat Menschen getötet, hat Muslime und Kroaten von ihrer Heimat vertrieben und dieses Land heißt nun Republika Srbska. Der Völkermord ist schließlich auch noch belohnt worden, indem den Serben innerhalb des bosnischen Staates eine Art Unabhängigkeit gegeben wurde. Kriegsverbrecher wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Es liegt noch immer etwas in der Luft, das nicht geregelt ist und die Menschen frustriert. Kriminelles Handeln wird ermutigt durch die Tatsache, das große Verbrecher nicht im Gefängnis sind. Das führt die ganze Gesellschaft ins Chaos und es gibt keinen wirklichen Dialog. Unser Film wird in Belgrad gezeigt. Und ich bekam vorab schon negative Presse, auch sehr viel gute, muss ich sagen. Sie haben meinen Film nicht gesehen, aber allein die Tatsache, dass ich gesagt habe, Kriegsverbrecher sollen verhaftet werden, machte sie so wütend. Sie sagen, dass ich dem serbischen Volk Kriegsverbrechen vorwerfe. Ich habe nur zwei Namen genannt, von Leuten, die schuldig sind, ich rede nicht von kollektiver Schuld. Daran glaube ich nicht, weil ich viele Serben kenne, die sehr gegen den Krieg waren und darunter gelitten haben, während des Krieges in Belgrad zu sein. In Serbien hat man sich noch nicht der Wahrheit gestellt. Es wird immer noch geleugnet. Es wird z.B. verleugnet, dass Srbenica je passiert ist. Es kann keine Vergebung geben, solange nicht die Fakten auf dem Tisch liegen und wir sie ruhig und objektiv anschauen.


Glauben Sie an die utopische Idee des politischen Kinos, Filme, die das Potenzial haben, etwas zu bewirken?

JASMILA ZBANIC:  Ich glaube wirklich, dass Kino und Kunst die Welt verändern können. Aber ich möchte da nicht zu hohe Ansprüche stellen. Wenn der Film nur die Gefühle einer Person verändert hat, wenn sie im Moment des Verlassen des Kino diesen Schmerz besser verstehen kann oder wenn er etwas bewirkt, um diesen Frauen zu helfen, dann bin ich schon zufrieden. Vielleicht kann es auch die politische Situation verändern. Bosnien war immerhin nach so vielen Jahren wieder in den Medien, und vielleicht wird jemand daran erinnert, dass dieser Krieg, der total vergessen ist, in gewisser Weise noch fortgesetzt wird, weil er nie gelöst wurde. Vielleicht sagt sich jemand, wir sollten etwas tun, dass die Verbrecher dort nicht mehr einfach leben können. Vielleicht. So nach und nach ein bisschen. Natürlich wäre es schön, wenn wir so viel Macht hätten, die Welt verändern zu können.


Können Sie ein bisschen über den Cast sprechen. Wie kam es zur Begegnung mit Mirjana, wie verlief die Suche der Darstellerin für Sara?

JASMILA ZBANIC:
Mirjana ist eine der besten Schauspielerinnen Ex-Jugoslawiens. Ich dachte zuerst, ich würde über Auditions eine Darstellerin in Bosnien finden, fand aber keine und ich sagte mir Mirjana ist sicher die beste Esma, die ich mir vorstellen kann. Für Sara organisierten wir eine riesige Audition, ohne zu verlautbarten, dass wir eine Darstellerin suchten. Damit hatte ich schon schlechte Erfahrungen gemacht, mit ehrgeizigen Eltern, die aus ihren Kindern Schauspieler machen wollen. Nein, wir gingen in die Schulen und interviewten ungefähr 2.600 Kinder, daraus wählten wir 300. ich hab' mit jedem von ihnen gesprochen, Verschiedenes ausprobiert. Dann blieben 30, mit denen wir eine Woche arbeiteten. Die einen wurden besser, die anderen schlechter. Luna wurde einfach nur besser und besser. Sie war wunderbar von Anfang an, sie ist so intelligent. Ein unglaubliches Mädchen. Sie verstand alles so gut, probierte und arbeite hart. Die Rasierszene z.B. hatte ich anfangs nicht im Drehbuch und hab' sie später hinzugefügt. Zuerst weinte sie und wollte sich nicht die Haare abschneiden. Am nächsten Tag schrieb sie mir einen Brief, und sagte – Du hast Sara geschrieben und ihr Geist hat sich auf die Suche nach dem Körper gemacht, der sie darstellen soll, sie hat mich ausgewählt und ich möchte alles für sie tun, weil sie so gelitten hat. Es tut mir so leid, dass ich wegen meiner Haare so egoistisch war. Ich war so perplex, sie war damals erst dreizehn.


Sie arbeiten schon sehr lange mit Christine Maier als Kamerafrau, was verbindet Sie in ihrer künstlerischen Arbeit?

JASMILA ZBANIC:
Barbara Albert und Christine Maier kamen 1996 nach Sarajewo für eine Recherche zu Nordrand und die erste Person, der sie begegneten, war ich. Ich stand vor der Filmakademie und wir begannen zu plaudern und da es schon sehr spät war, wollten sie wissen, in welchem Hotel sie schlafen könnten und ich sagte, es ist zu spät für ein Hotel, kommt zu mir nach Hause. So haben wir uns als Filmstudentinnen kennen gelernt und sind Freunde geworden, wir mochten uns sehr und wollten etwas gemeinsam machen. Christine hat mir sehr geholfen, sie hat mir für meine Studentenarbeiten eine Kamera und Filmmaterial aus Österreich gebracht, auch Nikolaus Geyrhalter hat mir für einen Kurzfilm eine Kamera geborgt. In Bosnien war es damals unmöglich ohne Bankgarantie zu einer Kamera zu kommen und Christine hat die Kamera einfach in den Koffer gesteckt und uns gebracht. Sie ist so eine unglaublich großzügige Person und so eine großartige Künstlerin. Schade, dass sie nicht in Berlin dabei war, weil sie gerade in L.A. dreht. Das war nicht fair, denn sie ist eine, die vom Anfang an dabei war.


Der Film war nur als internationale Koproduktion realisierbar. Wie sieht die Produktionssituation in Bosnien aus?

JASMILA ZBANIC: Wir haben keine 35 mm- Kameras, wir haben keine Labors. Viel ist während des Krieges zerstört worden. Das Land ist arm, es gibt kein Geld. Es gibt jetzt einen Filmfonds, unser Film ist als Low-Budget-Film eingestuft worden, weil er ein Budget unter einer Million Euro hatte. Wir konnten daher nur 10 Prozent unseres Budgets über den Bosnian Film Fund lukrieren. Später kam ein Fernsehsender dazu und wir bekamen dann noch sehr viel kostenlos zur Verfügung gestellt, man kann also von einem 30%-bosnischen Anteil im Film sprechen. Wir sind gezwungen, zu koproduzieren. Ich halte Koproduktionen aber keineswegs für eine schlechte Notwendigkeit. Im Gegenteil. Es heißt schon einmal, dass das Thema nicht nur von lokaler Bedeutung ist, wenn sich Österreich oder Deutschland dafür interessieren. Es bedeutet, dass der Film auch dort funktionieren könnte. Und vor allem schätze ich es, einen kreativen Input von unterschiedlichen Leuten aus unterschiedlichen künstlerischen Hintergründen zu bekommen. Einfach unterschiedliche Sichtweisen zu bekommen. Das schätze ich sehr.


Interview: Karin Schiefer
2006