«Ich finde es interessanter, wenn ich einen Laien habe, der innerhalb der Geschichte in seiner Funktion vorkommt. Das ist
interessanter und kürzer, wenn die erzählenden Personen involviert sind. Es geht ja um diese Bewusstseinsarbeit, und darum,
die Geschichten in unsere Gesellschaft hineinzubringen. Für mich ist der Film eine Verbildlichung der Tatsache, dass die Geschichten
aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet werden. » Anja Salomonowitz über Kurz davor ist es passiert.
Stand am Anfang des Projekts eher der formale Ansatz – im Dokumentarfilm nicht die betroffenen Personen erzählen zu lassen
oder das Thema des Frauenhandels im Vordergrund?
Gastarbajteri - 40 Jahre Arbeitsmigration
Wie haben Sie die Geschichten recherchiert und nach welchen Kriterien wurden sie dann für den Film ausgewählt?
Warum haben Sie bei den Erzählern nicht mit Schauspielern gearbeitet?
ANJA SALOMONOWITZ: Ich dachte, dass man den Leuten, die die Texte auswendig gelernt haben, ansehen wird, was in Ihnen vorgeht, während sie
den Text sprechen. Es könnte beim Zöllner ja sein, dass gerade in diesem Moment tatsächlich eine Frau vorbeigeschmuggelt wird.
Ich dachte, diesen Bewusstseinsprozess sieht man in den Augen und diesen schmalen Grat, wo sie realisieren, dass sie das sein
könnten oder nicht, im Menschen zu sehen, fand ich sehr interessant. Das Ziel war aber, dass den Zusehern von dem Erzähler
oder der Erzählerin diese Arbeit nicht abgenommen wird, man sollte als Zuseher auf sich selbst zurück geworfen werden. Der
monotone Ton ist, damit man immer gleich wieder in die Geschichte hinein finden kann, damit man den roten Faden, sozusagen,
nicht verliert. Das war eine der schwierigsten Aufgaben: den richtigen Rhythmus zu finden, dass die Zuseher sich die Geschichten
gut vorstellen können. Beim Zöllner sollte die Wirkung entstehen, dass er einen Text gelernt hat, und dieser gleichzeitig
auch Bilder evoziert. Unabhängig davon wie auswendig gelernt der Text wirkt, war es Aufgabe des Castings, Menschen zu finden,
die es schaffen, trotzdem, während des Erzählens, Bilder zu evozieren. Ich finde es interessanter, wenn ich einen Laien habe,
der innerhalb der Geschichte in seiner Funktion vorkommt. Das ist interessanter und kürzer, wenn die erzählenden Personen
involviert sind. Es geht ja um diese Bewusstseinsarbeit, und darum, die Geschichten in unsere Gesellschaft hineinzubringen.
Für mich ist der Film eine Verbildlichung der Tatsache, dass die Geschichten aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet
werden. Ich wollte im Film das Gefühl erwecken, "das Böse ist immer und überall" nur keiner von uns merkt es, weil unsere
Welt es nicht sieht. Man muss sich mit den Geschichten nicht auseinander setzen. Diese Geschichten schwirren die ganze Zeit
zwischen uns, das sind Lebensbereiche, die einfach ausgeblendet werden können und mit denen wir uns nicht befassen müssen.
Es kommt zu einer Umkehrung in diesem Erzählkonzept. Das eigentlich Dokumentarische – die Geschichten der Frauen – , leben
nur in der Phantasie und bekommen etwas Fiktionales, der "fiktionale" Part, die Erzähler, werden zum Gegenstand des Dokumentartischen,
indem sie in ihrem Alltag dargestellt werden.
ANJA SALOMONOWITZ: Ja, es werden dokumentarische Strategien genau umgedreht. Es besteht innerhalb eines Genres ja eine Verabredung zwischen den
Zusehern und der/dem FilmemacherIn, wie zum Beispiel ein Dokumentarfilm funktioniert: die Betroffenen erzählen einem ihre
Geschichte selbst. Was ist, wenn ich diese Verabredung breche, indem ich die Geschichte von anderen Menschen erzählen lasse?
Und vor allem: kann das ein Umdenken, einen politischen Prozess auslösen? Es gibt die klassischen Frauenhandels-Dokumentationen,
wo eine Frau weint und ihre Geschichte erzählt. Das zeigt, wie die betroffene Person empfindet, bringt ihr aber nichts, vor
allem keine Rechte. Was diese Frauen aber brauchen, ist Legalisierung und Rechte, damit diese Geschichten nicht mehr passieren
können. Kurz davor ist es passiert handelt davon, was die Leute sich ausdenken, während sie den Film sehen. Etwas Unsichtbares wird erzählt und ist die Haupthandlung.
Das ist kein Nebenprodukt, die Gedanken, die man sich dazu macht: die Geschichten, die man sich vorstellt, sind die eigentliche
Haupthandlung des Films. Etwas, dass man nicht sieht. Das ist, wie schon gesagt, wie im richtigen Leben, denn diese Geschichten
werden aus dem alltäglichen gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet.
Wie sah die Regiearbeit mit den Erzählern aus?
ANJA SALOMONOWITZ: Wir haben ein total breites Straßencasting gemacht, manche Figuren waren ganz schnell da, bei manchen hat es länger gedauert.
Dann gab es verschiedene Schritte der Erarbeitung mit ihnen, es mussten alle bereit sein, mir ihren Alltag zu zeigen und mich
überallhin mitzunehmen. Ich habe sie bei ihren Tätigkeiten begleitet, sehr viele Fragen gestellt, die ich dann wieder im Drehbuch
verarbeitet habe. Das Leben festgehalten.
Für das Text erlernen gab es ganz verschiedene Methoden. Frau Tauchhammer, die Konsulin, zum Beispiel, hat das monoton sprechen
in Hypnose geübt - meine Mutter kann hypnotisieren. Sie meinte, man kann das in Hypnose Erlernte dann auch in anderen Bewusstseinszuständen
abrufen, und so war es dann auch. Der Zöllner wiederum hatte, passend zu seiner Funktion, den Text so akribisch und genau
gelernt, dass wir verschiedene Takes lippensynchron anlegen konnten beim Nachsynchronisieren. Fast alle wurden über ein Jahr
lang von mir ständig mit einer kleinen Videokamera begleitet, beim Drehen waren sie dann schon an das Gefilmt - werden gewöhnt.
Leo, den Kellner, habe ich erst sehr spät gefunden. Er zeigte mir dann verschiedene Details im Bordell, auf die ich so nie
gekommen wäre: dass zum Beispiel herum liegende Schuhe einfach weggeschmissen werden. Das zeigt auch die Brutalität und Schnelligkeit
der Fluktuation der Arbeiterinnen an so einem Ort. Dann habe ich jeweils ausprobiert, zu welchen Szenen welche Textstellen
passen, was etwas miteinander ergibt. Das war ein sehr langer Prozess das heraus zu finden. Ich hab mir immer gedacht, ein
Film ist der Alltag der Personen auf der Leinwand, der zweite Film läuft so zwei Meter vor der Leinwand. Es sind eigentlich
zwei Filme, die gleichzeitig ablaufen und beide brauchen einen dramaturgisch stimmigen Ablauf.
Wie funktionierte die Kameraarbeit?
ANJA SALOMONOWITZ: Der Kameramann war Jo Molitoris, der aus der Werbung kommt, davor schon u.a. auch eine 8x45-Episode gedreht hat. Ich wollte unbedingt mit einem Werbekameramann drehen, wegen einer bestimmten Ästhetik. Wir haben den
ganzen Film mit zwei Kameras gefilmt. Jo filmt normalerweise in der Werbung alles mit 35 mm, für ihn war es eine große Herausforderung,
mit Video zu arbeiten. Er wollte irgendein Spiel, irgendetwas, was ihm noch einen zusätzlichen Anreiz gab, mit Video zu arbeiten.
Er meinte, etwas, was er sich nie leisten kann, ist, alles mit zwei Kameras zu drehen. Wir wollten, dass es so wirkt, als
würde man mit zwei Augen schauen. Es hat leider nicht so funktioniert, es hat eher wie ein Fehler gewirkt, wenn man zwei Bilder
nebeneinander legt und das eine ein bisschen verschiebt. Wir haben dennoch mit zwei Kameras gefilmt, weil so immer die Möglichkeit
bestand, eine Totale und eine Nahe zu machen. Die Kameras waren auf einer leicht verstellbaren Platte zusammengeschraubt.
Interview: Karin Schiefer
2006