... Seite die Bedrohung da wollte ich mich bewegen, ohne einem von ihnen den Vorzug zu geben. Anna Katharina Wohlgenannt im Gespräch über WAS WIR NICHT SEHEN.
Der Film widmet sich einem Phänomen, das zum einen nicht sichtbar, zum anderen omnipräsent ist. Im öffentlichen Diskurs scheint
das Thema allerdings abwesend zu sein. Was hat Sie für dieses Thema sensibilisiert?
Anna Katharina Wohlgenannt: Ich habe mich lange gegen den Besitz eines Handys gesträubt. Ich wollte das einfach nicht, weil
ich mich damit überwacht und unfrei gefühlt habe. Irgendwann ging es aber nicht mehr ohne. Auch andere kabellose Technologien,
wie WLAN nütze ich inzwischen und schätze sie sogar, weil ich sie praktisch finde. Und dann kam der Moment, in dem ich realisiert
habe, dass ich mich unwohl zu fühlen begann, wenn ich nicht connected war wenn ich also keinen Handy-Empfang
hatte oder keinen Internet-Zugang. Das gefiel mir gar nicht. Ich begann mir daher Gedanken darüber zu machen, was eigentlich
genau hinter diesen Technologien steckt. Ich habe viel über das physikalische Phänomen der elektromagnetischen Welle, über
Marconi, Hertz und so weiter gelesen und fand das alles höchst faszinierend aber auch höchst abstrakt. Daher wollte
ich dieses Phänomen, das mein Leben offensichtlich so stark prägt und meinen Alltag formt, wahrnehmbar machen und dadurch
ein Gespür für ihr Wesen, ihre Wirkungsweise, ihre Macht vermitteln. Was mir aber von Anfang ganz wichtig war: Ich wollte
keinen Paranoia-Film machen und zu keiner pauschalen dystopischen Bewertung gelangen eben solche gibt es
nämlich zum Thema elektromagnetischen Wellen wirklich schon genug.
Welche Art von Strahlung(en) umgeben uns eigentlich ständig? Auf welche Art von Strahlungen reagieren die Menschen in Ihrem
Film besonders stark?
Anna Katharina Wohlgenannt: Man könnte sagen, alles was lebt, strahlt. Selbst der menschliche Körper: Die Organe produzieren
elektrische Impulse und zwischen den Zellen findet ein dauernder elektrischer Ladungsaustausch statt. Wir sind also elektrische
Wesen und als solche bewegen wir uns durch eine elektromagnetische Welt. Stromleitungen und elektronische Geräte geben
niederfrequente Strahlung ab, drahtlose Technologien wie Handy, WLAN hochfrequente, gepulste Strahlung. In WAS WIR NICHT SEHEN
geht es um die nicht ionisierende Strahlung (also nicht radioaktive Strahlung). Die Energie dieser Wellen reicht nicht aus,
um andere Atome zu ionisieren und damit Schäden anzurichten, wie das bei radioaktiven Stoffen der Fall ist. Trotzdem kann
nicht-ionisierende Strahlung gesundheitliche Folgen haben.
Sie standen zu Beginn gewiss vor einer schwierigen grundsätzlichen Frage: Wie gehe ich filmisch mit einem unsichtbaren Phänomen
um? Wie haben Sie diese Frage für sich gelöst?
Anna Katharina Wohlgenannt: Ich habe bei meiner Recherche nach Mitteln zur Visualisierung von elektromagnetischen Wellen gesucht,
fand diese aber alle eher unattraktiv und zu plakativ. Auf der Suche nach weiteren Möglichkeiten habe ich die deutsche Klangkünstlerin
Christina Kubisch kennengelernt, die sich schon seit den 1970er Jahren mit dem Hörbarmachen von elektromagnetischen Wellen
befasst und eigene Kopfhörer dafür entwickelt hat. Als ich diese zum ersten Mal aufgesetzt und die elektromagnetischen Sounds
gehört habe, begriff ich, dass der Äther quasi überfüllt sein muss von elektromagnetischen Wellen so überbordend und
intensiv waren die akustischen Eindrücke. Vermittels Christina Kubischs Kopfhörer habe ich die Wellen jedoch nicht nur gehört,
sondern bis zur Schmerzgrenze körperlich gespürt. Für mich haben diese Sounds also wirklich ein Gefühl für dieses immaterielle
physikalische Phänomen vermittelt und diese Welt sinnlich erfahrbar gemacht. Und sie haben in mir die Frage aufgeworfen: Wie
muss es Menschen ergehen, die keine Kopfhörer brauchen, um elektromagnetische Wellen wahrzunehmen und unter ihnen zu leiden?
Menschen, die hypersensibel sind und starke gesundheitliche Konsequenzen aufgrund der allgegenwärtigen Strahlung verspüren,
sind gezwungen, in extremer Isolation zu leben. Vier Protagonisten aus vier Ländern und zwei Kontinenten, lassen auf eine
breit angelegte Suche schließen. Wie kamen Sie an die Menschen heran?
Anna Katharina Wohlgenannt: Ich habe mich eigentlich erst einmal auf die Suche nach weißen Zonen gemacht
also nach Gebieten, in denen drahtlose Technologien offiziell verboten und die Belastung durch Strom möglichst gering gehalten
wird. Im dicht besiedelten Europa ist die Errichtung derartiger Zonen bislang meist gescheitert. Trotzdem gab es und gibt
es immer noch verschiedene Initiativen, die sich für weiße Zonen stark machen. Durch solche Gruppen in Frankreich
und Deutschland habe ich etwa die zwei Protagonisten Sosthène und Clarissa kennengelernt. In den USA wiederum gibt es die
Radio Quiet Zone, ein riesiges Gebiet, das zum Schutz der dortigen hochsensitiven Radioteleskope eingerichtet worden ist
und nicht zum Schutz der Menschen, wohlgemerkt. Hier traf ich auf Diane und Jennifer.
Es ist von einem Phänomen die Rede, für dessen sprachlich präzise Definition es bereits beträchtliche Auffassungsunterschiede
gibt: funktionelle Störung, Verletzung, Vergiftung...
Gibt es von medizinischer Seite einen Konsens darüber, wie sich die gesundheitliche Beeinträchtigung definiert?
Anna Katharina Wohlgenannt: Einen richtigen Konsens gibt es nach wie vor nicht. Den ersten Schritt in diese Richtung unternahm
die österreichische Ärztekammer im März 2012, als sie einen Diagnose-Leitfaden für Ärzte zur Abklärung und Therapie von Beschwerden
und Krankheiten herausgegeben hat, die im Zusammenhang mit elektromagnetischer Strahlung stehen. In diesem Papier wird Elektromagnetische
Hypersensitivität als Syndrom bezeichnet und zu den Multisystemerkrankungen gezählt. Auf internationaler Ebene sei auf das
Diagnoseverzeichnis der WHO verwiesen: Von Ärzten kann Elektromagnetische Hypersensitivität gemäß der internationalen Klassifikation
der Krankheiten der WHO (ICD- 10) mit dem Code Z58.4 als Krankheit diagnostiziert werden. Unter dieser ICD-Nummer werden jene
Krankheiten zusammengefasst, deren Auslöser in der physikalischen Umgebungssituation eines Menschen liegen.
Es wird die grundlegende Frage aufgeworfen, ob mit dem Organismus dieser Menschen etwas nicht in Ordnung ist, weil sie so
stark auf die umgebende Strahlung reagieren oder ob die Strahlung Urheber körperlicher Schädigung ist.
Anna Katharina Wohlgenannt: GIn diesem Zusammenhang ähnelt elektromagnetische Hypersensitivität der Multiplen Chemikalien
Sensitivität (MCS)- ein Beschwerdebild, das bei Unverträglichkeit von Umweltchemikalien auftritt. Hier wie dort wird darüber
gestritten, ob die Ursache toxisch oder psychosomatisch ist. Im bio-psycho-sozialen Modell
des amerikanischen Psychiaters George L. Engel werden beide Aspekte und nicht nur das sondern auch der dritte
Faktor der öko-sozialen Dimension berücksichtigt. Das finde ich sehr ansprechend, weil es auch meiner Vorstellung von der
Untrennbarkeit von Körper und Geist entgegenkommt. In jedem Fall gilt: Hinsichtlich der biologischen Wirkung hochfrequenter
elektromagnetischer Felder sind noch viele Fragen offen: Einzig die thermischen Wirkungen sind relativ gut erforscht (und
auf ihr basieren auch die Grenzwerte). Sie führen zu einer starken Erwärmung von Körpergewebe, weswegen vor allem schlecht
durchblutete Körperteile wie z.B. das Auge betroffen sind. Bei den nicht-thermischen Wirkungen (Beispiele dafür sind die Veränderung
der Gehirnströme, die Öffnung der Blut-Hirnschranke, lokale Störungen der Zellmembranen usw. Auch viele individuelle Erscheinungen
wie z.B. Verspannungen, Herzrasen, allgemeine Müdigkeit, Kopfschmerzen usw. gehören zu den nicht-thermischen Wirkungen.) ist
noch kein eindeutiger Zusammenhang zwischen EMF-Exposition und Symptomen bewiesen aber auch kein Gegenbeweis erbracht.
Deswegen müsste da eigentlich das Vorsorgeprinzip zum Einsatz kommen: Laut europäischer Kommission ist dieses nämlich in jenen
Fällen anwendbar, in denen die wissenschaftlichen Beweise nicht ausreichen, in denen jedoch begründeter Anlass zu der Besorgnis
besteht, dass die möglicherweise gefährlichen Folgen für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen
mit dem hohen Schutzniveau der Gemeinschaft unvereinbar sein könnten.
Die Menschen, die im Film zu Wort kommen, leiden an etwas, das sehr schwierig zu beweisen ist und das sie auch deshalb zu
Randfiguren macht. Gibt es etwas wie eine offizielle Anerkennung Ihrer Beschwerden oder handelt es sich hier um Einzelfälle?
Anna Katharina Wohlgenannt: In der westlichen Welt sind etwa drei bis sechs Prozent der Bevölkerung von EHS betroffen. Die
Protagonisten meines Films sind also tatsächlich eher Ausnahmefälle. Trotzdem ist das für mich kein Grund, sie weniger ernst
zu nehmen. Ich halte ihre Symptome für ganz natürliche Reflexe auf eine fragwürdige Entwicklung. Bis Ende 2014 sollen 7,3
Milliarden Handys weltweit im Umlauf sein - das bedeutet mehr Handys als Menschen auf unserem Planeten. Dazu kommen auch noch
Milliarden von SIM-Karten in Autos, Waschmaschinen, Stromzählern, oder gar Hundehalsbändern. Sechs Milliarden Menschen haben
bereits jetzt Zugang zu Handys. Sehr viel weniger - nämlich nur 4,5 Milliarden Menschen - Zugang zu Toiletten.
Was hat Sie bewogen, in erster Linie die Geschädigten zu Wort kommen zu lassen?
Anna Katharina Wohlgenannt: Von Anfang an wollte ich keine investigative Reportage über das Thema machen, sondern einen Dokumentarfilm,
der aus einem anderen, individuellen Blickwinkel erzählt. Trotzdem habe ich im Zuge meiner Recherche auch viele Interviews
mit Experten (Physikern, Medizinern, Juristen) geführt und überlegt, in wie weit ich Gegenstimmen einbauen kann.
Dabei wurde mir klar, dass es auf dem Gebiet so gut wie unmöglich ist, einen wirklich objektiven, über fremde
Interessen erhabenen Experten zu finden. Auch die Betroffenen sind nicht objektiv, das ist klar. Das ist aber auch legitim,
schließlich erzählen sie von sehr persönlichen Erfahrungen. In ihrer Subjektivität sind sie wahrhaftig, sind sie authentisch.
Und das war mir wichtig.
Die andere Seite kommt in Form von zwei Werbespots zu Wort, die ohne kritisches Bewusstsein die allumfassende
Versorgung der Welt mit Internetzugang und kabellosen Verbindungen propagieren. Haben Sie bewusst dafür optiert, dass diese
Vision nicht von Menschen zum Ausdruck gebracht wird? Als Ausdruck dafür, wie hier Politik über die Menschen hinweg betrieben
wird.
Anna Katharina Wohlgenannt: Ein Arbeitstitel des Films war lange Zeit ein Zitat aus einem Interview mit Christina Kubisch
und zwar wireless is happiness. Ich habe mich dann dagegen entscheiden, weil ich ihn zu zynisch fand. Die
Ästhetik und insbesondere das Vokabular der Werbespots knüpfen an diesen Gedanken an. Des weiteren wollte ich mit den Spots
auch auf die ökonomische Macht hinter den Wellen verweisen: Die elektromagnetischen Frequenzen sind ja zu einer der wichtigsten
Ressourcen des 21. Jhs. geworden. Doch das Spektrum ist begrenzt, der Kampf und das Lobbying um die Frequenzen hochgradig
kompetitiv.
Die einzige weitere Stimme, die im Film zu Wort kommt, ist eine Künstlerin Christina Kubisch, die Strahlung spürbar,
genauer gesagt hörbar macht. Sie hat ein Projekt entwickelt, das electrical walks heißt. Können Sie ihre Arbeit kurz beschreiben?
Anna Katharina Wohlgenannt: Christina Kubisch ist eine Pionierin auf dem Gebiet der Sonifizierung von elektromagnetischen
Feldern. Ihre erste bewusste Begegnung mit den Wellen erlebte sie während ihres Studiums der Elektrotechnik in Mailand Ende
der 70er Jahre: Sie hatte ein kleines Induktionsgerät in ihrer Tasche, das in der Nähe einer Stereoanlage plötzlich
scheinbar unmotiviert Störgeräusche von sich gab. Neugierig geworden begann sie sich mit den Prinzipien der elektromagnetischen
Induktion und Übertragung auseinanderzusetzen und sich schließlich auch dem Hörbarmachen von elektromagnetischen Feldern zu
widmen. Das führte so weit, dass sie einen eigenen, speziellen Kopfhörer entwickelte, der auf elektromagnetische Wellen reagiert
und diese hörbar macht. Seit 2003 hat sie über 50 Städte weltweit besucht ihre Kopfhörer immer im Gepäck und
diese elektromagnetisch vermessen, kartografiert. Daraus sind komponierte Strecken entstanden, auf denen man sich wie in einer
Choreographie bewegen kann die Electrical Walks. Kubisch folgt bei der Gestaltung eines solchen Weges immer einer ganz
eigenen Dramaturgie: Ruhe und Lärm wechseln einander ab auf rhythmisches Knastern, dichte Klangteppiche, durchdringende
pulsierende Signale folgen immer wieder auch beruhigende Klänge, fast Stille. Sie hat inzwischen ein riesiges Archiv von Klängen
und wenn sie von ihren Eindrücken in Städten wie Tokyo, Chicago, etc. berichtet, spürt man trotz aller Kritik auch immer die
Begeisterung, die Faszination für die Sounds. Und das hat mich gereizt. In der Gegenüberstellung mit den Betroffenen hat sich
da ein Spannungsfeld entwickelt. Zwischen diesen beiden Polen auf der einen Seite die Faszination, auf der anderen
Seite die Bedrohung wollte ich mich bewegen, ohne einem von ihnen den Vorzug zu geben.
Während Emissionswerte, Lärmbelästigung, aber auch radioaktive Strahlung u.ä. gemessen und Schwellen festgelegt werden können,
ab wann es für den menschlichen Organismus schädlich ist, legt sich hier ein Netz um den Erdball, von dessen gesundheitlicher
Auswirkung oder Schädlichkeit niemand spricht bzw. sprechen will. Sind Sie auf repräsentatives Datenmaterial in Ihrer Recherche
gestoßen?
Anna Katharina Wohlgenannt: Bis Jänner 2014 wurden knapp 19 000 Publikationen über biologische Wirkungen elektromagnetischer
Wellen verfasst. Daraus repräsentatives Datenmaterial zu filtern, ist also wirklich schwierig. Das wäre eigentlich ein eigenes
Forschungsprojekt wert. Viele Fragen hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen weiterhin ungeklärt etwa die Frage
nach den Langzeitwirkungen, oder die nicht-thermischen Wirkungen. Und auch ob das gesundheitliche Risiko für Kinder höher
ist als für Erwachsene.
Die Lebenssituation der Protagonisten konsequent weiter gedacht führt vor Augen, dass es für Betroffene über den ganzen Erdball
hinweg kein Entrinnen gibt. Mann kann das Phänomen der Elektrosensibilität auch stellvertretend oder symbolisch dafür sehen,
dass der Welt flächendeckend die Rückzugsorte abhanden kommen könnten und zu weiten Teilen bereits sind. Haben wir es mit
einer wachsenden Schutzlosigkeit in unseren Lebensräumen zu tun?
Anna Katharina Wohlgenannt: Ja, davon bin ich überzeugt. Und es stehen da eigentlich immer ökonomische Interessen dahinter.
Wenn Google mittles Ballons abgelegene Regionen mit einem Internet-Zugang versorgen will und das ganze als philanthropisches
Projekt verkauft, dann ist das schlicht Kalkül. Für das Geschäftsmodell der großen US-IT-Unternehmen ist es schließlich essentiell,
dass so viele Leute wie möglich das Internet nutzen und verwertbare Datenspuren hinterlassen. Im Endeffekt geht es also nur
darum, neue Märkte zu erschließen.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2014