«Mich hat das Thema dieser Paare interessiert, weil da sehr klar die Liebe und der freie Wille mit dem Gesetz kollidieren.»
Anja Salomonowitz im Gespräch über ihren Dokumentarfilm Die 727 Tage ohne Karamo.
Sie haben für Die 727 Tage ohne Karamo einen sehr fein verzweigten Ansatz gewählt, um aus den Erfahrungen zahlreicher Paare letztendlich mosaikartig das Bild einer
Grunderfahrung und einer Gesetzeslage entstehen zu lassen. Sie haben Ihr Konzept, Dokumentarfilme anders zu erzählen,
hier noch weiter verfeinert. Mit welchen Prämissen sind Sie an die Arbeit für diesen Film herangegangen?
Anja Salomonowitz: Meine Prämisse war, dass es eben diese Grunderfahrung an Schikane gibt und das wurde mir in den Rechercheinterviews
leider intensiv bestätigt. Mich hat das Thema dieser Paare interessiert, weil da sehr klar die Liebe und der freie Wille mit
dem Gesetz kollidieren. Weil das System direkt und gnadenlos in die persönlichen Leben der Menschen eingreift und sie verändert.
Den Alltag verändert, aber leider auch oft den Verlauf der Liebesgeschichte.Meine Frage war, wie ich diesen ungerechten Zustand
erzählen kann, ohne dass der/die Portraitierte und der/die Betroffene dafür verantwortlich gemacht wird? Oder durch den Film
führen muss? Den Film auf den Schultern tragen? Wie kann man eine gemeinsame, erzwungene Erfahrung von den Menschen trennen?
Indem es ein Kollektiv gibt, das erzählt.
Ich habe nach einer dokumentarischen Strategie gesucht, um Analogien zu versinnbildlichen und gleichzeitig die individuellen
Unterschiede zu erhalten. Ich wollte nicht, dass eine Person durch den ganzen Film trägt oder tragen muss, sondern, dass durch
das Kollektiv der Film eine andere Stärke und Kraft bekommt. Dass er wie ein Schneeball, der durch den Schnee rollt, mit jeder
dazukommenden Person und Geschichte, größer und stärker wird. Dass einen die Wucht der Masse erschrecken kann. Die Wucht der
Auflagen und zu erfüllenden Gesetze sowieso. Dass das nüchtern erzählt wird und schlicht aufgezählt, denn der behördliche
Wahnsinn spricht für sich. Dass dieser Schneeball dann vielleicht eine Fensterscheibe einschlagen kann.
Sie haben mit sehr vielen Leuten gedreht, um vieles mehr muss die Anzahl der Fälle/Schicksale Ihrer Recherche gewesen
sein. Über welchen Zeitraum haben Sie recherchiert und wie sind Sie an die Geschichten und Menschen herangekommen? Wie definieren
sich die binationalen Paare, die in Die 727 Tage ohne Karamo zu Wort kommen?
Anja Salomonowitz: Die Geschichte dieses Films hat für mich vor langer Zeit begonnen. Dieser Film wurde nämlich von den Förderstellen
abwechselnd angenommen oder abgelehnt und man braucht mehrere Zusagen gleichzeitig, um den Film realisieren zu können. Daher
war immer Geld da, um weiter zu tun, aber nicht genug, um wirklich zu drehen. Jahrelang haben wir mehrere Runden gecastet,
das heißt, lange Recherche - Interviews mit betroffenen Menschen geführt. Wir haben sie angesprochen und, wenn sie einverstanden
waren, mit einer Videokamera ca. 20 Minuten lang erzählen lassen. Insgesamt haben wir sicher an die 150 Paare interviewt.
Auffallend war, dass sich die Geschichten an vielen Punkten treffen und ähnlich sind, völlig unabhängig von Milieu, Beruf
oder finanziellen Möglichkeiten der betreffenden Personen. Zum Beispiel glauben alle, dass sie schnell heiraten sollten, damit
es dann besser wird, merken dann, dass das Papiere - Auftreiben ein Horror ist - und nach der Hochzeit fangen die Probleme
erst so richtig an. Individuelle Liebesgeschichten werden also an neuralgischen Punkten durch die gesetzliche Lage normiert.
Ich habe diese eine Geschichte in ihre einzelnen Elemente aufgeteilt (lernen sich kennen/heiraten/Probleme fangen an/...bis
trennen sich was ich leider auch oft gehört habe, weil der Druck einfach zu stark war) und jedes Segment mit einem
neuen Paar verfilmt. Wichtig dabei war mir, dass die Menschen gerade in der Situation sind, die sie von sich zeigen, also
das Paar, das heiratet, heiratet gerade wirklich (das war ihre echte Hochzeit) und weiß noch nicht, was später auf sie zukommen
wird. Wichtig war mir auch, dass man trotzdem die Unterschiede zwischen den Menschen spürt, dass sie einfühlsam portraitiert
werden, dass man die Gemeinsamkeiten im System zeigt, aber die individuellen Unterschiede der betroffenen Personen.
Die Stimmen, die in Die 727 Tage ohne Karamo zu Wort kommen, sind in erster Linie jene von binationalen Paaren, die dafür kämpfen (nicht immer erfolgreich) ihre Beziehung
zu legalisieren und unter einem gemeinsamen Dach lebbar zu machen. Dazwischen ist immer wieder aus dem Off die Stimme von
Angela Magenheimer vom Verein Ehe ohne Grenzen zu hören, die juristische Termini aus dem Fremdenrecht, Vorschriften und Vorgehensweisen
der Behörden erläutert. Warum lassen Sie die Behördenseite nicht durch Personen, sondern nur durch ihr Vorgehen sprechen?
Anja Salomonowitz: Es wird erzählt, was die behördlichen Vorgaben im Leben der Menschen bedeuten und was sie konkret auslösen,
ohne Rechtfertigung von einzelnen Beamten. Der rote Faden, der sich durch den Film zieht, ist das Fremdenrecht selbst. Die
Vorschriften, die einem widerfahren, werden in der Reihenfolge ihres Auftauchens aufgezählt, und die davon betroffenen Menschen
sind wie lebende Beispiele für das, was diese Regeln auslösen.
Ich wollte ganz dezidiert keine BeamtInnen in meinen Film lassen, denn es geht darum zu erzählen, was die von ihnen exekutierten
Vorschriften auslösen und wovon sie vielleicht gar nichts wissen. Es geht auch nicht darum, einen einzelnen Beamten
anzuklagen. Es ist ein System, das sich ja auch durch sein Apparat-Sein schützt, das sich einem gegenüber stellt
mitsamt seiner Undurchsichtigkeit. Es ist ein Kampf wie David gegen Goliath.
Ich möchte die Seite der Paare stärken und ihre Sicht der Dinge zeigen. Sie sollen zu Wort kommen - und dabei nicht unterbrochen
werden.
Sie sprechen in Die 727 Tage ohne Karamo nicht nur eine sehr emotionale Facette von Migranten-/Flüchtlingsschicksalen an, hier wird eine Grundsatzfrage aufgeworfen:
Wie weit darf der Gesetzgeber in die Privatsphäre der Bürger eingreifen? Haben Sie in Ihren Recherchen den Eindruck
gewonnen, dass bei bestimmten binationalen Paaren von Seiten der Behörden von der grundsätzlichen Annahme einer Scheinehe
ausgegangen wird? Steht in der Behandlung binationaler Eheschließungen das Argument der Missbrauchsvorbeugung eindeutig im
Vordergrund?
Anja Salomonowitz: Es ist so, dass die Standesämter Meldung an die Fremdenpolizei machen müssen, wenn ein binationales Paar
heiratet. Damit dieses Paar dann kontrolliert werden kann, jedenfalls wird es mit diesem Schritt bereits überwacht. Das ist
meiner Meinung nach ein rassistisches und deutlich zu stark in individuelle Entscheidungen eingreifendes Mittel. Und ja, fast
alle hatten diese Scheinehe-Überprüfungen. Das ist eine erniedrigende und peinliche Erfahrung für alle Menschen, die mir das
erzählt haben. Ich frage mich, wie es möglich ist, dass im Jahr 2012 immer noch die Nachbarn befragt werden, ob der Mann XY
hier aus- und eingeht. Das ist doch Bespitzelung. Wieso gibt es keinen kollektiven Aufstand in dem Haus?
Was hat Sie im Zuge Ihrer Recherchen am meisten betroffen gemacht oder aufgebracht, wofür Sie mit diesem Film sensibilisieren
wollen?
Anja Salomonowitz: Familien, die zerrissen werden. Ich habe eine Frau kennengelernt, die wahnsinnig glücklich mit ihrem Mann
aus Ghana war. Sie haben sich im Museum kennengelernt, wo sie als Aufseherin gearbeitet hat. Sie hat die Liebe das erste Mal
so richtig erlebt und wurde auch bald schwanger von ihm. Kurz vor der Geburt wurde er abgeschoben, weil er immer noch Asylwerber
war, trotz der Heirat. Das Baby hat sich umgedreht im Bauch, die Geburt wurde ein Kaiserschnitt, die Frau war alleine. Wie
kann so etwas passieren?
Herr Brichta, der im Film mit seiner chinesischen Ehefrau Zou Youejing telefoniert, hat eine lange Leidensgeschichte hinter
sich. Er stottert übrigens auch erst seit dieser Zeit. Nachdem seine Frau abgeschoben wurde, ging er alleine zum ORF auf den
Küniglberg. Er schmuggelte sich hinein und erzählte seine Geschichte einem Redakteur, dessen Türe zufällig offen war. Er kam
ins Fernsehen. Er ging an die Zeitungen, ans Radio, zu einer Anwältin. Er hat versucht, sich zu wehren. Ich fand das wahnsinnig
tapfer und mutig von ihm. Die Menschen können Paragrafen auswendig, die so kompliziert sind, dass man sie selbst nach mehrmaligem
Durchlesen nicht versteht. Sie müssen sich mit Vorschriften auseinander setzen, bei denen man nicht glauben kann, dass es
sie gibt. Sie können vor lauter Briefen dieses seltsame Beamtendeutsch nachmachen. Es ist eine unwiederbringliche Erschütterung
des Glaubens an den Rechtsstaat.
Spanien wie Die 727 Tage ohne Karamo erzählen Liebes-, Migranten- und Flüchtlingsgeschichten. Könnte man diese beiden Filme aus einer thematischen Sicht auch
als ein Diptychon bezeichnen?
Anja Salomonowitz: Es sind Elemente aus meiner Recherche für diesen Film in die Arbeit des Fremdenpolizisten in Spanien eingeflossen, denn ich habe den Dokumentarfilm entwickelt, bevor das Drehbuch für den Spielfilm geschrieben wurde. Aus lauter
Verzweiflung, dass sich Die 727 Tage ohne Karamo nicht finanzieren lässt, war die Idee da, die Geschichte als Spielfilm zu verarbeiten. Mit Dimitre Dinev ist das Drehbuch
von Spanien ganz anders geworden aber so hingen die Filme ursprünglich thematisch zusammen. Für mich gehört Die 727 Tage ohne Karamo von der Machart her in meine Trilogie der andersartigen Dokumentarfilme: Zuerst Kurz davor ist es passiert, wo die Texte von anderen Menschen gesprochen werden als von denen, die sie erlebt haben, dann Die 727 Tage ohne Karamo wo viele, viele ProtagonistInnen zu einer Person verschmelzen und mein nächstes Projekt Spiel mit mir, wo dokumentarische
Texte nicht gesprochen, sondern gesungen werden. Allen Filmen ist gemeinsam, dass sie mit und anhand der Menschen entstehen,
die darin vorkommen, dass sie geschrieben und getaktet wurden und dass sie polemisch sein dürfen, elementar und unversöhnlich
mit unmenschlichen Gesetzen.
Die Assoziation zur Malerei ist bereits gefallen, beide Filme haben ein sehr starkes Farbkonzept. Spanien ist von Erdtönen dominiert, während in Die 727 Tage ohne Karamo eine sehr farbenfrohe, von Gelb beherrschte Farbpalette im Vordergrund steht. Ist der starke Farbakzent auch etwas, was die
beiden Filme miteinander verbinden soll?
Anja Salomonowitz: Ich habe bis jetzt jedem Film von mir eine Farbe gegeben. Das wirst du nie verstehen, ein Dokumentarfilm
über meine drei Großmütter, war ganz weiß, um den Hintergrund neutral zu halten. In Kurz davor ist es passiert hatte jede
Episode eine Farbe, um den jeweiligen Ort und die Dramaturgie desselben zu unterstützen. Spanien war braun wie ein Western,
braun/rot/gold um eine sinnliche Welt einzufangen, etwas religiös Verspieltes zu spiegeln, eine Verzweiflung zu spüren. Für
Die 727 Tage ohne Karamo, über den Kampf gegen das Fremdenrecht, habe ich nach einer Farbe gesucht, die knallig ist, mutig, trotzig. Sonnig, kräftig,
lebensfroh. Ich wollte keinen jammernden Film machen, sondern einen starken und widerständigen Film, so, wie ich die Menschen
bei den Interviews erlebt habe. Eine Farbe, die eingeübte Sehgewohnheiten reizt und einen Kontrast zu den Schrecknissen bildet,
die diesen Menschen widerfahren. Es musste funktionieren, dass die Geschichte immer weiter erzählt wird und sich die Menschen,
wie in einem Staffellauf, die nächste Szene in die Hand geben. Damit dieses Konzept auch im Aussehen des Films funktioniert,
müssen alle gleich sein. Damit quasi eine Sie und ein Er entstehen kann. Weil alle Charaktere
eins sein sollen, um die politische Aussage, dass dieser Kampf sehr viele Menschen ähnlich trifft, zu unterstützen.
Wichtig war auch, dass diese Farbe in den Räumen und bei den Menschen vorkommt, damit wir mit dem arbeiten können, was da
ist. Damit wir bloß verstärken, was vorhanden war und die individuellen Wohnungen erhalten können. Die 727 Tage ohne Karamo
ist in Gelbtönen gehalten, weil auch schon sehr viel Gelb da war. Verwandte Farben, orange, rot, lila, grün, weiß waren erlaubt.
Bei Susanna Buchacher (sie liest den Brief vor) gab es die orangen Wandteppiche im Schlafzimmer bereits. Wir haben vielleicht
einen oder zwei Pölster noch ausgetauscht, aber es hat insgesamt so ausgesehen. Bei den Herreras (das ist das junge Paar vor
der Wand mit den gelben Wörtern) war es schon knallgelb und grün. Sie haben die Wörter, kurz bevor wir gedreht haben, selbst
an die Wand geschrieben - und für mich auch in gelb.
Die Protagonisten erzählen ihre Geschichten im Flüsterton oder am Telefon, im Off oder im direkten Gespräch. Die Stimme in
Variationen und in Verschiebungen ist ein konstituierendes Element Ihrer Dokumentarfilme. Warum spielt die Stimme bei Ihnen
diese tragende Rolle?
Anja Salomonowitz: Es geht ja buchstäblich darum, mit einer Zunge zu sprechen. Und es geht darum, das Erzählte
herauszuschälen, die Worte von den Menschen quasi trennen zu können, die Struktur der Geschichte freizulegen. Ich will ja
zeigen, wie durch gesetzliche Vorschriften hier kollektiv Lebensentwürfe verändert und Geschichten normiert werden. Sie können
nur passieren, weil es diese Gesetze gibt.
Ich habe die Geschichten, die die Menschen erzählen, vorher immer schon gekannt und mit ihnen gemeinsam in eine Form
gebracht. Ich habe ihnen den Anfang vorgegeben wie Es war ein schöner Tag im August oder Es hat geregnet.
Auch hier wieder: eine Versinnbildlichung und Verknappung des Zustandes, eine konkrete Übersetzung. Die Situationen werden
dann als Bausteine in den Film hinein gesetzt. Die Worte und Geschichten kommen alle von den Menschen und sind alle von ihnen
erlebt. Und diese Kraft und Ehrlichkeit spürt man. So ergibt sich ein Rap und Rhythmus, ein Takt, der den vorgegebenen Takt
der Vorschriften spiegeln soll. Den Hammer, der dir morgens auf den Kopf haut. Die Worte und Geschichten geben dadurch noch
mehr von diesem Druck preis, dem die Menschen ausgesetzt sind. Was für ein Einkommen man haben muss, welche Deutschkurse und
in welcher Reihenfolge. Regeln über Regeln. Alleine durch die Aufzählung und dadurch, dass diese Aufzählung kein Ende zu haben
scheint, wird einem die Unüberwindbarkeit der behördlichen Hindernissen und Aufgabenstellungen bewusst. Und so endet der Film
auch mit einer Trennung, denn sie haben sich ja noch nicht so gut gekannt als sie geheiratet haben und der Druck von außen
hat das junge Glück zerstört.
Farben, Stimmen, das Wechselspiel mit On und Off-Stimmen sind sehr starke eigenständige Elemente, die sich in ein vielschichtiges
Mosaik fügen, dasselbe gilt für Sounddesign und Musik. Wie sahen im Bereich dieser Ebene des Tons ihre Vorstellungen und Vorgaben
aus?
Anja Salomonowitz: Der Ton und die Musik sollen miteinander tanzen, sich ineinander schlängeln, sich mit dem Bild vermischen.
Die Vorgabe an den Ton war, dass er ebenso glatt sein soll wie das Bild. Und beim Sound Design haben wir Elemente erfunden,
wo die Geräusche aus dem Bild heraus wachsen und auch zu einer Melodie anschwellen. Es macht auch einfach Spaß, wenn die Nähmaschine
melodiös aus dem Bild heraus wächst. Ich wollte, dass auch dieser Takt den Takt der Grausamkeiten weiter verschärft.
Sie haben vor Die 727 Tage ohne Karamo einen Spielfilm, Spanien, gemacht, davor einige dokumentarische Arbeiten. Man hat Sie bei Spanien wohl immer wieder gefragt,
was denn das Dokumentarische in Ihrem Zugang zum Spielfilm ist. Es liegt jetzt natürlich auf der Hand, zu fragen, wie sehr
Ihre Erfahrung aus dem Spielfilm in diesen Dokumentarfilm gewirkt hat.
Anja Salomonowitz: Wir haben, wie gesagt, sehr lange gebraucht, um diesen Film finanzieren zu können. Alexander Dumreicher-Ivanceanu,
der Produzent, und Karin Berghammer, die Produktionsleitung gemacht hat, sind auch sehr hartnäckig dran geblieben. Es wirkt
jetzt so, als wären die Filme schnell hintereinander entstanden, die Wahrheit ist aber das Gegenteil: denn ich arbeite an
diesem Film seit 2007 und sie überschneiden sich nur in der letzten Phase. Davor hatte ich eine lange Durststrecke wegen
der ausbleibenden Filmförderung. Spanien habe ich, aufgrund der langen Wartezeit, dann quasi dazwischen gemacht. Dadurch hat
es sich ergeben, dass ich Die 727 Tage ohne Karamo gedreht habe, bevor Spanien überhaupt heraußen war. Dieses direkt hintereinander
zwei Filme zu drehen war zwar viel, aber sehr angenehm, denn man bleibt in diesem Arbeitsrhythmus. Ich kenne so eine kontinuierliche
Möglichkeit zu arbeiten sonst eigentlich nur bei Männern in der Filmbranche in meinem Umfeld. Die so schnell wieder arbeiten
dürfen. Es war Zufall bei mir und wird vielleicht nie wieder so sein.
Die 727 Tage ohne Karamo hat einen sehr stark kompositorischen, musikalischen Charakter. Wieviel entsteht bei diesem Erzählstil im Drehbuch,
wie viel am Schneidetisch?
Anja Salomonowitz: Ich schreibe zuerst das Drehbuch, anhand von Situationen, die mir erzählt werden oder die ich sehe. Die
ich mir dazu vorstelle. Ich gehe zu den Menschen nach Hause, sie zeigen mir ihren Alltag, sie erzählen mir ihre Geschichte.
Susanne Ceesay, deren Mann seit ca. 2 Jahren weg ist, hat mir erzählt, dass sie nachmittags Rechnen übt mit ihren Kindern.
So kam mir die Idee, das zu verbinden, sie beim Rechnen - Hausaufgabe machen die 727 Tage ausrechnen zu lassen. Ich lege mir
ein Konzept zurecht. Diese Phase ist für mich künstlerisch die Schöpferischste, denn es geht darum, das Erzählte in konkrete
Situationen und Bilder einzuordnen und darin etwas Neues entstehen zu lassen. Die Menschen müssen bereit sein, mit mir diesen
Weg zu gehen - und es entwickelt sich eine schöne Vertrauensbasis. So kann dann auch am Set Spontanes entstehen.
Das heißt, es war alles im Vorhinein gebaut. Am Schneidetisch haben wir alles nochmals verworfen, denn wenn ein Baustein wegfällt,
fällt das Kartenhaus zusammen. Ich hatte eine großartige Cutterin, Petra Zöpnek, die mit mir diese lange Phase durchgemacht
hat. Wir haben von vorne angefangen. Wir haben nicht mal gewusst, ob die Geschichten der Paare ineinander verwoben (so haben
wir begonnen) oder hintereinander gereiht (so haben wir geendet) erzählt werden. Es ist ein ständiges Denken und Verwerfen.
Der Film versinnbildlicht, dass dieses System sehr, sehr viele Menschen trifft. Ich möchte auch zeigen, wie stark diese Menschen
sind, wie sie mutig gegen dieses System kämpfen. Es haben alle sehr gerne mitgemacht, denn allen war es ein großes Anliegen,
aus ihrem Leidensdruck heraus, ihre Situation zu schildern. Die 727 Tage ohne Karamo ist ein Plädoyer gegen dieses Fremdenrecht. Ein Plädoyer für eine freie Liebe.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2013