Für einen Neuanfang nach dem Krieg entscheiden sich Viktor und sein Vater, nach Wien zurückzugehen. Ihr von den Nazis arisiertes
Unternehmen erobern sie zurück, doch die Gesellschaft, die die Täter ungestraft in gesicherte Existenzen zurückkehren lässt,
grenzt sie weiterhin aus. Thomas Roth taucht in seinem Spielfilm SCHÄCHTEN ins Österreich der frühen sechziger Jahre, das
eine juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen verweigert und einen jungen, nach Gerechtigkeit hungrigen Mann in einen unerbittlichen
Kampf um Wiedergutmachung drängt.
Der Film beginnt mit einem Verweis auf tatsächliche Begebenheiten, die dem Film zugrunde liegen. Welche Ereignisse haben für
SCHÄCHTEN als Inspiration gedient?
THOMAS ROTH: Da muss ich etwas weiter ausholen. Meine Sensibilisierung für dieses Thema hat mit der Lektüre von Simon Wiesenthals Buch
Recht, nicht Rache begonnen. Daraus geht hervor, dass es trotz zahlreicher Prozesse gegen Verbrecher des Naziregimes in den
Jahren 1955 bis 1975, in Österreich nur zu zwanzig Schuldsprüchen gekommen ist. Eine erschreckende Tatsache. Ich spielte mit
dem Gedanken, dazu ein Drehbuch zu entwickeln, begann zu recherchieren, es blieb dann aber wieder liegen. Einige Jahre später
hat mich der Münchner Produzent Michel Wagner angerufen und mich gefragt, ob ich interessiert wäre, aus seiner Familiengeschichte
einen Film zu machen. Seine Familie ist auf der Flucht vor den Nazis nach Frankreich ausgewandert, dann aber, was eher selten
vorkam, nach dem Krieg wieder zurückgekehrt und hat sich ihr von den Nazis arisiertes Unternehmen zurückerstritten. Das sind
die real existierenden Bausteine. Beim Gerichtsverfahren gegen einen ehemaligen Nazi habe ich mich an einen Fall angelehnt,
den es tatsächlich gegeben hat. Es hat also alles ein reales Unterfutter, der dramaturgische Überbau ist fiktional.
War also auch der Umgang Österreichs mit den Tätern unter den Nazis eine weitere treibende Kraft für dieses Projekt?
THOMAS ROTH: Auf jeden Fall. Ich glaube nicht, dass da recht viel über ehemalige Nazis im Wien der sechziger Jahre in Kinofilmen aufgearbeitet
worden wäre. Der Krieg lag da immerhin schon fünfzehn Jahre zurück und viele frühere Nazis waren wieder in verantwortungs-
und machtvollen Positionen: Schuldirektoren, Universitätsprofessoren bis hin zu Politikern und Ministern, die eine SA oder
SS-Vergangenheit hatten. Ich fand es erschreckend, dass sie ungestraft in ein normales Leben zurückkehrten, während andere
Familien zerstört worden waren. Sehr befremdlich, in welch verlogener Atmosphäre gewisse Gesellschaften stattgefunden haben.
Wenn es überhaupt zu Gerichtsprozessen gekommen ist, dann endeten sie mehrheitlich mit einem Freispruch der Täter. Die Reaktionen
und Dialoge im Gerichtssaal, die man im Film sieht, beruhen beinahe zur Gänze auf Originalzitaten, auf die ich in meiner Recherche
gestoßen bin. Da läuft es einem kalt über den Rücken. Umso mehr war es mir ein Anliegen zu diesem Thema etwas zu machen, das
in seiner Direktheit verstörend ist.
Dem Drehbuch liegt demnach über die Familiengeschichte hinaus eine ausführliche Recherche zugrunde?
THOMAS ROTH: Ich habe mich – zwar nicht durchgehend – aber doch mehrere Jahre lang immer wieder mit dem Thema beschäftigt. Den Fall Gogl
gab es tatsächlich, es war 1975 der letzte Nazi-Prozess, der in Österreich stattgefunden hat. Nach dem ersten Freispruch ist
aufgrund eines Verfahrensfehlers der Prozess nach Wien verlegt worden. Die Zeugen, die im ersten Verfahren in Linz verlacht
worden waren, haben sich diesem Spott kein weiteres Mal aussetzen wollen und es ist ein zweites Mal zu einem Freispruch gekommen.
Michel Wagner hat mir dann letztlich den entscheidenden Impuls geliefert, diese Thematik in eine Geschichte für die Leinwand
zu packen.
Die Familie Dessauer, die wie die Familie von Michel Wagner nach dem Krieg zurückgekehrt ist, gehört zu den Ausnahmen. Wie
haben sie den Alltag in dieser nach wie vor antisemitischen Atmosphäre erlebt?
THOMAS ROTH: Mit dem Vater von Michel – einer faszinierenden Persönlichkeit – habe ich mich sehr lange unterhalten. Er hat erzählt, dass
es, als sie zurückgekommen sind, in der Gasse, in der sie gelebt haben, genau zwei jüdische Familien gab und jeder in der
Gasse wusste darüber Bescheid. Wenn er mit einem Mädchen ausgehen wollte, dann ging es so lange gut, solange deren Eltern
nicht wussten, dass er Jude war. Sobald sie es erfuhren, war es vorbei. In einem Grazer Textilgeschäft kam es bis in die späten
siebziger Jahre vor, dass die Eigentümerin zu ihm als Großhändler sagte, „Bei Juden kaufe ich nicht“. Manchen werden sich
vielleicht auch bei SCHÄCHTEN wieder denken – „Schon wieder ein Film über die Naziaufarbeitung“, aber man muss sich vor Augen
halten, wie sehr diese Thematik in unsere Zeit hineinstrahlt. Rassismus, Ausgrenzung, Homophobie, das sind Themen, die latent
in den mitteleuropäischen Gesellschaften gegenwärtig sind. Daher sind diese Filme immer noch wichtig, um, wie Simon Wiesenthal
es sagte – niemals zu vergessen.
Geht es Ihnen in SCHÄCHTEN darum, den Umgang mit der Vergangenheit auf beiden Seiten – der Opfer wie der Täter – zu beleuchten?
THOMAS ROTH: In den Dialogen kommen sehr viele Zitate aus Simon Wiesenthals Buch Recht, nicht Rache vor oder sind daran angelehnt, weil
dieses Werk und seine Sicht auf das Täter/Opfer-Verhältnis für mich eine sehr wichtige Quelle war. Er sagt an einer Stelle
in etwa – „Opfer zu sein ist schlimm, aber noch schlimmer ist es, Täter zu sein und es ein Leben lang mit sich tragen zu müssen“.
Daher fand ich es sehr spannend, in SCHÄCHTEN auch die Frage aufzuwerfen, was es heißt, Täter zu sein. Ich wollte auf alle
Fälle keine Klischees erzeugen, sondern so wahrhaftig wie möglich erzählen. Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass solche
Verbrechen, bei dem Menschen, der sie begangen hat, einfach spurlos vorüber gegangen sind. Das wollte Paulus Manker in seiner
Interpretation des ehemaligen Nazis Gogl/Hartinger, der im Salzkammergut als Volkschuldirektor wieder in sehr angesehener
Funktion Teil der Gesellschaft geworden ist, zum Ausdruck bringen. Ich wollte keinen stereotypen Nazi zeigen, der augenscheinlich
der Bösewicht ist und auf den man mit dem Finger zeigen kann. Bei so einem Thema darf man auf keinen Fall schwarzweiß malen.
Es spricht ja am Ende ohnehin alles für sich selbst.
Wie geht es einem beim Schreiben so widerlicher Szenen wie im Gerichtssaal oder im Wirtshaus?
THOMAS ROTH: Ich wollte das schonungslos und direkt zeigen. Es muss verstören. Nach der Weltpremiere des Films in San Francisco ist eine
Zuschauerin zu mir gekommen und hat bestätigt, dass sie alles genauso erlebt habe. Sie fand es auf eine „positive“ Weise „disturbing“,
dass Dinge so offen und direkt ausgesprochen werden, wie es im Film zu sehen ist. Ich verwende praktisch nur Originalzitate
aus den Gerichtsälen selbst. Das kann man sich heute wirklich kaum vorstellen.
Ist auch die Vorgeschichte des jüdischen Kindes, das im Wald überlebt, von tatsächlichen Ereignissen inspiriert?
THOMAS ROTH: Dass meine Hauptfigur als Kind im Wald überlebt hat, ist fiktional; basierend auf Geschichten jüdischer Familien, die sich
mit ihrem letzten Hab und Gut im Wald versteckt haben und die von Schergen der Konzentrationslager, die sich ein Sonntagnachmittags-Vergnügen
daraus gemacht haben, sie dort aufzuspüren, gejagt wurden. Das war es, was ich unbedingt auch zeigen wollte. Ich fand es dramaturgisch
wichtig, dass eine Traumatisierung als Teil von Viktors Geschichte sichtbar ist und auch die Aufarbeitung geschehen muss.
Dass er letztlich versucht, sein erlittenes Trauma auf den Täter zu übertragen, fand ich reizvoll.
Viktor ist eine Figur, die einen starken Wandel durchlebt: von einer eher konzilianten Haltung wird er zu jemandem, der die
Forderung nach Wiedergutmachung mit radikaler Entschlossenheit in die Hand nimmt.
THOMAS ROTH: Viktor ist zu Beginn eher skeptisch, als ihn sein Freund Ari zu mehr Engagement zum Schutz der jüdischen Gemeinde drängt.
Er wird in der Folge alles unternehmen, um Gerechtigkeit im Wiesenthal‘schen Sinne zu bekommen. Als er daran scheitert, versucht
er, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Ob das richtig oder falsch ist, möchte ich dahingestellt lassen. Es soll für
die Zuschauer:innen die Frage im Raum stehen, wie sie an Viktors Stelle gehandelt hätten. Das ist der entscheidende Punkt,
um zu dieser Figur Empathie entwickeln zu können. Viktor sucht den Mörder seiner Familie zunächst auf, um an sein Gewissen
zu appellieren. Als alle Stricke reißen, schlägt sein Plan aber um.
Haben Sie bei der Entwicklung von Viktors Figur auch über einen anderen Ausgang nachgedacht?
THOMAS ROTH: Das Ende bleibt ja ein wenig offen. Ich hatte eine Zeitlang sogar ein noch radikaleres Ende gesehen und mehrere Versionen
geschrieben. Das endgültige Ende habe ich eigentlich erst im Schnitt gelöst. Anders als ich gedacht hatte. Ich wollte, dass
Platz zur Interpretation offen bleibt und über der Frage, ob die letzten Bilder Traum oder Realität sind, ein Fragezeichen
stehen lassen.
Der Cast von SCHÄCHTEN ist bis auf die Hauptfigur sehr hochkarätig österreichisch besetzt. Die Hauptfigur Viktor Dessauer
haben Sie mit einem deutschen Schauspieler besetzt. Wie kam es zu diesem Cast?
THOMAS ROTH: Der Film war ursprünglich als deutsch-österreichische Koproduktion geplant und es war auch vorgesehen, dass es mehr kreativen
Input aus Deutschland und auch ein höheres Budget geben sollten. Aufgrund von Covid ist es aus wirtschaftlichen Gründen nicht
zu einer Koproduktion gekommen. Wir standen vor der Entscheidung, mit dem kleineren Budget den Film zu verwirklichen oder
das Projekt sein zu lassen. Natürlich habe ich mich für Ersteres entschieden, auch wenn es nur 25 Drehtage für einen Winterdreh
mit Schnee bedeutet hat. Und es war auch die Gelegenheit, zum Großteil mit österreichischen Schauspieler:innen zu arbeiten.
Bei der Hauptfigur war es mir wichtig, sie mit einem jüdischen Schauspieler zu besetzen. Jeff Wilbusch war unter den vielen
Schauspielern, die ich gecastet habe, der überzeugendste. Casting ist ein schöner Prozess, es hat mir große Freude bereitet,
mir einen Cast zu überlegen und dann auch die Zusagen der angefragten Schauspieler:innen zu bekommen. Mit Paulus Manker wollte
ich schon sehr lange einmal arbeiten, Georg Friedrich ist ein großartiger Schauspieler, mit dem ich schon vor mehr als zwanzig
Jahren einen Film gemacht habe. Auch mit Julia Stemberger war es meine erste Zusammenarbeit. Es war für mich mit allen Schauspieler:innen
eine sehr professionelle und positive Erfahrung.
Wie gelang es, die sechziger Jahre so glaubwürdig wiederherzustellen?
THOMAS ROTH: Das war eine große Herausforderung, denn an Originalmotiven zu drehen, ist heute durch Satellitenschüsseln, Straßenbeleuchtungen
oder Klimageräte schon sehr schwierig geworden. Unsere Ausstattungsabteilung hat sehr genau gearbeitet. Man kann sich natürlich
mit digitalen Mitteln helfen und Dinge retouchieren oder hinzufügen, das ist aber wieder mit Kosten verbunden. Wir haben sehr
akribisch darauf geachtet, dass uns keine historische Unachtsamkeit passiert. Es steckt sehr viel Herzblut seitens der Head
of Departments in dem Film und viel Engagement der Produzenten Burkhard und Katharina Ernst von Cult Film. Angesichts des
relativ engen budgetären Korsetts halte ich es für sehr gelungen.
Das knappe Budget, die komplizierten Corona-Regelungen während des Drehs
all das hat es uns natürlich nicht leicht gemacht.
Es war aber inhaltlich sehr spannend und immer wieder inspirierend, die Anregungen aus einem motivierten Team aufgreifen und
weiterentwickeln zu können. Trotz der Düsternis des Stoffes, war der Weg dorthin ein sehr erhellender und anregender Prozess.
Man sieht Viktor als alten Mann in der Gegenwart in Manhattan, der eine kurze Rückschau hält, vieles über den Verlauf seines
Lebens nach der Auswanderung bleibt offen? Was hat Sie zu diesem Epilog bewogen?
THOMAS ROTH: SCHÄCHTEN ist ja nicht gerade ein Feel-Good-Movie, dieses Ende transportiert, wie ich glaube, auch ein wenig Erleichterung.
Mir ging es darum, den Film ins Heute zu bringen, weil er, wie gesagt, Themen aufwirft, die für unsere Gesellschaft ebenso
aktuell und relevant sind, wie für die damalige. Und ich halte es optisch für ein schönes Ende, man hat in dieser Einstellung
Sicht auf den Ground Zero und die Architektur, die an der Stelle der Twin Towers entstanden ist.
Interview: Karin Schiefer
August 2022