Wer immer ZUSAMMENLEBEN ansieht, wird viele Untertitel lesen müssen, egal welcher Sprache er/sie mächtig ist. Thomas Fürhapters Konzept war es, die
Pluralität der aktuellen österreichischen Gesellschaft über ihre Sprachenvielfalt abzubilden. Als Beobachter in den Startcoachings
der Stadt Wien für ihre Zuwander:innen interessiert er sich für die vielen Individuen, die ein neues Leben beginnen und die
Fragen, die das Miteinander in einer heterogenen Gesellschaft aufwirft.
Der Nachspann von ZUSAMMENLEBEN verweist auf eine Idee zu diesem Film, die auf die Kamerafrau Judith Benedikt zurückgeht.
Wie sah diese erste Idee aus?
THOMAS FÜRHAPTER: Judith Benedikt hat mir während der Dreharbeiten zu meinem letzten Film, Die dritte Option, erzählt, dass sie für ihren eigenen
Film China Reverse in Wien einen Kurs für chinesische Einwander:innen in chinesischer Sprache gedreht hat, und dass es dieses
Angebot seitens der Stadt Wien auch in vielen anderen Sprachen gibt. Das hat mich neugierig gemacht. Es handelt sich bei diesen
Kursen um ein Angebot der MA 17, der Wiener Magistratsabteilung für Integration und Diversität, die mehrere Module zu unterschiedlichen
Themen anbietet, z.B. zu Arbeitsrecht, Wohnen, Bildung, Aufenthaltsrecht usw. Eines der Module heißt Zusammenleben, wo es
primär um kulturelle Verhaltensweisen, Gepflogenheiten und Normen geht.
Handelt es sich dabei um verpflichtende Kurse?
THOMAS FÜRHAPTER: Nein, die Kurse sind freiwillig. Es handelt sich um ein Angebot, das Interessierte in ihrer Muttersprache als eine Art Einführung
besuchen können, aber nicht müssen. Die Kurse werden von der MA17 nicht als „Integrationskurse“ bezeichnet, sondern „Startcoachings“
und „Info-Module“ genannt. Ich vermute, dass sich die MA17 gegenüber den verpflichtenden Intergrationskursen auf Bundesebene
abgrenzen wollte.
Warum haben Sie sich für das freiwillige Modell interessiert?
THOMAS FÜRHAPTER: Die Freiwilligkeit war für dieses Projekt nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend war einerseits, dass die MA17 sehr kooperativ
war und die Kurse in den jeweiligen Muttersprachen anboten. Die Tatsache, dass so viele unterschiedliche Sprachen zu hören
sind, verstärkt einerseits die Tatsache, dass Wien eine Einwanderungsstadt ist und wir in einer pluralistischen Gesellschaft
leben. Andererseits wird damit ein wesentliches Integrationsthema ins Zentrum gerückt, ohne es explizit zu thematisieren:
die Sprache. Das macht es für das Publikums des Films nicht zwar einfach, weil es immer die Untertitel mitlesen muss. Aber
es war für die inhaltliche und formale Konzeption des Films entscheidend.
Welche Art von Recherche ging den Dreharbeiten voraus?
THOMAS FÜRHAPTER: Der Film beobachtet grundsätzlich zwei Arten von Personen: Geflüchtete Menschen, Asylwerbende zum einen, zum anderen Menschen,
die aus beruflichen oder aus privaten Gründen nach Österreich kommen, um hier zu leben. Sie haben einen unterschiedlichen
rechtlichen Status, im Film mache ich diesen Unterschied aber nicht sichtbar. Mich hat interessiert, in der ganzen Breite
des Spektrums Menschen zu betrachten, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Österreich kommen. Für Zuwander:innen,
also Menschen, die nicht aus Fluchtgründen gekommen sind, gibt es acht Module, eines davon heißt Zusammenleben – auf dieses
Modul habe ich mich nach Gesprächen mit der MA17 und nachdem ich mir einige der Kurse angeschaut hatte, konzentriert. Diese
Kurse hatten das größte Diskussionspotenzial. Andere Module haben eher pragmatischen Charakter; da werden Informationen vermittelt,
die man nötigenfalls auch auf einer Website recherchieren könnte. Für die Asylwerber:innen gibt es jeden Monat ein neues,
auf die aktuellen Bedürfnisse abgestimmtes Programm, da habe ich mir auch die interessantesten Themen herausgepickt, z.B.
Gewalt in der Familie, Kopftuch und Integration. Das gesamte Angebot ist sehr breit gefächert, ich musste vorab eine thematische
Selektion treffen.
Gabe es Vorgespräche mit Trainer:innen und Teilnehmer:innen?
THOMAS FÜRHAPTER: Mit den Trainer:innen war ich vor den Dreharbeiten in Kontakt. Die erste Ansprechstelle war aber die MA 17, wo dieses Programm
auch initiiert worden ist. Dort haben wir uns das grundsätzliche Einverständnis für die Dreharbeiten geholt, ehe wir Förderungen
beantragt haben. Die MA 17 hat auch wichtige Kommunikationsarbeit gegenüber den Trainer:innen geleistet, damit diese auch
hinter unserem Projekt standen. Es waren nicht alle, aber relativ viele gerne dabei. Teilnehmer:innen konnten wir gar nicht
vorab informieren, weil diese Kurse sehr niederschwellig sind und man ganz spontan ohne Voranmeldung daran teilnehmen kann.
Daher wussten wir auch nie, wie viele Leute kommen. Am Anfang jedes Kurses habe ich den Teilnehmenden das Filmprojekt kurz
vorgestellt und sie gefragt, ob sie einverstanden sind gefilmt zu werden. Dabei konnte ich auf die Rückendeckung der Kursleiter:innen
zählen, die in den jeweiligen Sprachen vermittelt haben. Es war wider unsere Erwartungen relativ selten der Fall, dass jemand
nicht gefilmt werden wollte.
Gibt es je nach Kultur- und Sprachraum verschiedene Inhalte, thematische Schwerpunkte? Haben Sie nach sprachlicher oder nach
thematischer Vielfalt entschieden zu drehen?
THOMAS FÜRHAPTER: Die Kurse habe ich nach mehreren Kriterien ausgewählt. Zum einen war ein möglichst breites Sprachspektrum ausschlaggebend,
zum anderen thematische Varianz. In thematischer Hinsicht habe ich mich mit den Leuten von der MA17 abgesprochen, und sie
um ihre Einschätzung gefragt, wo die Themen mit der höchsten Aufmerksamkeit und mit der stärksten Interaktion zu erwarten
sind. Im Schnitt haben wir dann versucht uns vom Gedanken der Intersektionalität leiten zu lassen. Die Kategorien race-class-gender
sollten ungefähr gleichberechtigt im Film thematisiert werden, erweitert um ability.
Bringen die Trainer:innen in erster Linie ihre eigene Erfahrung und damit ein hohes Maß an Subjektivität ein oder werden sie
auch in gewisser verbindender Weise ausgebildet?
THOMAS FÜRHAPTER: Das Interessante an diesen Kursen ist, dass sie großteils von Trainer:innen gehalten werden, die schon vor längerer Zeit
nach Wien gekommen sind und den Prozess der Integration selbst durchlaufen haben. Ob sie eine Schulung haben, kann ich nicht
sagen, ich denke schon. Es fließt schon sehr viel an persönlicher Erfahrung der Kursleiter:innen ein. Dieser Aspekt der Subjektivität
ist sehr spannend, manchmal aber auch problematisch. Wenn z.B. den Frauen gesagt wird, dass sie nicht davon ausgehen sollten,
hier nun völlig frei zu sein, wird gleich auch ein konservatives Weltbild mit vermittelt. Einer der arabischsprachigen Trainer
hat das Thema kulturelle Differenzen in kurze Geschichten und Anekdoten verpackt und ist gar nicht didaktisch nach Ge- und
Verboten vorgegangen. Diese Diversität in der Methode und die unterschiedliche Wahrnehmung von Wien fand ich recht spannend.
Wurden Ihnen als Regisseur beim Dreh die Inhalte sofort gedolmetscht? Wussten Sie immer, worum es geht?
THOMAS FÜRHAPTER: Wir Teammitglieder haben außer in den deutsch- und englischsprachigen Kursen gar nichts verstanden und mussten warten, bis
die Kurse übersetzt waren. Aufgrund der großen Menge des Materials hat es relativ lang gedauert, bis die übersetzten Fassungen
verfügbar waren. Beim Drehen mussten wir uns auf die Stimmung einlassen. Über die Emotionalität in der Stimme, über die Gesichtsausdrücke
wird auch schon sehr viel transportiert. Darauf haben wir uns konzentriert.
Beinahe ein Art Spiegelsituation, die nachempfindet, wie es Neuankommenden gehen muss, die die Sprache in dieser Stadt nicht
beherrschen.
THOMAS FÜRHAPTER: Ja, nur dass die keine Untertitel haben. Es gibt noch einen anderen interessanten Aspekt. Aus einer filmtheoretischen Perspektive
hat sich bei diesem Projekt beinahe überdeutlich gezeigt, was der Dokumentarfilm immer schon ist. Chris Marker hat einmal
gesagt: „Man weiß nie, was man filmt.“ Man weiß beim Dokumentarfilm nie, was passieren wird. Man weiß nie, wie das soeben
Gedrehte einzuordnen ist. In unserem Fall haben wir erst Monate später im Detail erfahren, was eigentlich gesprochen wurde.
Der Film wurde bei der Diagonale in Graz mit dem Kamerapreis ausgezeichnet: Es gibt ein charakteristisches visuelles Element:
die lange Einstellung auf ein Gesicht, ein Individuum. Wie haben Sie gemeinsam mit Kamerafrau Judith Benedikt die Kameraarbeit
entwickelt, die sich im sehr begrenzten Setting der Unterrichtsräume bewegen musste.
THOMAS FÜRHAPTER: Wir haben bei einem Vordreh verschiedene Dinge ausprobiert: unterschiedliche Einstellungsgrößen und Kamerastandpunkte, Handkamera,
vom Stativ usw. Entscheidend waren dann zwei Aspekte. Ein pragmatischer Aspekt, der sich daraus ergeben hat, dass wir in relativ
kleinen Räumen gedreht haben und zwei Blickrichtungen hatten, den der Teilnehmenden und den der Kursleiter:innen. Und wir
wollten die Personen möglichst frontal filmen. Daher mussten wir einen engen Bildausschnitt wählen, damit die andere Kamera
nicht im Bild ist – wir haben ja mit zwei Kameras gedreht.
Und zweitens gab es einen inhaltlichen Aspekt. Das Konzept von ZUSAMMENLEBEN war, Menschen, die oft als undifferenzierte anonyme
Masse wahrgenommen werden, eine Individualität zu geben und gleichzeitig zu zeigen, dass es viele sind. Dafür hat sich das
klassische Portraitformat angeboten. Es sollte in der Gesamtwahrnehmung eine große Menge von Individuen, aber keine anonyme
Masse entstehen.
Das lange Verweilen der Kamera auf den Gesichtern wirft für die Zuschauer:innen auch Fragen nach der Lebensgeschichte dieser
Menschen auf.
THOMAS FÜRHAPTER: Ja, es war eine bewusste formale Entscheidung, oft die Migrant:innen im Bild zu haben, auch dann, wenn man im Off die Vortragenden
hört. Mit dieser Form wollten wir mit filmischen Mitteln die Frage aufwerfen, wie das Vorgetragene bei den Teilnehmer:innen
ankommt oder auch das Publikum einladen, sich an deren Stelle zu versetzen und sich zu fragen, wie es ihnen in dieser Situation
gehen würde. Wäre ich in einem anderen Land in so einem Kurs, und jemand würde mir erklären, dass man Frauen und Kinder nicht
schlagen darf, dann würde ich mich fragen, was hier eigentlich vorausgesetzt wird. Im Kurs mit deutschen Zuwander:innen würde
man dieses Thema nicht ansprechen. Welches Wissen wird bei wem vorausgesetzt – das ist eine interessante Frage.
Überraschend für uns Zuschauer:innen ist die Gruppe mit deutschen Einwander:innen. Warum besuchen diese Menschen trotz gleicher
Sprache und EU-Mitgliedschaft diese Kurse?
THOMAS FÜRHAPTER: Deutsche sind eine der größten Einwanderungsgruppen. Natürlich haben Deutsche andere Fragen und Probleme als Nicht-Deutschsprachige
oder Nicht-EU-Bürger:innen. Sie sprechen zwar dieselbe Sprache, aber es gibt auch feine sprachliche und kulturelle Unterschiede.
Interessant fand ich die Eigenwahrnehmung der Deutschen. Als ich am Anfang des Kurses den Deutschen den Film vorgestellt habe,
habe ich – wie in jedem Kurs – gesagt, dass ich einen Film über Migrant:innen mache. Da haben sie zuerst einmal komisch geschaut,
so quasi: Wir sind Migrant:innen? Die nehmen sich gar nicht als Migrant:innen wahr. Und nicht nur sie selber nicht, ich glaube
auch viele Österreicher:innen nehmen Deutsche nicht als Migrant:innen wahr. Das sagt schon viel aus.
Überraschend ist im Film vielleicht nicht nur der Kurs für die Deutschen, sondern auch für die Gehörlosen. Dieser Kurs war
der einzige, der nicht direkt von der MA17 organsiert war. Gebärdensprache wollte ich aber unbedingt dabeihaben, erstens weil
die Gebärdensprache das Spektrum der Sprachen um eine interessante Dimension erweitert und zweitens weil die Kategorie (Dis)ability
im identitätspolitischen Diskurs gerne vergessen wird – wie man ja auch in der Filmbranche im Zuge der Diskussion um die Gleichstellungsnovelle
gesehen hat.
Wie ist die Geschlechter-Verteilung, je nach Kurs und Sprache? In welchen Zusammenhängen gibt es eine Trennung?
THOMAS FÜRHAPTER: Genau kann ich das nicht sagen, aber gefühlsmäßig würde ich sagen, dass es annähernd ausgeglichen war. Der Großteil der Module
war offen für Männer und Frauen, es gab aber auch einige getrenntgeschlechtliche Kurse, spezielle Workshops nur für Frauen
oder z.B. das Modul für Männer zu Sexualität, der im Film zu sehen ist. Zu diesem Modul gab es einen äquivalenten Kurs für
Frauen, bei dem wir bedauerlicherweise nicht drehen durften.
Durch die ähnlichen Settings mit wechselnden Themen lässt sich annehmen, dass ZUSAMMENLEBEN zu einem hohen Maß am Schneidetisch
entstanden ist.
THOMAS FÜRHAPTER: Der Schnittprozess war in der Tat sehr lang. Corona hat ihn unterbrochen und nicht gerade einfacher gemacht. Die verschiedenen
Kriterien wie thematische Varianz und Sprachenvielfalt dramaturgisch abzustimmen, war eine große Herausforderung. Das Sprachgewirr
signalisiert auf einer akustischen Ebene Pluralität und Vielfältigkeit. Es wirft die grundsätzliche Frage auf, ob man denn
in einer Sprache sprechen muss, um zusammenleben zu können oder ob es nicht auch um eine Anerkennung von Differenzen geht,
die sich filmisch im stimmlichen Klang der Stimmen ausdrücken. Ohne Sprachkenntnisse scheint die Chance, Fuß zu fassen zu
können, beinahe unmöglich. Die Wichtigkeit von Kenntnissen der deutschen Sprache wird in den Kursen immer wieder betont. Sie
wird als das Vehikel schlechthin von Integration angesehen.
Mit welcher Conclusio stehen Sie diesem Kursangebot gegenüber. Wie zielführend erschienen Ihnen diese Kurse?
THOMAS FÜRHAPTER: Das ist schwer zu sagen. Mich hat weniger die Bewertung des Kursangebots interessiert als vielmehr die Frage, wie Aspekte
des Zusammenlebens vermittelt werden. Welche Themen werden angesprochen? In welchem Duktus wird wem was erzählt? Wie ist die
Didaktik? Positiv fand ich, dass ein Großteil der Kurse von ehemaligen Migrant:innen in den jeweiligen Muttersprachen geleitet
wurden und nicht von Österreicher:innen ohne Migrationserfahrung auf Deutsch. Und dass nicht so sehr von oben Ge- und Verbote
kommuniziert wurden, sondern dass es schon auf Augenhöhe war – vielleicht nicht immer und überall, aber zumindest tendenziell.
Primär hat mich interessiert, wie man so etwas wie die österreichische Kultur, wie man österreichische Gewohnheiten und Verhaltensnormen,
die per se total heterogen ist, überhaupt vermitteln kann. Kann man ein notwendigerweise fragmentarisches und heterogenes
Bild der österreichischen Gesellschaft überhaupt vermitteln?
Interview: Karin Schiefer
Mai 2022