Ist in den Medien von Alice Schwarzer die Rede, wird sie selten über ihren Beruf als Autorin und Journalistin näher bezeichnet,
sondern vielmehr über ihre Haltung – die der Feministin, die man gerne mit dem Attribut „streitbar“ ergänzt. Sabine Derflinger
hat in ihrem filmischen Portrait ALICE SCHWARZER einen heiteren und scharfsinnigen Geist ins Licht gerückt und fünf Jahrzehnte engagierter Auseinandersetzung mit dem kleinen
großen Unterschied in unserer Gesellschaft nachgezeichnet.
Mit Johanna Dohnal haben Sie zuletzt eine wesentliche Figur der österreichischen Frauenpolitik portraitiert, die in den späten
siebziger Jahren und achtziger Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung stark präsent war, heute – einige Jahrzehnte später
etwas in Vergessenheit geraten war. Wie ergab es sich, dass Alice Schwarzer, die derselben Generation angehört, so unmittelbar
als Protagonistin eines weiteren filmischen Portraits wurde?
SABINE DERFLINGER: Ich hatte im Rahmen der Arbeit an Die Dohnal die Gelegenheit, Alice Schwarzer kennenzulernen, die in diesem Film ja ein Interview
gibt. Das war der Ausschlag. Es hat dann aber lange gedauert. Während es in Österreich mit der Finanzierung relativ glatt
ging, hat der Umstand, dass Alice Schwarzer eine streitbare Person ist, in Deutschland auch die Finanzierung eines Portraits
über sie erschwert. Diese erschwerten Rahmenbedingungen haben sich durchs gesamte Projekt gezogen und begegnen uns gerade
wieder in Rechte- und Verleihfragen. Der Film löst in Deutschland eine ideologische Diskussion aus. Mein Eindruck ist, dass
Menschen, die von der Idee eines Filmportraits über Alice Schwarzer hören, das Projekt sofort zu ihrer eigenen Befindlichkeit
in Bezug setzen. Es geht allerdings in erster Linie um die Geschichte einer Frau und ein Stück Frauengeschichte.
Der Film zeigt auch über TV-Ausschnitte aus mehreren Jahrzehnten viele Facetten von Alice Schwarzer. Haben Ihre Recherchen
in den Fernseharchiven ihren Ausgang genommen?
SABINE DERFLINGER: Der ursprüngliche Plan war der, Alice viel intensiver zu begleiten. Sie hatte ein neues Buch geschrieben, Lebenswerk, in
dem es um die Themen geht, die sie beschäftigen. Beim Launch dieses Buches wollte ich sie begleiten und aus den Beobachtungen
der Gegenwart auch in die Vergangenheit blicken. Es war keineswegs mein Plan, einen so archivlastigen Film zu machen. Dass
ihre Zeitschrift EMMA ein Kernstück bilden würde, war klar. Dann kam Corona, wir haben einige Veranstaltungen auch gefilmt,
ich wollte aber keinen Film mit Menschen, die ständig Masken trugen. Die Lockdowns haben die Dreharbeiten dann sehr in die
Länge gezogen. Meine Prämisse war, dass man diese Frau spürt, dass man weiß, wer sie ist, warum sie so ist und dass man auch
ihre Inhalte und die Beweggründe ihrer Schlussfolgerungen nachvollziehen kann. Die heutige Islamismusdebatte hat ja ihre Wurzeln
in den siebziger Jahren. Es ist nicht so, dass Alice damals so war und heute ganz anders, ihre heutige Positionierung zu bestimmten
Themen ist sehr gut aus ihrer Geschichte zu erklären und hat in sich eine logische Konsequenz, die man teilen oder nicht teilen
kann. Ihr geht es um die Frauensache. Und da legt sie den Finger immer wieder auf den wunden Punkt, egal wo sie damit aneckt.
Es gibt tolle Gedankenkonstrukte, es gilt aber immer, diese auf der Realitätsebene zu überprüfen. Natürlich kann ich zur Prostitution
sagen, dass es jedem Menschen freisteht, seinen Körper zu verkaufen. Was aber ist die Konsequenz dieser Freiwilligkeit? Wohin
führt das?
Ist es eine Eigenheit von Alice Schwarzer, gerade solche Ansätze immer bis in die letzte Konsequenz zu denken?
SABINE DERFLINGER: Sie ist eine Figur des öffentlichen Lebens und hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dabei polarisiert sie. Sie ist jemand,
die Dinge bis zu Ende denkt und den Diskurs herausfordert: z.B. in der Transgenderfrage. Wenn wir darüber nachdenken, ob wir
die Geschlechter aufheben, dann stellt sich die Frage, wie man sie definiert? Es gibt Fragen, die es zu Ende zu denken gilt.
Wenn ich heute sage, ich bin ein Mann und morgen fühle ich mich als Frau, dann stehen mir sämtliche Frauenräume offen, wenn
ich mich nicht eindeutig entscheide. Es steht außer Frage: wenn sich jemand im falschen Körper fühlt, dann soll er/sie daran
etwas ändern können. Doch man muss auch fragen dürfen: Ist es wirklich notwendig? Es ist ein schwerwiegender operativer Eingriff,
der die Gesundheit angreift. Auffällig ist, dass sich viel mehr Mädchen umoperieren lassen wollen als umgekehrt. Auch diese
Frage steht im Raum: Warum wollen so viele Mädchen Jungs werden? Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass man erst recht
wieder binäre Systeme schafft, in dem Mädchen glauben, sich operieren lassen zu müssen, weil es unzulässig geworden ist, rollenabweichend
zu agieren? Ich werfe dieses Thema im Film nicht auf, weil es für den Film eine Runde zuviel bedeutet hätte. Mein Film fokussiert
auf das Frau-Sein – auf das Abbild der Frau, auf das Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu verfügen.
Durch die lange Geschichte von Alice Schwarzers Aktivismus erschließt der Film auch die Entwicklung verschiedener Themen im
gesellschaftlichen Kontext der letzten fünfzig Jahre?
SABINE DERFLINGER: Mit anzuschauen, wie sich gewisse Debatten entwickelt und wo sie ihre Wurzeln haben, waren für mich einer der Hauptgründe,
weshalb ich diesen Film auf die Leinwand bringen wollte. Man sieht in den TV-Archivaufnahmen in diesem Film ebenso wie in
Die Dohnal, welche Ungeheuerlichkeiten bis in die achtziger Jahre im öffentlichen Fernsehen gesagt worden sind. Man sieht
daher auch, was erreicht worden ist, aber auch, was wieder zurückgeht. Die Kopftuchdebatte hat zu Beginn der Arbeit am Film
den stärksten Gegenwind ausgelöst, sie ist jetzt, wo der Film fertiggestellt ist, nahtlos mit Hass und Hysterie von der Transgenderdebatte
abgelöst worden. Die Frage ist: Wo enden gewisse Dinge? Wir können über kulturelle Identitäten reden. Wenn Bekleidungsvorschriften
mit ungleichen Rechten für Frauen kombiniert sind, dann wissen wir, wo das endet.
Erstaunlich ist, dass es den wirklichen Kampf um eine gleichberechtigte Gesellschaft nicht gibt. Es wird auf seltsamen Definitionsschauplätzen
herumgestritten. Wo sind die Demonstrationen zur Situation in Afghanistan? Wer wehrt sich, dass es immer schwieriger wird,
einen Schwangerschaftsabbruch zu machen? Da, wo es darum geht, dass Frauen ihrer Menschenrechte beraubt werden, da passiert
denkbar wenig. Ich hoffe, dass dieser Film über Alice Schwarzer ein Gefühl dafür vermittelt, welches die großen, ungelösten
Themen sind.
Was waren in ihrem Werdegang die wichtigen Etappen?
SABINE DERFLINGER: In meinem Film geht es vor allem um die Frau, die über all die Jahre so viel bewegt hat und darum festzuhalten, was sie bewegt
hat, was alles rund um sie stattgefunden hat und wie sie durch alles durchgegangen ist.Sie hat Journalismus gelernt, ist als
junge Frau nach Frankreich gegangen, wo sie mit dem Feminismus in Berührung gekommen ist, was letztlich zur Gründung ihres
eigenen Magazins Emma geführt hat. Sie begann Bücher zu schreiben, eines der ersten wichtigen war 1975 Der kleine Unterschied,
für das sie noch vor der Familienrechtsreform Frauen zu ihrem Sexualleben befragt hat. Ein Kassenschlager, mit dem sie in
aller Munde war. Der zweite Erfolg war ihre TV-Konfrontation mit Esther Vilar, der Autorin von Der undressierte Mann, die
ganz zu Beginn meines Films steht. Es ist die Diskussion zwischen einer Frau, die sich als Feministin definiert hat und einer
anderen, die behauptet, die Männer seien das arme Geschlecht, das von den Frauen beherrscht würde. Ihre ersten Bücher hat
Alice Schwarzer vor allem deshalb geschrieben, weil sie in den gängigen Medien daran gehindert wurde, über Frauenthemen zu
schreiben. Eine ihrer großen Leistungen bestand darin, den Feminismus ins Wohnzimmer oder in den Mainstream gebracht zu haben.
Feminismus findet heute oft in Blasen, in universitären Zirkeln statt. Die hitzigen Debatten, die momentan den Feminismus
beschäftigen, bleiben vielen Menschen unbekannt. Die Fernsehdebatten oder die gefilmte Abtreibung im Fernsehen in den siebziger
Jahren – das waren aus heutiger Sicht wirklich revolutionäre Momente! Man stelle sich vor, dass heute im Fernsehen eine Abtreibung
zu sehen ist. Unvorstellbar. Aber so ist eine breite Bevölkerung mit der Diskussion in Berührung gekommen. Man musste keine
Feministin sein, um eines der Bücher von Alice zu lesen. Ihre Fernsehpräsenz war sehr unterhaltsam, wie Alice Schwarzer überhaupt
ein sehr lustiger Mensch ist. Alice Schwarzer ist unheimlich eloquent und humorvoll, wenn sie mit ihren Gegnern spricht und
die Dinge genau auf den Punkt bringt. Es ist eine ihrer großen Qualitäten, wie sie Dinge formulieren und argumentieren kann
und das mit einer feinen Klinge macht, ohne je untergriffig zu werden. Auch auf die Vorwürfe, die gegen sie erhoben werden,
reagiert sie nicht emotional. Sie bleibt auf Augenhöhe.
Haben Sie auch ihre Widersprüche entdeckt?
SABINE DERFLINGER: Wenn ich einen Film mache, dann lasse ich mich einfach auf die Menschen ein. Ich bewerte nicht. Natürlich haben wir beide
eine feministische Haltung, die sich erstaunlicherweise breit deckt. Wir leben in einer Zeit, wo wir alle unfehlbar sein sollten.
Ist eine Frau zu laut oder hat sie einen Fehltritt gemacht? Sobald man ein Portrait über eine Journalistin macht, stellen
sich in einer seltsamen Form die Moralfragen. Hätte ich ein Portrait über Henri Nannen gemacht, würde niemand diese Frage
aufwerfen. Was ich in diesem Film als anstrengend erlebt habe, war vielmehr die Tatsache, dass, wenn auch von einer kleinen
Gruppe, emotionale Gegnerschaften unreflektiert über mich hereingebrochen sind – und dies stärker von Frauenseite. Es hat
mich gewundert, dass kein Selbstverständnis für eine Frau da war, die so viel geleistet hat.
War es schwieriger Alice Schwarzer zu portraitieren als Johanna Dohnal?
SABINE DERFLINGER: Ja, viel schwieriger. Wir haben sehr viel gedreht, u.a. auch in Frankreich, in Deutschland, in Algerien, in Wien und das
alles während der Pandemie. Es war eine lange Drehzeit, das Archivmaterial zu bekommen, war alles andere als einfach. Die
Rechtebeschaffung ist sehr kompliziert geworden, auch wenn es um Materialien geht, die von gesellschaftlichem Wert sind. Im
Internet kann jeder hochladen, was er will, ohne dass die Urheber etwas davon haben, öffentliche Sender können die Preise
in die Höhe treiben und gestalten die Beschaffung des Materials selten schwierig. Als ich in den achtziger Jahren begonnen
habe, Dokumentarfilm zu machen, konnte man Dinge, die man als gesellschaftlich relevant erachtet hat, aufnehmen. Wie sollen
geschichtliche Filme entstehen, die ganze Zeitspannen umfassen, wenn es so aufwändig ist, dies einer Öffentlichkeit zugänglich
zu machen? Wenn ich heute in einem Lokal filme, muss ich mich nachher bemühen, die Musikrechte für die Hintergrundmusik aufzutreiben.
Bringt sich ein Medienprofi wie Alice Schwarzer auch gestaltend ein?
SABINE DERFLINGER: Natürlich war mir klar, dass ich eine Protagonistin hatte, die die Kamera einzusetzen weiß. Alice Schwarzer ist eine Frau,
die ein gesellschaftliches Phänomen ist. Man kann ihr zuschauen, wie sie agiert, wie sie mit Leuten umgeht und wie sie ihr
Ding durchzieht. Wichtig war mir, interessante Gesprächspartnerinnen im Film zu haben und es kommen die wichtigsten Menschen
in ihrem Leben vor.
Wer gehört da dazu?
SABINE DERFLINGER: Da ist Simone de Beauvoir in ihrem eigenen Film, den Alice Schwarzer über sie gemacht hat; Jenny Erbenbeck, mit der sie schon
sehr lange befreundet ist, die Mitarbeiterinnen von Emma, ihre Lebenspartnerin Bettina Flittner, Elisabeth Badinter, mit der
sie die Ansichten über den fundamentalistischen Islam teilt, Anne Selinski, mit der sie 1979 im Iran war oder ihre beste Freundin
Sonja Hopf aus den Tagen des MLF. In den Interviews von früher kommen viele „Mediengurus“ von damals vor, die ihre Gegner
waren. Wir haben viele tolle Interviews mit tollen Menschen gemacht. Ich habe auch mit Menschen gesprochen, für die Alice
Schwarzer in ihrer Arbeit wichtig ist, wo nicht nur ihr Journalismus, sondern auch ihr politisches Engagement wirksam wurde.
Betrachten Sie die Zeitschrift Emma als das zentrale Element in Alice Schwarzers Schaffen?
SABINE DERFLINGER: Ich kann nicht für die frühen Jahre sprechen, aber jetzt ist es eindeutig der Fall. Die Emma ist wie das Herz, aus dem heraus
auch die anderen Projekte entstehen. Man sieht, dass hier ein sehr starkes Frauenteam am Arbeiten ist und es bündeln sich
dort über diese lange Zeit sehr viele Frauengeschichten und -berichte.
Die vielen Interviews und Archivmaterialien im Schnitt zueinander zu setzen, war gewiss keine leichte Aufgabe. Wie haben Sie
in der Montage gearbeitet?
SABINE DERFLINGER: Ich habe den Film mit Lisa Zoe Geretschläger geschnitten, die Anfang dreißig ist und somit aus einer nächsten Generation kommt.
Es war spannend diesen Zugriff auf das Material aus einer anderen Generation zu erleben, ohne einen völlig anderen Blick wahrzunehmen.
Ich bin überzeugt, dass das Verbindende stärker als das Trennende ist. Ich nehme in der aktuellen Diskussion wahr, dass die
Leute vielmehr auf der Suche nach dem Trennenden als nach dem Verbindenden sind. Immer wieder das Verbindende wahrzunehmen,
ist etwas, das auch Alice auszeichnet.
In der Schnittarbeit ist mir sehr stark aufgefallen, dass wir beide in gleichem Maße begeistert waren, gewisse Dinge besser
Bescheid wusste. Für mich war punkto Themen nichts komplett neu, es präsentierte sich nur sehr viel deutlicher. Ich sehe mehr
Schattierungen, für Menschen einer späteren Generation erscheinen die Dinge, die im Film angesprochen werden, neuer. Eine
jüngere Generation hat diese Fernsehsendungen in denen Alice Schwarzer legendär aufgetreten ist, nicht gesehen. Ich war selbst
noch ein Kind, als die Islamisten im Iran die Macht übernommen haben, das war ein schockierendes Ereignis, das einen für immer
prägt, besonders hinsichtlich der Sensibilisierung für die Unterdrückung der Frauen. Spätere Generationen sind damit aufgewachsen,
dass die Unterdrückung von Frauen in der Welt stärker sichtbar ist. Wir hatten unterschiedliche Auffassungen zu Fragen, wieviel
erklärt bzw. vorausgesetzt werden soll. Ich vertrete auch den Standpunkt, dass nicht immer alles verstanden werden muss. Mir
ist wichtig, dass meine Filme auch meine Haltung repräsentieren. Es ist auch ein Novum, dass man mich im Film auch kurz sieht.
Warum haben Sie sich dazu entschieden, selbst im Bild zu sein?
SABINE DERFLINGER: Eigentlich hat mich Alice vor die Kamera geholt. Letztendlich fand ich es aber gut. Ich bin auf einer Demo, spreche mit den
Prostituierten und dann entferne ich mich wieder. Im aktuellen Dokumentarfilm darf man sich nicht so viel Zeit nehmen. Da
schneidet man das weg. Ich habe mir nun gemeinsam mit einer Kollegin aus der jüngeren Generation erlaubt, den Film so zu machen,
wie ich das will, ohne auf gewisse erwartbare Einwände Rücksicht zu nehmen. In den achtziger Jahren bin ich so sozialisiert
worden, dass man beim Dokumentarfilm so lange hinschaut, bis sich das fokussierte Thema erzählt. Das hat manchmal eben länger
gedauert. Man bekommt bei diesem Film auch mit, wie er gedreht ist, woher das Material kommt und dass er nicht die objektive
Wahrheit ist. Gleichzeitig hat der Film eine starke Form. Fotos sind wie früher abgefilmt, eine starke Grafik ist von den
Flaggen und Schriften inspiriert. Er hat außerdem eine klassische Musik, die manchmal den Ton übernimmt. Lauter Dinge, die
ich im aktuellen Dokumentarfilm weniger sehe. Es war sowohl in meinem als auch Lisas Interesse, dass man diese Themen inhaltlich
versteht. Alice Schwarzer ist keine Ideologin, wie ihr immer wieder vorgeworfen wird. Ich finde das Gegenteil ist der Fall.
Die Feministinnen aus der Schule des Universalismus haben immer die Thesen abgeprüft, wie sie in der Wirklichkeit funktionieren.
Die Praxis macht den Unterschied. Wenn ich etwas sehr bedauere – und ich hoffe, der Film kann hier etwas bewirken – dann ist
das diese absolute Ideologisierung, die zurzeit stattfindet. Mein Film musste gut zwischen Archivmaterial und aktuellem Bildmaterial
hin- und herwandern. Es musste eine Reise vom Damals ins Jetzt sein, um zu spüren, warum sich Dinge bedingen. Der Film ist
ein bisschen wie der Feminismus der Alice Schwarzer – er hat klare Gedanken und Strukturen, gleichzeitig darf er diese auch
brechen. Es gibt ein Regelwerk, in dem es immer wieder Ausnahmen gibt. Das ist das Schöne.
In der letzten langen Szene steht Alice Schwarzer vor dem Badezimmerspiegel und schminkt sich und reflektiert darüber, wie
sie sich selbst sieht und wie sie von außen wahrgenommen wird. Haben Sie in ihr auch ein Gefühl von Unverstanden-Sein wahrgenommen?
SABINE DERFLINGER: Wenn man Alice über so lange Zeit wie wir begleitet und als Filmteam miterlebt, was für Dreck da entgegenfliegt
Ich würde
das nie aushalten.
Ich hoffe, dass der Film diese Frage beantwortet. Alice wird von allen, die mit ihr arbeiten, geliebt. Wer sie kennt, ist
begeistert von dieser Energie. Sie bietet Projektionsflächen für alle, weil sie Dinge verwirklichen und verbessern will. Die
Kehrseite ist, dass die andere Seite in ihr nicht wahrgenommen wird. Ist eine Frau stark, darf sie nicht schwach sein. Die
Diskrepanz zwischen Außen- und Innenwahrnehmung hat viel damit zu tun, wie Frauen überhaupt sein dürfen. Wir reden von der
großen Freiheit, von Abschaffung der Geschlechter und gleichzeitig gibt es extrem normative Bilder von Frauen, wie sie sein
dürfen. Die starke Frau ergibt ein anderes Bild wie der starke Mann und wenn sich eine Frau etwas nicht gefallen lässt, wird
das anders bewertet als bei einem Mann. In der Theorie bestreitet man das, aber in der Praxis ist das so.
Warum filmt diesen privaten Moment Alice Schwarzers Lebenspartnerin Bettina Flittner und nicht die Kamerafrau Christine A.
Maier?
SABINE DERFLINGER: Ich wusste, dass Bettina etwas mit Alice gedreht hatte und die Idee gefiel mir. Ich hab‘ sie dann gebeten, mir dieses Material
anschauen zu lassen. Es gibt mehrere Sequenzen im Film, die von Bettina gedreht sind und ich hätte gerne noch mehr davon gehabt.
Bettina ist nicht nur Fotografin, sie hat ihre Ausbildung an der Filmschule absolviert und ich hatte das Gefühl, dass eine
andere Nähe entsteht, wenn sie etwas dreht. Nichts liegt mir als Filmemacherin ferner, jemanden zu manipulieren, um etwas
herauszufinden oder auszulösen. Das widerspricht meiner Persönlichkeit und meinen Vorstellungen vom Filmemachen. Der Mensch,
der Gegenstand meines Films ist, bekommt eine Fläche zur Verfügung und kann sie nutzen. Ich bin mit meinem Team präsent. Dieses
Spiegelmaterial hat mich begeistert und ich wusste gleich, dass es ans Ende des Films passen würde. Zuerst sehen wir die Außenbilder
der Frauen, dann die Außenbilder der Alice Schwarzer und dann schaut sie sich selbst in den Spiegel. Und das gibt Raum, wo
man selber Bezüge zum Material herstellen kann. Man kann eigene Antworten finden und eigene Gedanken mit anderen austauschen;
genau das interessiert mich am dokumentarischen Arbeiten – einen offenen Raum zu schaffen, in dem nicht alles beantwortet
ist. Es gibt eine Struktur, eine Absicht, Frauengeschichte zu erzählen, eine Protagonistin der Frauengeschichte zu portraitieren.
Es soll aber auch ein Raum entstehen, in dem man mit dem Stoff in Kommunikation treten kann, ohne dass ich als Regisseurin
bestimme, was sich alle dazu denken sollen.
Es gibt Generationen, die Alice Schwarzer bewundern und dann auch den Generationenkonflikt mit den jüngeren Generationen.
Ikonen, die so langlebig und bis zum Schluss so tatkräftig sind, haben es schwerer als Ikonen, die nicht mehr unter uns sind
und in die man hineinprojizieren kann. Johanna Dohnal hat immer gesagt: „Schauen wir, dass wir lästig bleiben!“ Alice ist
lästig. Deswegen ist sie geliebt und ungeliebt. Es ist ein Unterschied, ob jemand vor einiger Zeit diesen Satz formuliert
hat oder ob jemand de facto nicht und nicht lockerlässt.
Interview: Karin Schiefer
Februar 2022