Der Roman bringt es in seiner Schlichtheit auf den Punkt: Egger hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Autor Robert Seethaler hat auf nur 150 Seiten die acht Lebensjahrzehnte eines Mannes erzählt, der in sich verankert bleibt,
auch wenn sein Leben ihn ständig mit dem Stärkeren und Mächtigeren konfrontiert. Der Filmemacher Hans Steinbichler hat sich
in seiner Verfilmung von EIN GANZES LEBEN der Herausforderung gestellt, die Wucht und Einfachheit der literarischen Vorlage in filmische Bilder zu setzen.
Ein ganzes Leben ist nicht Ihre erste Zusammenarbeit mit Robert Seethaler. Er hat das Drehbuch für Die zweite Frau, einem
Film aus dem Jahr 2008, geschrieben. Besteht seither eine Verbindung zu seinem Schaffen? Wie und wann sind Sie auf seinen
Roman Ein ganzes Leben aufmerksam geworden?
HANS STEINBICHLER: Robert hat zunächst als Schauspieler zu schreiben begonnen, auch aus der Motivation heraus, Rollen zu schaffen, die er gerne
spielen würde. 2006 ist so das Drehbuch Der Zierfisch entstanden, das über die Produzentin Gabriela Sperl an mich gekommen ist und ich fand den Stoff und die Art der Erzählung
sofort „anders“ und sehr besonders. Ich hatte damals Hierankl und Winterreise hinter mir – meine ersten Kinofilme, die mich als Filmemacher etabliert haben. Mit Der Zierfisch kam im richtigen Moment ein Stoff daher, der nicht von mir war, aber genau meins: Eine Mutter mit einem erwachsenen Sohn,
der keine Frau findet und den sie deshalb nach Rumänien zum Dating schickt. Eine unheimlich berührende, einfache Geschichte,
traurig und lustig zugleich. Aus diesem Film, der dann Die zweite Frau hieß, hat Robert seinen ersten Roman Die weiteren Aussichten entwickelt. Ich fühle mich Robert unter anderem deswegen so verbunden und weil er zudem so ein großartiger, empathischer Mensch
ist. Er hat damals allerdings auch erlebt, dass sich das geschriebene Werk in der Verfilmung unter dem Druck einer Produktion
verändert. Dann ging es ja mit seinem literarischen Schaffen durch die Decke und ich bin meine eigenen Wege gegangen.
Als 2014 Ein ganzes Leben erschien, war für mich sofort klar, dass ich diesen Film machen musste. Es war für mich wie später
Das Tagebuch der Anne Frank, Eine unerhörte Frau oder die Serie Das Boot eine Once-in-a-Lifetime-Chance. Ich komme aus dem Chiemgau, lebe nah an der Grenze zu Tirol und habe gewiss mehr Zeit in Österreich
und in der Schweiz als in Deutschland verbracht, da ich sehr viel in den Alpen unterwegs war und bin. Anfangs hieß es allerdings,
die Regie für Ein ganzes Leben solle ein Österreicher übernehmen. Ich wartete einfach und hoffte, bis nach Jahren die erlösende Nachricht kam, dass der
Stoff nun frei sei. Ich habe daraufhin Jakob und Dieter Pochlatko von der epo-film getroffen und damit war es klar. Robert
Seethaler hatte einen Jahrhundertroman geschrieben und wir würden ihn verfilmen...
Ein ganzes Leben ist ein 150-seitiger Roman, der das Leben des Andreas Egger von seiner Kindheit am Beginn des 20.Jhs. bis in die 1970er Jahre
erzählt. Es ist eine beeindruckende Verbindung aus einer schlichten, reduzierten Sprache, die aber eine Zeitspanne von acht
Jahrzehnten erfasst. Ist Robert Seethaler ein Romanautor, der eine filmische Ökonomie im Erzählen mitbringt?
HANS STEINBICHLER: Ich fand ja schon sein erstes Drehbuch Der Zierfisch herausragend und habe übrigens noch ein weiteres Drehbuch von ihm auf dem Tisch, das ich auch so gerne machen würde. Mit Ein ganzes Leben war es anfangs paradox. Die große Kunst von Robert in diesem Roman liegt in der Reduktion. Reduktion funktioniert aber in
der Literatur anders als im Film. Wir standen daher vor der Aufgabe, einen komplett introspektiven Roman – denn die Ausdehnung
der Welt findet im Kopf von Andreas Egger statt – in eine Filmhandlung zu übersetzen. Seethaler beschreibt auf 150 Seiten
ein ganzes Leben, was da aber wirklich drin steckt, ist kaum zu fassen und so riesig wie eine eigene Welt. Seethaler hat die
Fähigkeit, filmisch zu schreiben, aber ein Film braucht im Gegensatz zur Literatur eine Dramaturgie. Ich hielt das Buch eine
Weile sogar für unverfilmbar. Eben so schön, dass man’s nicht anfassen will. Ich finde übrigens, dass viel mehr Bücher nicht
verfilmt werden sollten. Dieser Stoff hat aber regelrecht danach geschrien und ich glaube, dass der Drehbuchautor Ulrich Limmer
den richtigen Kniff gefunden hat. Er hat Eggers Briefe an Marie als Bindeglied und Bogen in die Erzählung genommen. Ich halte
das für einen legitimen und vor allem handwerklich konsequenten Kunstgriff, um eine Geschichte dieser Art zu erzählen.
Ich nehme an, in der Drehbucharbeit galt es einerseits, die Einfachheit und die Wuchtigkeit dieses Romans miteinander zu vereinen?
Und wahrscheinlich auch für die Hauptfigur, die kein Mann der Worte ist, die Dialoge zu erarbeiten? Worin bestanden die größten
Herausforderungen in der Drehbucharbeit?
HANS STEINBICHLER: Beides, das Einfache und das Wuchtige, waren eine Herausforderung. Ich denke aber, dass wir es geschafft haben, aus dieser
„Not“ eine Tugend zu machen. Der Roman beginnt ja mit der Hörnerhannes-Episode und somit mit einem von zwei großen Dialogen,
die Egger in seinem gesamten Leben führt: einmal, wenn er um Marie wirbt und einmal, wenn er mit dem Hörnerhannes über Leben,
Liebe und Tod philosophiert. Ansonsten redet Egger in der Zeit, die er am Hof vom Kranzstocker verbringt, kein einziges Wort.
Bis zu dem Tag, wo er zum Bauern sagt: Wenn du mich schlagst, bring ich dich um. Im Film erzählen wir hingegen chronologisch. Egger kommt als Kind an den Hof, darf nicht am Tisch der Familie sitzen, wird
ausgenützt und misshandelt. Nach ewigen 25 Minuten im Film sagt Egger seinen ersten Satz. Ich glaube, dass da das Medium Film
plötzlich auch etwas kann, was man in der Literatur gar nicht so schön beschreiben könnte: das Warten auf das erste Wort und
dann die Erlösung.
Eggers Liebeserklärung an Marie ist im Buch das einzige, das völlig überdimensional wirkt. Seine Gefühle für Marie scheinen
das Einzige zu sein, was Egger, der stets unterm Joch lebt, über sich selbst hinauswachsen lässt. Sehen Sie das ähnlich?
HANS STEINBICHLER: Die Liebe rettet Egger. Ich bin selbst am Land aufgewachsen. Ich kenne diese Typen wie Egger aus den Dörfern und den Bergen.
Die haben sich mit ihrem Körper „gepanzert“. Diese Panzerung war auch eine der Bedingungen an den Schauspieler des mittleren
Egger, Stefan Gorski: dass er sich für diesen Film einen Körper-Panzer zulegt: der Nacken, der Rücken, die Muskeln, die Arme
– daran hat er ein Jahr vor Drehstart zu arbeiten begonnen. Die Beobachtung ist daher richtig, dass Egger in sich gefangen
ist und dass die Liebe ihn schließlich befreit und überleben lässt. Er hat einen kurzen, hellen Moment im Leben – im Buch
wird das gar nicht so genau beschrieben – lernt Marie kennen, spart auf die Pacht für die Hütte, sie erwarten ein Kind und
dann – mit einem Schlag – ist Marie weg. Es sind nur zwei Jahre in einem 80-jährigen Leben. Er ist aber in der Lage, durch
diese Liebe über sich hinauszuwachsen und mit Marie sogar über Dinge zu sprechen, die er niemals davor in Worte gefasst hatte.
Als würde der Heilige Geist in ihn fahren. Man hat den Eindruck, dass Egger förmlich mit fremden Zungen spräche. Durch die
Erinnerung an die Liebe zu Marie schafft er es, den Verlust Maries und sein kommendes Schicksal zu erdulden. Die Liebe macht
Egger zu einem freien Menschen.
Ein Rückblick gegen Ende des Romans bringt sein Leben auf den Punkt: Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine
überlebt. Egger wurde in eine Zeit und ein Umfeld geboren, wo Leben Überleben, ein ständiges Leben mit der Überwältigung bedeutet
(der Bauer, die Natur, die gefährliche Holz- oder Seilbahnarbeit, die Lawine, der Krieg). Ist das Umgehen mit der Gnadenlosigkeit
der Natur und auch der Mächtigen, die immer über ihn bestimmten, eines der großen filmischen Themen in dieser Adaption gewesen?
HANS STEINBICHLER: Die Natur ist neben Egger natürlich der „Player“ in EIN GANZES LEBEN. Und ich weiß, dass wir in Osttirol den richtigen Platz
dafür gefunden haben. Mein Vater hat eine Bergsteiger-Zeitschrift in Deutschland herausgegeben und ich war daher schon als
Kind ständig mit ihm in den Bergen unterwegs. Sehr viel in den Westalpen übrigens. Wenn wir in den Ostalpen bergsteigen waren,
war das vor allem Osttirol und das Salzburger Land. Matrei in Osttirol, zwischen Großvenediger und Großglockner gelegen, bringt
für mich die Alpen in ihrer Essenz zum Ausdruck. Das Einmalige an Osttirol sind die kurzen Wege vom Tal nach oben, die Steilheit,
dieses Leben an und in der Senkrechten, das für viele Menschen dort noch immer Alltag ist.
Unser Location-Scout, Leo Baumgartner, ist ein Bergführer aus Osttirol, der jetzt um die 70 ist und meinen Vater noch persönlich
gekannt hat. Wir haben uns im Juni 2020 am Südausgang des Felbertauerntunnels getroffen. Allein an diesem allerersten Tag,
den wir gemeinsam verbracht haben, konnten wir 80% der Motive, die im Film zu sehen sind, entdecken und definieren! Wir konnten
für den Film in Osttirol Orte und damit Bilder generieren, dank derer man versteht, weshalb das Kino auch in Zukunft ein unvergleichlicher
Raum für das Erleben einer Geschichte bleiben wird.
Gab es außer Osttirol noch weitere Drehorte?
HANS STEINBICHLER: In Osttirol hat der Hauptdreh stattgefunden. Unsere Förderpartner kamen aber auch aus Südtirol und – mit einem großen finanziellen
Anteil – aus Bayern. Wir haben für die Szenen, die im Kaukasus in der Zeit des zweiten Weltkriegs spielen mit den Bunkern
und dem Felsplateau Orte in den Dolomiten ganz in der Nähe der Drei Zinnen gefunden, die visuell ohnegleichen sind. In Bayern
haben wir das Wirtshaus und die aufwändigen Innenaufnahmen gedreht. Aber 80% der Dreharbeiten sind in Osttirol entstanden.
Welchen zeitlichen Rahmen hatten für Sie EIN GANZES LEBEN?
HANS STEINBICHLER: Ich habe mir für das Projekt drei Jahre Zeit gegeben. Soviel wie noch nie für einen Film. Ein Jahr Bucharbeit und Finanzierung,
ein Jahr Softprep, Hardprep und Dreh und ein Jahr Postproduktion. Und so kam es dann auch. Aber die lange Zeit war nicht ermüdend
und „unendlich“, sondern voller Energie und Freude an diesem einmaligen Projekt. Wir mussten den Dreh bedingt durch die Jahreszeiten
in den Bergen ja auseinanderreißen, was die Arbeit sehr erschwert hat. In den zehn Tagen Winterdreh ist beispielsweise eine
starke Dynamik im Team entstanden – und dann muss man für drei Monate die Dreharbeiten wieder stoppen und auf den Frühling
warten. Für eine Produktion insbesondere, aber auch für das Team und für die Schauspieler ist das einfach Wahnsinn.
Überhaupt das Team: großartige Leute, alle von europäischem Niveau: Armin Franzen als DoP, Helene Lang für das Maskenbild,
Monika Buttinger fürs Kostüm, Jurek Kuttner als Ausstatter. Was diese Leute gemacht haben, welche Leute sie an Bord geholt
haben, ist unglaublich. In Matrei gab es bspw. ein großes, leeres Geschäft, wo unsere Kostüm- Näh- und „Aging“-Werkstatt eingerichtet
war. Der Egger, der zwischen 18 und 47 von Stefan Gorski gespielt wird, hatte ja über die Jahrzehnte immer dasselbe Wenige
an. Wir hatten seine Janker und Hosen daher in zehn verschiedenen Zuständen der Abnutzung. Das wurde alles dort hergestellt.
Was die Produktionsfirmen epo-film und Tobis-Film in Bezug auf das Niveau dieses Projekts erkannt, umgesetzt und eingebracht
haben, ist so enorm wie außergewöhnlich.
Den Verlauf eines Lebens filmisch zu erzählen, wirft große produktionstechnische Fragen auf, die Chronologie löst sich auf,
wenn in einer Jahreszeit verschiedenste Lebensphasen zu drehen sind. Wie kann man sich das logistisch vorstellen?
HANS STEINBICHLER: Die Logistik war wirklich monströs. Manche Motive waren kaum anzufahren. Die Hütte von Egger, die vom Lawinenabgang erwischt
wird, haben wir in über 2.000 m Höhe gedreht. Im Sommer führt da eine Forststraße hinauf, die mussten wir wintertauglich machen,
geräumt wird da natürlich gar nichts. Ein Winterdrehtag begann für das Team um 4 Uhr morgens, da mussten die ersten Schneekatzen
Leute raufbringen, um ein Basislager zu errichten. Dieses Basislager musste stehen, bevor das restliche Team raufkam, damit
diese Leute um 6h morgens in der totalen Dunkelheit – die Sonne ging erst um 8 Uhr auf – etwas zu essen hatten. Ein Winterdrehtag
auf dieser Höhe mit einem Set, das ohne Seilbahn und nur mit Schneekatzen erreichbar ist, bedeutet für ein Team von 80 Leuten
einen unvorstellbaren Aufwand. Dadurch zog sich einerseits in der Früh alles nach vorn und am Abend alles nach hinten. Die
letzten Team-Leute sind erst um 22 Uhr vom Berg runtergekommen. Das sind dann natürlich Arbeitstage, die personell geteilt
werden mussten. Der Aufwand und die Logistik haben uns daher auch an die Grenzen unserer Möglichkeiten gebracht. Es konnte
aber auch passieren, dass wir um 13 Uhr gerade die Mittagspause beendet haben, alles super lief und plötzlich von der Aufnahmeleitung
eine Unwetterwarnung kam. Unsere Dreh-Hütte war keine Schutzhütte und wir mussten mitten im Dreh das Set räumen und einfach
nur schnell nach unten ins Tal. Da gibt es auch kein Verhandeln, wir durften natürlich niemanden gefährden. Um die Qualität,
die da auf der Leinwand zu sehen ist, herzustellen, mussten sich alle Beteiligten und insbesondere die Produzenten sehr weit
nach „draußen“ wagen. Der Film war vor der Pandemie kalkuliert worden, musste aber während der Pandemie gedreht werden. Jeder
weiß, was das für eine Produktion bedeutet. Plus das Corona-Handling. Das ergibt in der Summe Mehraufwände, die von allen
eine konsequente Bereitschaft, weiter zu diesem Projekt zu stehen, erfordert hat. Und die epo-film und die Tobis-Film haben
diese Bereitschaft bis zum letzten Tag der Postproduktion immer wieder bestätigt und erneuert.
Das harte Leben in den Bergen macht über die Jahrzehnte gezeichnete Gesichter, Doppelbesetzungen gab es nur für die Hauptfigur.
Andere spielen die ganze Zeitspanne durch. Das Maskenbild stand in dieser Produktion vor großen Aufgaben. Was waren die wesentlichen
Punkte in dieser Zusammenarbeit?
HANS STEINBICHLER: Helene Langs Arbeit für das Maskenbild habe ich immer wieder als das Rückgrat dieses Films bezeichnet. Abgesehen vom Drehbuch
bestand meine erste Beschäftigung mit dem Film darin, mit Helene eine Timeline für die Figuren über die Jahrzehnte aufzustellen.
Wir hatten den kleinen Egger (acht bis zehn Jahre), den Mittleren und Haupt-Egger (18 bis 47 Jahre) und dann den alten Egger
(60 bis 80 Jahre). Einige Figuren, wie z.B. den Wirt, den Robert Stadlober spielt, mussten wir über den mittleren bis zum
alten Egger über Jahrzehnte filmisch mitnehmen.
Helene Lang hat uns eine Timeline mit Fotos gebaut, wie Andreas Lust als Bauer, Robert Stadlober als Wirt oder Stefan Gorski
und August Zirner (als Egger) zu verschiedenen Zeitpunkten aussehen. Wenn sie über beide Perioden mitwirken, tragen die Schauspieler
für die Alterung hochelaborierte Silikon-Masken. Bei Robert Stadlober war der Effekt unglaublich. Ich habe ihn bei den Dreharbeiten
zu Ein ganzes Leben faktisch niemals „normal“ gesehen. Wenn Stadlober zu mir kam, dann war er für mich der mittelalte bis
sehr alte Wirt. Irgendwann ganz am Ende des Drehs ging ich in den Frühstücksraum im Hotel und da saß ein Typ, von dem ich
mir dachte, dass er mir bekannt vorkam, aber ich hab ihn nicht gleich erkannt. Das war Robert Stadlober ohne Altersmaske!
Nur dieses eine Mal habe ich ihn „privat“ gesehen und schlicht nicht erkannt. Was Helene Lang da mit ihrem Team vollbracht
hat, ist einfach meisterlich.
Wie haben Sie in der Drehvorbereitung diesen Egger ihren beiden erwachsenen Darstellern Stefan Gorski und August Zirner nähergebracht.
Wie ist es zu diesem Casting gekommen? Was heißt es für den Regisseur, mit Alterssprüngen zu arbeiten und diese wie im Falle
von Egger mit drei Darstellern zu inszenieren?
HANS STEINBICHLER: Ich habe das Casting mit der großartigen Nicole Schmied gemacht und ihr gleich zu Beginn gesagt, dass ich für den Haupt-Egger
von 18 – 47 Jahren (der zwei Drittel der Screentime hat) kein bekanntes Gesicht haben wolle. Es sollte ein Schauspieler sein,
der mit dieser Figur des Egger „geboren“ werden sollte. Als Nicole mir, neben anderen, Stefan Gorski vorgeschlagen hat, war
schnell klar, dass er der Egger sein würde. Gorski war 29 bei Beginn der Dreharbeiten. Helene Lang hat mir erst später gesagt,
dass er eine Hautbeschaffenheit habe, die sie in die Lage versetzt hat, aus ihm einen 18-jährigen Buben und auch den 47-Jährigen
total zerstörten Soldaten zu machen, der aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Die Entscheidung für Stefan Gorski war
ein ziemlich komplexer, von vielen Faktoren abhängiger Prozess. Für mich war für die Figur Egger essenziell, dass die Zuschauerinnen
und Zuschauer ein Maximum an Projektionsmöglichkeiten in ihm sehen. Egger musste etwas Allgemeingültiges, beinahe neutrales
in seiner Physiognomie haben. Stefan Gorski ist dafür ideal. Ich denke, dass die meisten Leser:innen von EIN GANZES LEBEN,
kein Problem haben werden, in ihm den Andreas Egger zu sehen, den sie im Buch „gesehen“ und erwartet haben. Wir haben übrigens
nicht darauf geachtet, ob wir für den alten und den mittleren Egger eine Ähnlichkeit hinkriegen. Die Ähnlichkeit musste vor
allem emotional fühlbar sein. Und ich hatte bei Gorski und August Zirner das Gefühl, jeweils dasselbe für die Figur zu empfinden.
Es gab Drehtage, wo ich vormittags den mittleren und dann später den alten Egger am Set hatte. Das hat für mich vom Empfinden
auf dem Screen keinen Unterschied gemacht.
Ist ein Aspekt, den Sie in Ihrem Film herauskehren wollten, auch der, dass Eggers Leben ein starkes und selbstbestimmtes Leben
bleibt, obwohl immer stärkere Kräfte über ihn bestimmt haben?
HANS STEINBICHLER: Es gibt ein Gedicht von Goethe, in dem es heißt: Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt | Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Fast in jedem Menschen gibt es etwas, was seinen inneren Kern ausmacht, den man nicht auslöschen, nicht zerstören kann.
So einen Kern hat Egger. Ich erkläre es mir so, dass er von seiner Mutter, bevor er zu Kranzstocker kam, viel Liebe erfahren
haben muss. Selbst wenn das nirgendwo im Roman steht. In meiner Vorstellung hat er dadurch „in Drachenblut gebadet“ und ist
in seinem Wesen und Kern unantastbar.
Der Film endet mit dem Tod des Protagonisten Ende der siebziger Jahre. Man kommt nicht umhin, die Leerstelle über die 50 Jahre
zur Jetztzeit selbst aufzufüllen, wenn man Bilder von den Anfängen des Schitourismus sieht oder sich vorstellt, wie die Gletscher
und die Alpen zur historischen Zeit ausgesehen haben müssen. War es Ihnen auch ein Anliegen, dieses Gedankenfenster in den
Raum zu stellen?
HANS STEINBICHLER: Mein Vater hat sich zeitlebens für den Naturschutz eingesetzt und hat seit den 80er-Jahren in Hunderten von Vorträgen auf
die Gefährdung der Alpen, ihrer Ressourcen und vor allem der Gletscher hingewiesen. Wir hatten für den Film ursprünglich die
Idee, die Pasterze, also den Gletscher unter dem Großglockner, in ihrem damals noch guten Ausmaß von 1975 als visuellen Effekt
in den Film einzubauen. Denn heute sieht man da oben nur noch einen kläglichen Rest des Gletschers und dahinter einen See,
auf dem Eis schwimmt. Und diese heutige Pasterze ist natürlich zu einem Sinnbild für diesen Film und unsere Zeit geworden.
Es schwingt in dieser Geschichte auch die Erzählung mit, was wir der gesamten Schöpfung und den Bergen in den Alpen angetan
haben und antun. Wir werden uns in Zukunft alle zurücknehmen müssen.
Interview: Karin Schiefer
Spetember 2023