INTERVIEW

«Es gibt keine typische Frau, die auf gewalttätige Männer hereinfällt.»

Aktuelle Zahlen zu häuslicher Gewalt gegen Frauen sind alarmierend. Ihre Tendenz steigend. Nach seinem Dokumentarfilm Martas Koffer hat sich Günter Schwaiger in seinem Spielfilmdebüt Der Taucher erneut diesem Thema gewidmet und einmal mehr bewusst gemacht, dass Gewalterfahrungen und damit verbundene Abhängigkeiten weder geografische noch soziale Grenzen kennen. Im aufgeladenen Kräftespiel zwischen Opfer, Täter und deren Kindern kommt zutage, wie das Erbe dieser Gewalt in die nächste Generation getragen wird. Es sei denn, jemand unterbricht diesen Kreislauf.  
 
 
 
Sie haben 2013 mit MARTAS KOFFER einen Dokumentarfilm vorgelegt, wo das Problem der häuslichen Gewalt am Portrait und Schicksal einer Spanierin aus dem bürgerlichen Milieu  thematisiert wurde. Sie stellen nun sechs Jahre später ihren ersten Spielfilm DER TAUCHER vor, dem ebenfalls das Thema Gewalt gegen Frauen zugrunde liegt. Worin liegt für Sie die Dringlichkeit der Thematik, dass Sie sich ein weiteres Mal damit beschäftigen? Was hat Sie veranlasst, diesmal einen fiktionalen Zugang zu wählen, der darüber hinaus ihr erster Versuch in diesem Genre ist?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Die Arbeit an Martas Koffer war für mich auf einer künstlerischen wie auf einer persönlichen Ebene ein sehr einschneidendes Erlebnis. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema hat mir gezeigt, wie enorm verbreitet häusliche Gewalt in Ländern wie Spanien oder Österreich trotz wirtschaftlichen Wohlstands und sozialen Friedens ist. Diese Realität wird gerne aus der Wahrnehmung des Alltags weggeschoben und viele traumatische Erfahrungen von Frauen nicht gehört. Es gab bei Martas Koffer eine Vereinbarung mit meiner Protagonistin, dass ihre Kinder nicht im Film vorkommen. Der Gedanke, wie sich Gewalterfahrungen der Mutter auf die Kinder auswirken, die damit heranwachsen müssen, hat mich aber nicht losgelassen und letztlich zu der Idee geführt – basierend auf meinen Recherchen – mich damit in einem Spielfilm auseinanderzusetzen.
 
 
War die Arbeit an Martas Koffer in erster Linie auf einer emotionalen Ebene ein so einschneidendes Erlebnis?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Es war vor allem eine Erfahrung, die für mich in ihrer Intensität unerwartet war. Ich ging davon aus, dass gewisse Teile der Gesellschaft betroffen sind, nicht jedoch der moderne und aufgeschlossene Teil, zu dem ich mich dazuzählen möchte. Aber schnell wurde ich eines Besseren belehrt. Häusliche Gewalt gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Sie wird nur in unterschiedlichen Graden verschwiegen oder vertuscht. Wenn man beginnt, sich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen und mit Leuten auch im eigenen Umfeld spricht, dann erfährt man schnell, wie unglaublich viele Frauen eine Gewalterfahrung gemacht haben. Nahezu alle irgendwann einmal in ihrem Leben. Seien es sexistische Übergriffe, psychische oder direkte körperliche Gewalt. Das Ausmaß hat mich sehr betroffen gemacht und in mir etwas Entscheidendes ausgelöst. Deshalb habe ich mich diesem Thema auch ein zweites Mal gestellt und das ist wahrscheinlich nicht das letzte Mal.
 
 
Sie lassen die Geschichte auf der Urlaubsinsel Ibiza spielen, an einem Ort, der grundsätzlich positiv konnotiert ist. Ihre ProtagonistInnen sind alle deutschsprachig, aber auf unterschiedliche Weise mit der Insel verbunden. Wofür steht diese Insel als Schauplatz der Geschichte und warum wählten Sie einen gemischtkulturellen Ansatz?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Ich wollte meine Story dem Klischee entreißen, das besagt, dass Gewalt an Frauen vorwiegend in Vorstädten oder in bildungsfernen Schichten mit Migrationshintergrund passiert. Nein. Es gibt häusliche Gewalt auch in höheren und sehr gebildeten Schichten. Es geht mir um patriarchales Verhalten, das man in keiner Weise an der sozialen Herkunft aufhängen kann. Der Unterschied ist nur der, dass Gewalt an Frauen im Gemeindebau nicht vertuscht werden kann, im Golfclub aber schon. In all meinen Filmen gibt es auch eine metaphorische Ebene. Eine Insel ist immer Sehnsuchtsort und Gefängnis zugleich. Sie steht für Schönheit, Sonne und Meer also Idylle und Abstand von Problemen. Gleichzeitig ist eine Insel ein Ort, von dem man nicht einfach wegkann, wenn man will. Ein Paradies kann sich auch in ein Gefängnis verwandeln. Und in Beziehungen ist es genauso. Die Insel steht also für Sehnsucht nach Glück und Liebe und weist zugleich ihre Grenzen auf. Dass Der Taucher in der dortigen deutschsprachigen Community angesiedelt ist, hat damit zu tun, dass ich diese sehr gut kenne. Sie steht aber vor allem für diesen Teil der Gesellschaft, der darauf bedacht ist, nach außen ein idealisiertes Bild von sich zu zeigen, zu dem häusliche Gewalt nicht passt und so also verleugnet und verschweigt. Das ist auf Ibiza so, wie in Paris, London, Wien oder New York.  
 
 
Sie haben die Geschichte in einem wohlsituierten Milieu angesiedelt, der Täter ist ein angesehener Künstler. Dieser Aspekt hat durch #MeToo nochmals eine ganz andere Brisanz bekommen. #MeToo hat wohl mitten in der Produktionszeit von DER TAUCHER einen Höhepunkt erreicht. Was hat diese plötzliche Sensibilisierung und Mediatisierung für Sie und Ihre Arbeit bedeutet?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Für viele, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen, war #MeToo eine logische Konsequenz einer Situation, bei der ein Fass am Überlaufen war. Wichtig ist, dass es nicht beim Aufschrei bleibt und langsam alles wieder verebbt. Dass Frauen den Mut haben, über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen, ist eine zwingende Logik, wenn sich eine Gesellschaft vorwärts entwickeln möchte. Für eine nachhaltige Veränderung im Verhalten der Männer braucht es nun große Konsequenz. #MeToo hat mein Schreiben nicht mehr beeinflusst, es war allerdings ein gutes Gefühl, etwas zu erleben, was dringend notwendig war. Endlich stehen Frauen auf und bringen ihre traumatisierenden Erfahrungen ans Licht. Endlich entstehen Solidaritätsketten mit den Betroffenen. Viel zu oft werden Frauen, die die scheinbar obligatorische Schweigepflicht im Showbusiness gebrochen hatten, als Lügnerinnen und Opportunistinnen angeklagt und skrupellos an den Pranger gestellt.
 
 
Vor welchen Herausforderungen standen Sie beim Schreiben Ihres ersten fiktionalen Drehbuchs? Wie sehr waren Sie in Kontakt mit ExpertInnen, um auf einer psychologischen Ebene die resultierenden Verhaltensmuster korrekt nachzuzeichnen?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Ich habe sehr viel alleine geschrieben und konnte natürlich auf den guten Wissensstand durch meine Recherchen zurückgreifen; ich hatte aber immer wieder auch dramaturgische Beratung. Essentiell war sowohl im Schreib- wie auch noch im Schnittprozess der Austausch sowohl mit Betroffenen als auch mit ExpertInnen. Präzise Verhaltensbeschreibung bei Frauen, Männern und Kindern, war mir sehr wichtig, um keine falschen Signale zu setzen, denn durch das Vertuschen und Ignorieren sind Vorstellungen von Verhaltensweisen in den Köpfen der Menschen, die einer Wunschvorstellung entsprechen oder Klischees erfüllen. Was vermittle ich? Und wie?, das waren die essentiellen Fragen. Ich hatte daher sowohl in Spanien als auch in Österreich immer Rücksprache mit Betroffenen. Ein wichtiges Thema ist z.B. die Rückkehr zum Täter, die ich auch im Film erzähle. Im Umfeld wird das oft missverstanden und die betroffenen Frauen werden so zum zweiten Mal zum Opfer – angeklagt dafür, dass sie zurückkehren, obwohl wenig über das Abhängigkeitsverhältnis zum Täter und die Gründe für diese Rückkehr bekannt ist. Denn wie sehr Frauen ökonomisch, emotional und strukturell in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, wird viel zu oft ausgeblendet. Auch darüber wollte ich im Film eine Reflexion in Gang bringen.
 
 
Irenes Geschichte in DER TAUCHER ist die Loslösung des Opfers vom Täter und das rechtliche Vorgehen gegen diesen. Irene führt vor Augen, wie schwierig es auch für eine gebildete und eigenständige Frau ist, die Kraft aufzubringen, sich zu wehren und wieder Halt im eigenen Leben zu finden.
 
GÜNTER SCHWAIGER: Es hat vor kurzem in Spanien einen Fall gegeben, wo eine Richterin, die selbst im Bereich der familiären Gewalt tätig war, von ihrem Ex-Mann ermordet wurde. Wenn man glaubt, dass einer selbstbewussten Frau, die fest im Leben steht, so etwas nicht passieren kann, dann ist das ein großer Irrtum. Es gibt keine typische Frau, die auf gewalttätige Männer hereinfällt. Es geht um Beziehungen, in denen beispielsweise durch jahrelanges Entwerten des Partners, durch kontinuierliche, oft kaum sichtbare psychische Gewalt, Abhängigkeiten auf emotionaler Ebene entstehen, aus denen sich die Betroffene ohne Hilfe von außen nicht lösen kann. Oft will die Frau auch die Beziehung retten, weil es Kinder gibt, die sie schützen will. In anderen Fällen ist eine ökonomische Abhängigkeit gegeben, die auch die Kinder miteinschließt.
Irene ist eine Frau, die Mut hat, die nach Ibiza gezogen ist und dort nach dem Tod ihres Mannes ihre Tochter alleine großzieht. Sie ist ein starke selbständige Frau, die in die Beziehung mit Paul gerutscht ist, und hat dabei irgendwann übersehen hat, dass Paul sie manipuliert und ihr dabei die Kraft und das Selbstvertrauen systematisch entzieht. Männer wie Paul manipulieren auch ihr Umfeld. Sie geben sich, als sozial sehr kompetent, attraktiv und verführerisch. In Krisensituationen in der Beziehung jedoch zeigen sie dann das andere Gesicht, das sie aber nach außen geschickt verstecken. Im Fall von Paul kommt dazu, dass seine Reputation als international bekannter Musiker auf dem Spiel steht und er dadurch bei Irene Schuldgefühle auslösen kann. Sie hat Angst, dass ihr Vorgehen gegen ihn, seine Karriere zerstören könnte. Schuldzuweisung ist eine der häufigsten Mechanismen der Gewaltspirale. Das geht oft soweit, dass sich die betroffenen Frauen sogar für die erfahrene Gewalt verantwortlich fühlen. Interessant ist hierbei, dass im Umfeld die Solidarität mit den Opfern immer geringer ist als die mit den Tätern. Das ist ein Faktum. Wenn ein Täter sich rechtfertigt und die Frau für das Geschehene beschuldigt, wird ihm sein Umfeld mehr Glauben schenken. Das hat auch damit zu tun, dass Täter nach außen ein positives und joviales Bild von sich geben. Frauen, die Gewalt erleben, werden aber meist immer unsicherer. Sie ziehen sich zurück und werden deshalb vom Umfeld als unsozial und distanziert wahrgenommen. Obwohl es so viele Signale gäbe, eine Gewaltbeziehung von außen schon im Anfangsstadium zu erkennen, wird das vom Umfeld oft nicht gemacht. Es ist halt oft bequemer wegzusehen. Im Film wird aber nicht die Gewalt an sich beschrieben, sondern ihre Konsequenzen und vor allem auch der mögliche Weg einer Befreiung wie auch die Gründe für ein Scheitern.
 
 
Das zweite große Thema ist der Transfer innerhalb der Generationen: die junge Generation hat einerseits mit Trauer/Trauma durch Verlust eines Elternteils umzugehen, andererseits haben sie als Kinder des Täters bzw. des Opfers ein sehr ambivalentes Verhältnis zueinander. Autoaggressives Verhalten ist bei beiden gegeben. Wie sehr gehen Gewalterfahrungen auf die nächste Generation über?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Die Generation, die Gewaltkonflikte lebt, löst sie in nur wenigen Fällen auf und gibt sie an die nächste Generation weiter. Diese Generation muss nun mit der traumatisierenden Gewalterfahrung das eigene Leben aufbauen. Das führt dazu, dass das Gewaltmodell als Täter oder Opfer oft weitergeführt wird. Ich nenne das „Vererben von Gewalt“.  Diese Spirale zu durchbrechen ist fast unmöglich. Der einzige Ausweg ist die Bewusstmachung. Verdrängung führt zwingenderweise zur Wiederholung. Das ist das Dilemma, das uns schon seit Jahrhunderten verfolgt. Und das wird auch im Film thematisiert. Es werden die beiden Wege und ihre Konsequenzen gezeigt. Jugendliche leiden besonders unter der Gewalt, die sie im eigenen Heim erleben. Mitzuerleben, wie deine Mutter erniedrigt und geschlagen wird, hat extreme Konsequenzen auf die Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder. Selbstverletzung, weil man sich schuldig fühlt, ist nur eine davon. Widerstand zu leisten, eine andere. Dafür braucht es aber enorme Kraft und Entschiedenheit. In Der Taucher stehen einander zwei Zweierkonstellationen gegenüber – Vater/Sohn –Mutter/Tochter. Für mich repräsentiert diese Doppelkonstellation aber ein Ganzes. Es ist der Mensch an sich, der aus verschiedenen Perspektiven gezeigt wird.
 
 
Beide Kinder finden einen kreativen, visuellen Umgang, mit dem, was sie im Tiefsten ihrer Seele beschäftigt. Robert nimmt viele Szenen schon als Jugendlicher mit der Kamera auf und wird dadurch auch zum Voyeur. Lena drückt sich über den Animationsfilm aus, in dem sie Nicht-Lebendiges zum Leben erweckt. Wie haben Sie zu diesen beiden Ausdrucksformen der Jugendlichen gefunden?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Der reale Hintergrund besteht darin, dass beide aus Familien kommen, in denen die Kreativität eine große Bedeutung hat. Es war mir wichtig, weil es für das Milieu steht, in dem ich mich selber bewege. Es ist eine Mischung aus einer realen Welt und Metaphorik. Robert ist ein passiver Beobachter, er wurde als Kind mit dem Bruch des kindlichen Glücks konfrontiert. Dieser Schock hat ihn vollkommen blockiert. Nur die Kamera und der Voyeurismus  helfen ihm, nicht zu vergessen, sich selbst noch zu spüren. Lena hat die Gewalt gegen ihre Mutter erst nach dem Tod ihres Vaters erlebt. Sie reagiert durch das Kreieren einer eigenen neuen Realität, in der sich Ängste mit Wunschvorstellungen vermischen. Diesen Schritt kann man gehen, wenn man den Mut hat, durch Bewusstmachung des Traumas, Leben neu zu gestalten. Lena schafft sich über diese Figur, die sie animiert, ein Alter Ego, das im Widerstand zum alten ein neues Leben schafft mit der Kraft, etwas zu durchbrechen. Weg von einem Dasein, das von Angst und Verdrängung bestimmt ist, hin zum Selbstbewusstsein, zur Fähigkeit „Nein“ zu sagen.
 
 
DER TAUCHER ist ihr erster langer Spielfilm, damit auch ihre erste Arbeit mit SchauspielerInnen. Wie haben Sie mit ihnen gearbeitet?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Für mich war wichtig, dass die SchauspielerInnen die Vielschichtigkeit der Figuren erspüren und transportieren können. Sie sollten ein Bild von sich vermitteln und diesem im Laufe des Films auch widersprechen können. Ich habe mit Rita Waszilovics ein langes Casting durchgeführt und wir haben mit diesen vier Schauspielerinnen – Franziska Weisz, Julia Franz Richter, Alex Brendemühl und Dominik Marcus Singer – einen goldenen Griff getan. Jede Figur hat ein starkes Innenleben und muss sehr subtil damit agieren, denn es dringt immer nur ein kleiner Teil nach außen. Ich habe viele Dokumentarfilme gedreht und fühle mich sehr wohl in diesem Genre. Für mich bedeutet das reale Leben oder vielleicht sogar Leiden von Menschen darzustellen eine große Verantwortung, in der ich nicht manipulieren und fiktionalisieren will. Gerade deshalb wollte ich keinen dokumentarisch anmutenden Spielfilm machen oder mit Laiendarstellern drehen. Für mich bedeutet Fiktion die Möglichkeit, eine besondere Atmosphäre entstehen zu lassen, die auch der symbolischen Ebene viel Raum bietet.
 
 
Spanien gehört zu den Ländern, das aufgrund des Ausmaßes der häuslichen Gewalt, sehr wirksame Maßnahmen ergriffen hat. Wie sieht der aktuelle Vergleich zwischen Spanien und Österreich und dem EU-Durchschnitt in den Statistiken aus?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Der größte Unterschied zwischen Spanien und Österreich ist, dass Gewalt an Frauen in Spanien als gesellschafts- und sozialpolitisches Problem gesehen wird, das die gesamte Gesellschaft betrifft und nur von der gesamten Gesellschaft überwunden werden kann. Gewalt an Frauen wird nicht als irgendeine Gewalt gesehen. Sie basiert auf der Ungleichheit zwischen Mann und Frau, die ihrerseits Produkt des immer noch dominierenden Patriarchats ist. Deshalb wird in Spanien auch nicht mehr von häuslicher Gewalt gesprochen sondern von geschlechtsspezifischer Gewalt. Das spanische Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt von 2005 (Ley integral contra la Violencia de Género) ist darüberhinaus rigoroser und schützt die betroffene Frau viel effektiver. So kommt ein angezeigter Gewalttäter beispielsweise zuerst einmal 48 Stunden in Untersuchungshaft, damit sich das Opfer sicher fühlt und sich neu orientieren kann. Die Strafen sind außerdem höher und es gibt viel weniger Toleranz den Tätern gegenüber als in Österreich. Als ich für Martas Koffer entschieden habe, sowohl in Spanien als auch in Österreich zu drehen, um beide meiner Erfahrungswelten einfließen zu lassen, war ich davon ausgegangen, dass die Situation punkto häuslicher Gewalt in Österreich besser sein würde als in Spanien. Das Ergebnis meiner ersten Recherchen 2013 machten allerdings deutlich, dass die Zahl der Feminizide gemessen an der Bevölkerungszahl in Österreich beinahe doppelt so hoch war wie in Spanien, wo die Zahl alles andere als gering war. Mittlerweile liegt Spanien im europäischen Vergleich im Mittelfeld. In Österreich hat sich die Zahl der Frauenmorde (immer gemessen an der Bevölkerungszahl) im Verhältnis zu Spanien vervielfacht. 2018 waren es in Österreich 41, in Spanien 46 bei einer fünfmal so großen Bevölkerung und vergleichbaren Migrationsstruktur. Die Situation in Österreich ist unglaublich erschreckend und es ist mir unverständlich, dass es keinen Aufschrei der Medien gibt. Organisationen, die mit der Thematik beschäftigt sind, werden nicht gehört und gesellschaftspolitisch wird nicht darauf reagiert. Wenn die Zahlen so steigen, ist es ein alarmierender Hinweis darauf, dass etwas schiefläuft. Unabhängig davon, woher die Opfer und die Täter kommen, haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, die das zulässt und wegsieht.
 
 
Wo müsste Ihrer Meinung nach angesetzt werden?
 
GÜNTER SCHWAIGER: Nur zehn Prozent der Männer, die wegen Gewalt in Österreich angezeigt werden, werden letztlich auch verurteilt. Weder reagiert die Justiz angemessen, noch nehme ich in den Medien ein Bewusstsein oder einen Willen wahr, Gewalt an Frauen als zentrales Thema zu betrachten. Es widerspricht dem Image, das die österreichische Gesellschaft von sich hat, die sich gerne als modern, tolerant und identitätsbewusst versteht. Deshalb wird die Gewalt an Frauen ausgeblendet, als wäre es ein Phänomen, das die Mehrheit der Bevölkerung nicht betrifft. Wenn sich in Spanien ein Frauenmord ereignet, dann ist das eine Schlagzeile. Passiert es in einem Dorf, dann findet am nächsten Tag eine Kundgebung im Dorf statt, in der sich das Dorf gemeinsam gegen geschlechtsspezifische Gewalt ausspricht. Das heißt Solidarität mit den Opfern, das heißt keine Toleranz mit den Tätern. Immerhin sind ja latent 50% der Bevölkerung bedroht. Die Gründe, weshalb Frauenmorde in Österreich wenig Echo in der Presse finden, weisen auf tiefsitzende gesellschaftliche Missstände hin, die patriarchale Zustände als gegeben hinnehmen. Die Presse verwendet hier noch ein Vokabular, das in Spanien undenkbar ist, Männer werden schnell entschuldigt, Frauen wird schnell eine Mitschuld angelastet. Gerade vor kurzem habe ich wieder einen Artikel in einer bekannten und angesehenen österreichischen Publikation gelesen, die das letzte Wort dem Täter gab: „Hätte sie mich die Kinder sehen lassen, hätte ich sie nicht umgebracht.“  So wird das Opfer gleich noch einmal misshandelt und verurteilt. Eine absolute Katastrophe. Da braucht man sich dann nicht zu wundern, wenn Leute denken: „Die Frau war selber schuld.“ In Österreich muss man endlich aufwachen und es liegt ein weiter Weg vor uns. Die zahlreichen Frauen und Männer, die im Kontext der Gewalt gegen Frauen arbeiten, erhalten nicht genügend Unterstützung. Es darf nicht länger als ein Randgruppen-Phänomen gesehen werden. Es betrifft die gesamte Gesellschaft. Wie viele Frauen müssen denn noch ermordet werden, dass die Presse endlich aufwacht und ein gesamtgesellschaftliches Problem erkennt? Die Feminizide sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Sie sind letzte und schlimmste Konsequenz von oft jahrelanger physischer, psychischer oder struktureller Gewalt. Gewalt an Frauen ist vor allem eine grundlegende und massive Menschenrechtsverletzung. Eine Gesellschaft, die sich dieser Tatsache nicht stellt, ist letztlich mitverantwortlich.



Interview: Karin Schiefer
September 2019
«Der größte Unterschied zwischen Spanien und Österreich ist, dass Gewalt an Frauen in Spanien als gesellschafts- und sozialpolitisches Problem gesehen wird, das die gesamte Gesellschaft betrifft und nur von der gesamten Gesellschaft überwunden werden kann.»