Wenn Annika eine Auszeit braucht, schlüpft sie in ihre Mermaid-Flosse und taucht ins Blau des städtischen Schwimmbads ab.
Dass es ihr immer wieder mal zuviel wird, ist nicht verwunderlich, denn Sich-Abgrenzen ist nicht gerade ihre Stärke. Freunde
und Familie in Not wissen das zu nutzen. Franziska Pflaum widmet ihren heiter-satirischen Erstling MERMAIDS DON’T CRY einer
jungen Frau in wachsender Bedrängnis und ihrem gelungenen Befreiungsschlag.
Der Film steigt mit einem Zitat über Sehnsucht und Selbsterkenntnis ein, das einem schlauen Lebensratgeber entnommen sein
könnte. Woher stammt es und wie sehr legt es den Ton des Films fest?
FRANZISKA PFLAUM: Das Zitat führt uns in den Film, der auf mehreren Ebenen funktioniert. Er taucht immer wieder in Traumwelten ab, die mit viel
Augenzwinkern von den Sehnsüchten unserer Protagonistin erzählen. Für das Anfangszitat haben wir uns erst im Schnitt entschieden,
da wir erkannt haben, dass wir eine Leitstimme brauchen, die uns in diese schräge und lustige Welt hineinzieht. Ende und Anfang
schließen sich in gewisser Weise. Am Ende zieht Annikas Chefin, Misses Biber, ein Resumé, in dem sie darauf verweist, wie
es weitergehen könnte. Das Anfangszitat ist keinem Lebensratgeber entnommen, sondern entspricht der Sprechweise von Misses
Biber, die ich am ehesten mit den Texten von chinesischen Glückskeksen vergleichen würde. Ihr Zitat etabliert den Tonfall
des Films mit seiner schwebenden Ironie.
Mit dem Bild der Meerjungfrau verbindet sich ein alter Mythos, aber auch ein trendiger Sport. In Ihrem Film MERMAIDS DON’T
CRY ist von beidem etwas zu spüren. Wo schöpften Sie die ersten Ideen für Ihre Hauptfigur und deren Geschichte?
FRANZISKA PFLAUM: Der Sport des Mermaiding, den ich überhaupt nicht kannte, war eine große Entdeckung. Ich bin in einem Schwimmbad darauf aufmerksam
geworden, wo es von erwachsenen Frauen praktiziert wurde. Einerseits hat mich also der alte Mythos der Meerjungfrau beschäftigt
und anderseits auch das ganz banale Schlüpfen in ein Kostüm mit Flosse, um einer Meerjungfrau zu ähneln. Darin liegt eine
spannende Diskrepanz. Die zwei Pole passen einerseits nicht zusammen und vereinen sich aber genau darin. Das hat mich fasziniert
und das wollte ich auch im Film transportieren. Das Schweben unter Wasser – ich erinnere mich an meine Kindheit, dass sind
wir unter Wasser auch ohne Flosse so geschwommen – hat immer Träume aufgemacht. Was ist da unter Wasser? Was verbirgt sich
unter der Oberfläche? Man stellt sich vor, ein Meerwesen, etwas Fremdes zu sein? Das hat mir gut gefallen und an vieles erinnert,
was weit zurückliegt. Ich wollte eine Hauptfigur haben, die sich genau nach diesem Abtauchen zurücksehnt, die etwas sehr Tiefes
in sich sucht und das wiederum über einen sehr einfachen Weg – den der Mermaid-Flosse. Die Flosse erweist sich ja auch als
käufliche Ware, die Annika viel zu teuer ist. So eine Sportart, die Wohlbefinden verspricht, hat auch gleich wieder viel mit
Konsum zu tun. Die Erfüllung ihres Konsumbedürfnisses bringt Annika nicht dorthin, wohin sie so sehnlich wollte; die Flosse
steht aber stellvertretend für die Erkenntnis, dass es für Annika höchste Zeit ist, etwas in ihrem Leben zu verändern. Sie
erkennt, dass es nicht die Flosse ist, die sie braucht, sondern dass eine tiefgreifende Veränderung ansteht, um weiterzukommen.
Ich glaube, dass viele Menschen – auch man selbst – , oft so eingeschlossen im eigenen Alltag leben. Es schleichen sich ungesunde
Mechanismen ein, man akzeptiert, dass sich Vieles ständig wiederholt und man im eigenen Kosmos gefangen ist. Die entscheidende
Frage, die sich stellt: Wann fangen wir alle eigentlich zu leben an? Wann geht es los? Annika wacht endlich auf und beginnt,
ihr Potenzial als lebender, fühlender, wahrnehmender Mensch zu entfalten.
In MERMAIDS DON’T CRY führen alle Figuren einen Existenzkampf, in dem sie gerade mal über die Runden kommen (zum Teil auf
Kosten anderer). Warum war es Ihnen wichtig, die prekären Lebenssituationen und das Genre der Komödie miteinander zu verknüpfen?
FRANZISKA PFLAUM: Ich wollte diese Armut, die eindeutig mitschwingt, auch wenn sie nicht in aller Schwere daherkommt, so erzählen, dass meine
Figuren nicht an ihr zerbrechen. Sie sind keine Opfer, sondern begegnen den Menschen, die ihnen gegenüber in einer überlegenen
Position sind, auf Augenhöhe und gehen im Alltag mit einer gewissen Lebensschläue vor, um einen tragbaren Umgang damit zu
finden. Sie betrachten ihre Situation nicht nur als Last. Sie kommen alle gut durchs Leben, dafür haben sie ihre Mechanismen
gefunden. Ich wollte in den Vordergrund kehren, dass alles Tragische auch etwas Komisches beinhaltet und das Leben nicht nur
aus Schwere besteht. Annikas Vater, der sich sein Behinderten-Attest erschwindelt, zeigt für mich einen der lustigen Wege
auf, das System zu benutzen, um auch etwas vom Kuchen abzukriegen. Ich mochte den Film Parasite sehr, in dem Armut und die
Versuche, sich da rauszuscheren, auch auf sehr komische Art und Weise beschrieben wird.
Die Hauptfigur Annika ist in ihrer Wohnung nie allein und bleibt dennoch einsam, weil alle, die ihre Nähe suchen, vor allem
einen Nutzen für sich damit verbinden. Welche Grundgedanken haben die Gestaltung der Hauptfigur bestimmt?
FRANZISKA PFLAUM: Es gibt sehr viele Menschen, die sich ausnutzen lassen, insbesondere viele Frauen, die nicht für ihre Rechte einstehen, in
Beziehungen immer nachgeben, in der Gesellschaft die Aufgaben der Sorge übernehmen und letztlich immer zu kurz kommen. Annikas
Persönlichkeit passt in dieses Raster recht gut hinein. Sie nimmt alle bei sich auf, teilt ihre kleine Wohnung, obwohl kein
Platz ist. Umgekehrt sind alle in so prekären Situationen, dass sie sie zum Teil ausnutzen müssen, um im eigenen prekären
System nicht unterzugehen. Karo, ihre Freundin und Nachbarin, hat kein Geld für ein Kindermädchen und keine andere Lösung,
als sich auf die nächstschwächere, nämlich Annika zu verlassen. Annika ist die Letzte in der Kette, die anderen haben einen
aggressiveren Egoismus, um sich durchzusetzen. Sie muss erst lernen, auf eine gesunde Art egoistisch zu sein, sie steht für
sich ein und entwickelt sich weiter. Es geht auch darum, die Grenzen der Gutmütigkeit aufzuzeigen.
Sie haben mittellange Filme gemacht, die sehr prozesshaft entstanden sind. Haben Sie auch für MERMAIDS DON’T CRY die Figur
der Annika gemeinsam mit Stefanie Reinsperger erarbeitet. Wie würden Sie sie als Schauspielerin charakterisieren?
FRANZISKA PFLAUM: Wir haben gemeinsam an der Rolle gearbeitet, familiäre Hintergründe und die Backstory überlegt. Die Traumsequenzen ausgenommen,
mussten wir alles in 25 Drehtagen drehen, was eine große Herausforderung war. Am Set hätte ich mir mehr Zeit gewünscht, die
Art des Humors, den dieser Film braucht, zu finden. Humor bedeutet, viel auszuprobieren und die Schwingungen zu treffen. MERMAIDS
DON‘T CRY ist ja keine klassische Komödie, sondern eher eine Tragikomödie mit einer ganz eigenen Sprache. Am Ende ist uns
ein sehr schöner Film gelungen, aber der der große Druck hat uns den Weg dorthin sehr schwer gemacht und die Freude an der
Arbeit ist oft auf der Strecke geblieben. Ich bin froh, dass ich so ein tolles Team und Ensemble hatte, die den ganzen Wahnsinn
mitgemacht haben. Und natürlich, dass ich mit Stefanie Reinsperger zusammenarbeiten konnte, die eine großartige Schauspielerin
ist und ein wahnsinnig lieber Mensch.
Sie haben mit Gerti Drassl und Julia Franz Richter zwei weitere renommierte österreichische Schauspielerinnen besetzt. Welche
Überlegungen haben den Castingprozess bestimmt?
FRANZISKA PFLAUM: Als ich die Rolle von Annikas Kollegin Petra geschrieben haben, dachte ich mir, wie toll es wäre, wenn Gerti Drassl diese
Rolle spielen könnte, weil sie lustig ist und ich mir sicher war, dass sie sie super umsetzen könnte. Anscheinend hat sie
das ähnlich gesehen und mir zugesagt, obwohl es nur eine kleine Rolle in einem Erstlingsfilm war. Es macht ihr Spaß, komisch
zu sein und die Stellen mit ihr, wo sie Yoga-Übungen mit dem Team machen soll, haben uns im Schnitt am allermeisten zum Lachen
gebracht. Julia hat uns im Casting überzeugt, von der ersten Sekunde an. Ich liebe es, wie sie die Rolle von Karo umsetzt,
die ja eigentlich keine sehr sympathische Figur ist. Aber so wie Julia sie spielt – und so war sie auch konzipiert – hat man
sie trotz ihrer negativen Seiten gerne.
Eine interessante Figur ist die Supermarkt-Filialleiterin Misses Biber, die sich vom klassischen Feindbild zu einer recht
ambivalenten Gegenspielerin entwickelt. Sie steht für das System der Ausbeutung, das sie aber mit einer recht ichbezogenen
Menschlichkeit unterwandert. Wie hat sich diese Figur entwickelt?
FRANZISKA PFLAUM: Der Supermarkt war immer ein ganz eigener Kosmos und es stand für mich immer fest, dass er eine esoterisch angehauchte Filialleiterin
haben soll, die mit sich selbst an der Spitze eine kleine Parallelgesellschaft in ihrer Filiale aufbaut. Es ist ihr Wunsch,
auf eine gewisse Art zu herrschen, nach dem Prinzip – sie gibt und sie nimmt. Sie hat dort eine gewisse Freiheit, ein Lebenskonzept
umzusetzen, umgekehrt ist sie wiederum von ihrer Führung unter Druck, muss auch Zahlen bringen und Leute rausschmeißen, was
ihrem Konzept total widerstrebt. Sie nimmt lauter Leute auf, die sonst nicht so leicht einen Job finden würden, eher Randfiguren
der Gesellschaft, die sie dann nach ihrem Gutdünken formen kann. Es schwingt da eine sektenhafte und größenwahnsinnige Komponente
mit. Es ist komisch und gleichzeitig sehr bezeichnend für unsere Zeit – überall, wo sich nur eine kleine Möglichkeit auftut,
Macht und Struktur herzustellen, wird das sofort getan und von Leuten ausgenutzt. Dass Inga Busch, die ich aus Berlin kannte,
zugesagt hat, die Rolle zu spielen, war eine große Freude. Ich kenne sie als Polesch-Schauspielerin und sie bringt etwas von
der Berliner Leichtigkeit in den Film, von der ich durch mein Studium in Berlin sehr geprägt bin. Ein bisschen Volksbühne
in Wien sozusagen. Das ist toll.
Die männlichen Figuren – der Vater und Karos und Annikas jeweilige Love Interests, Georg und Marc, erweisen sich als enttäuschend,
egoistisch und respektlos. Wie sehr steckt in der Figurengestaltung auch eine feministische Botschaft?
FRANZISKA PFLAUM: Annika wird ja nicht nur von den männlichen Figuren enttäuscht. Es geht nicht darum, ein besonders negatives Männerbild zu
erzählen, sondern ein soziales Umfeld, das ihre Gutmütigkeit ausnutzt. MERMAIDS DON’T CRY ist eine Art umgekehrte Geschichte
vom Prinzen, der die Frau erlöst. Im Genre der Komödie ist es immer noch gängig, in der Liebe einen Ausweg aus dem Leid zu
erzählen. Insbesondere wenn es um Frauenfiguren geht. Diese Art von Liebe ist nicht Annikas Weg aus ihrem Labyrinth, ganz
im Gegenteil. Ihr Weg führt zu sich selbst.
Bevor Annika zur großen Befreiung ausholt, findet sie ihren kleinen „Escape“ im städtischen Schwimmbad, wo sie das trendige
Mermaiding praktiziert. Das galt es auch zu filmen. Welche Bilder wollten Sie für die Momente unter Wasser erzeugen, wo Annika
bei sich ist? Was hat es für die Darstellerin bedeutet?
FRANZISKA PFLAUM: Wir haben uns dazu entschieden, die Künstlichkeit der Unterwasserwelten und Traumwelten zu betonen. Sie sollten zusammengebastelt
wirken und mit Elementen des Trash spielen. Entstanden ist eine ganz eigene Bildsprache, die lustig uns ziemlich schräg ist.
Die Umsetzung war mit unserem kleinen Budget eine Herausforderung, es sind aber alle über sich hinausgewachsen. Jedes Einzelteil,
das für die Unterwasserbilder hineinretouchiert wurde, wurde eigens angefertigt, abfotografiert und gefilmt. Stefanie musste
Trainings absolvieren, um unter Wasser, eingezwängt in diese Flosse, schwimmen zu können. Teilweise ist sie Apnoe getaucht,
teilweise ist sie unter Wasser beatmet worden, da muss man auch erst die richtige Technik lernen. Wir haben eine tolle Tauchschule
gefunden, die uns alles ermöglicht hat. Die Ausstattung hat meterweise grünen Stoff nähen lassen, die perfekt ausgemessen
auf Rigs befestigt wurden; vor diesem grünen Hintergrund haben wir die Unterwasser-Szenen als Nachdreh absolviert, wo wir
uns sehr gut nur darauf konzentrieren konnten. Es waren sehr aufregende, aber auch sehr gut fokussierte Drehs unter Wasser.
Wie hat sich die Abstimmung der verschiedenen Stilelemente in der Postproduktion gestaltet?
FRANZISKA PFLAUM: Der knappe Zeitrahmen hat auch in den Schnitt hineingewirkt. Je knapper die Zeit am Set, umso kürzer die Takes und häufiger
die Fehler, umso mehr muss man im Schnitt feilen. Ich war sehr froh, mit Friederike Hohmuth in der Montage arbeiten zu können,
mit der ich schon mehrere Projekte realisiert habe. Die Montage entstand in einer Zusammenarbeit zwischen Wien und Berlin.
Mit der Postproduktionsfirma Leinwandhelden, konkret mit Florian Hirschmann, haben wir die Unterwasserwelten gebaut. Das war
eine sehr lustige Arbeit in einer Welt, die ich für mich erst entdeckt habe. Die Atmosphäre dieser Sequenzen z.B. blieb lange
eher mystisch und ernsthaft, ich wollte aber, wie schon gesagt, eher einen trashigen Look. Irgendwann standen wir vor der
Notwendigkeit, das zu brechen. So kam der Kofferfisch dazu, der von der Künstlerin gestaltet wurde, die auch den Abspann gemacht
hat. Es war sehr unterhaltsam, hier ein Blubberbläschen, da noch ein Seepferdchen, dort absurde Blitze oder Partikel, die
im Wasser schwimmen, am Bildschirm einzusetzen. Für jedes Element gibt es tausende Möglichkeiten, sie zu gestalten. Florian
hat unheimlich viel angeboten und ich saß ein bisschen wie im Wunschkonzert da. Ist etwas analog genug oder haptisch genug?
Wie erzeugen diese Elemente eine Räumlichkeit? Es braucht einige Zeit, bis man die eigenen Vorstellungen auf den Punkt gebracht
und entsprechend transformiert hat.
Der Mythos der Meerjungfrau beruht auf einem Märchen von einem Wesen, das sich selbst aufgibt, um seiner Sehnsucht nach der
Meeresoberfläche und der Menschenwelt zu folgen. Eine Sehnsucht, die sich im Märchen ebenso als Irrweg erweist wie im Film
der Besitz der Luxus-Flosse. Wie löst sich für Sie der Umgang mit dem Thema Sehnsucht auf?
FRANZISKA PFLAUM: Es ist geradewegs die Umkehrung. Meine Meerjungfrau führt die fehlgeleitete Sehnsucht nicht ins Verderben, sondern sie darf
leben, und zwar richtig leben. Die Frau muss nicht Opfer sein und Opfer bringen, sondern sie wird erlöst, weil sie den Irrweg
erkennt. Daher kommt es zu einer Art Spiegelung. Annika muss die Sehnsucht aufgeben, um ihr Leben anfangen zu können.
War es der Märchenaspekt der originalen Geschichte von der Meeresjungfrau, der Sie für diesen Epilog inspiriert hat, das Weiterleben
der Figuren auszuerzählen?
FRANZISKA PFLAUM: Mit dem Epilog greife ich nochmals den Aspekt der Armut auf und spiele an das moderne Märchen an, das in unserer Gesellschaft
transportiert wird, nämlich dass es jeder schaffen kann, egal, woher man kommt. In Fotocollagen sehen wir, wie es mit unseren
Filmfiguren weitergeht. Sie alle haben es geschafft und sind die beste Version von sich selbst geworden, erfolgreich und zufrieden.
Dass da eine gewisse Ironie mitschwingt, wird spätestens klar, wenn es um Misses Bibers Erleuchtung geht.
Für die Gestaltung habe ich mit der Künstlerin Jennifer Mattes zusammengearbeitet, die auch schon Elemente für die Traumsequenzen
geschaffen hatte. Der Nachspann sollte eine collagenhafte Form haben, weil diese Ästhetik zuvor schon in den Träumen vorkommt
und so eine Verbindung herstellt. Die Collage als nicht reales Bild, das sich selbst als zusammengebastelt dechiffriert, unterstreicht,
dass die Lebensgeschichten konstruiert sind und das genretypische Happy Ends persifliert wird.
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2022