INTERVIEW

«Diese Menschen verkörpern die Narben der Geschichte.»

Daniel Chanoch (geb. 1932) wurde mit einem Schlag aus seiner behüteten Kindheit gerissen. Er erlebt als Achtjähriger, wie binnen kürzester Zeit der Zusammenhalt in einer Stadt zerbricht und überlebt als einer der 131 Buben von Kaunas sechs Konzentrationslager, darunter Auschwitz. Christian Krönes und Florian Weigensamer haben mit A BOY’S LIFE ihre Gesprächsserie mit Zeitzeugen des Holocaust fortgesetzt. Daniel Chanochs bewegende Erinnerungen erzählen nicht nur vom unerschütterlichen Überlebensinstinkt eines Kindes, das auf sich allein gestellt mit dem Unvorstellbaren konfrontiert ist, sie leisten einen eindringlichen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dessen Brisanz mit dem Schwinden der Augenzeug:innen immer deutlicher wird.
 

A BOY’S LIFE komplettiert einen Gesprächszyklus mit Zeitzeug:innen und Opfern des Holocausts. Ihre ersten beiden Gesprächspartner:innen Brunhilde Pomsel (Ein deutsches Leben) und Marko Feingold (Ein jüdisches Leben) waren über 100. Mit Daniel Chanoch hatten sie einen Gesprächspartner, der – 1932 geboren – als Kind Auschwitz überlebte. Warum war es Ihnen wichtig, in dieser Serie auch die Erlebnisse aus der Perspektive eines Kindes wiederzugeben?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich der letzte Teil der Reihe ist, obwohl es natürlich immer schwieriger wird, Zeitzeug:innen aus dieser Epoche zu finden. Diese Menschen verkörpern gewissermaßen die Narben der Geschichte. Der Wille, sich zu erinnern, sich mit dem Faschismus und seinen Wurzeln auseinanderzusetzen wird mit dem Tod der letzten Zeitzeug:innen noch weiter abnehmen und es droht die Gefahr, dass dieser leere Raum von rechten Agitator:innen vereinnahmt wird. In Anbetracht dieser Entwicklungen empfinden wir es als Verpflichtung, die Lebensgeschichten dieser letzten Zeitzeug:innen aufzuzeichnen und für die Zukunft zu bewahren.

FLORIAN WEIGENSAMER: Die Kinder-Perspektive ist immer eine unschuldige, eine ganz andere als die eines Erwachsenen. Ein Kind, das völlig unerwartet aus seinem gewohnten Umfeld gerissen und mit einer bedrohlichen Situation konfrontiert wird, entwickelt auch andere Überlebensstrategien. Daniels Geschichte hat uns gezeigt, wie prägend diese Erfahrungen waren und wie sie später verarbeitet wurden.

 
Wie sind Sie auf Daniel Chanoch aufmerksam geworden?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Wir haben ihn beim Jerusalem Film Festival kennengelernt, wo wir Ein deutsches Leben, die Erinnerungen der Sekretärin von Joseph Goebbels, vorgestellt haben. Es waren viele Holocaust-Überlebende im Saal, die Stimmung war angespannt, am Ende des Films herrschte totale Stille. Da meldete sich ein älterer Herr zu Wort und meinte, er habe sechs Konzentrationslager überlebt und sähe in diesem Film einen der wichtigsten Beiträge zur Aufarbeitung des Holocaust. Ich habe mich nach dem Screening für seine Wortmeldung bedankt und er fragte, ob wir uns noch kurz zusammensetzen wollen. Da hat er uns seine unglaubliche Geschichte erzählt und es ist ein sehr langer Abend geworden.
 
 
Talking was not our repertoire, sagt Daniel Chanoch über seinen Umgang mit dem Erlebten nach der Befreiung, und auch sein Bruder Uri sagt in einer Archivaufnahme Ähnliches. Interessant, dass A BOY’S LIFE auf eine Initiative seinerseits zurückgeht. Ist das Reden über seine Erfahrungen im Alter vielleicht drängender geworden?
 
FLORIAN WEIGENSAMER:
Daniel hat über seine Erlebnisse immer wieder erzählt. Mit seinem älteren Bruder Uri, der auch überlebt hat, aber nicht in Auschwitz war, hat er hingegen nie darüber gesprochen. Er konnte mit Außenstehenden ohne Bitterkeit über seine Geschichte sprechen, mit jemandem, der sein Schicksal teilte, war es anders. Vor allem mit dem Bruder, der ihm sehr nahestand, der nach der Befreiung gleichsam in die Vaterrolle geschlüpft ist – waren diese Erfahrungen nie ein Thema, obwohl beide sehr aktiv über das Erlebte berichtet haben.
 
 
Wie unterschiedlich haben Sie die drei Gesprächspartner:innen erlebt?
War die Filmsituation eine besondere Gelegenheit für sie selbst in ihrer persönlichen Erinnerungsarbeit?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Brunhilde Pomsel hat über ihre Arbeit bei Goebbels jahrzehntelang geschwiegen; Marko Feingold war sein Leben lang in Vorträgen aktiv, ebenso wie Daniel Chanoch. Der Ansatz in unseren Filmen ist, die gewohnten Erzählstrukturen der Protagonist:innen, die sich oftmals in festen Bahnen bewegen, zu überwinden und tiefer vorzudringen. Besonders wichtig sind die Emotionen der Betroffenen. Es hat in allen drei Produktionen Momente gegeben, in denen die Erinnerungen den Erzählenden sehr nahe gingen.
 
FLORIAN WEIGENSAMER: Sowohl Marko Feingold als auch Daniel Chanoch waren es gewohnt, ihre Geschichte innerhalb eines zeitlich limitierten Formats zu erzählen. In Gesprächen, die sich über viele Tage erstrecken, erschließt sich eine völlig neue Dynamik. Daniel z.B. versucht, sich sehr abgeklärt darzustellen: Er hat seine Erfahrungen bis zu einem gewissen Punkt verarbeitet, kann damit leben und hat immer betont, dass er niemals geweint habe. Im Film aber kommt der Punkt, wo klar wird, dass es denn doch nicht ganz so war. Will man hinter die Fassade blicken, die sich die Überlebenden aufbauen müssen, um weiterleben zu können, geht das nur, indem man die oftmals wiederholten Erzählungen, die irgendwann zu „Erinnerungen“ werden, durchbricht.
 
 
Haben Sie mit Ihren drei Protagonist:innen etwa gleich lange gedreht? Wie ausführlich bereiten Sie sich auf den Dreh vor?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Wir haben mit allen über einen ähnlichen Zeitraum gedreht. Wir konnten auf unsere Erfahrung zurückgreifen, wie viele Drehtage in etwa notwendig sind, um einen funktionierenden 90-minütigen Bogen zu schaffen. In der Vorbereitung haben wir uns natürlich intensiv mit den Biografien der Protagonist:innen beschäftigt.  Dennoch haben sich während der Dreharbeiten Dinge aufgetan, auf die wir nicht vorbereitet waren. Unsere Protagonist:innen verließen zwar das Studio, aber unsere Fragen arbeiteten in ihnen weiter und in der Nacht kamen dann Erinnerungen zu Ereignissen, die längst verdrängt oder vergessen waren. Als sie uns darüber am nächsten Tag erzählten, waren das die ganz besonderen Momente, sowohl für die Betroffenen als auch für uns.
 
FLORIAN WEIGENSAMER: Wir haben Daniel Chanoch vor Drehbeginn knapp eine Woche zu Hause interviewt, um seine Geschichte zu erfassen und auf den Punkt zu bringen. Um festzulegen, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln würde, was genau wir erzählen wollen und auch um herauszufinden, welche Inhalte unserem Protagonisten wichtig waren.
 
CHRISTIAN KRÖNES: Unser Interesse galt nicht nur der Zeitspanne des Zweiten Weltkriegs in den Lagern, sondern es ging auch um die Vorgeschichte: die familiären Umstände, die gesellschaftliche Stimmung in den Jahrzehnten, bevor die Katastrophe eingetreten ist und natürlich auch die Folgegeschichte nach der Befreiung.
 
FLORIAN WEIGENSAMER: Im Fall von Daniel Chanoch war es uns auch wichtig, seine Familie in die Vorgespräche einzubinden. Wir haben mit seiner Frau und Familienmitgliedern gesprochen, um zu erfahren, wie sie mit den Prägungen des Ehemanns/des Vaters umgehen, wie sehr seine Erfahrungen das Leben der Familie beeinflusst haben und er sie auch auf seine nächsten Mitmenschen übertragen hat. Für die Familie, besonders für Kinder war es schwierig, sich nie mit dem Erlebten des Vaters zu vergleichen, sich nie daran messen zu können.
 
 
Anders als Marko Feingold, der nicht so sehr auf seine Erfahrungen im KZ einging, erzählt Daniel Chanoch viel Konkretes aus der Lagererfahrung. Hatten Sie den Eindruck, dass je nach Persönlichkeit es zu einem unterschiedlichen Umgang mit der Erinnerung Ihrer drei Protagonist:innen kam?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Bei Daniel Chanoch ist die Lage sehr speziell, da er das unvorstellbare Grauen des Holocaust in sehr frühen Jahren erlebt hat. Marko Feingold kannte die Bedrohung, war mit seinem Bruder bereits auf der Flucht und konnte rational die gegebene politische Situation und daraus resultierende Gefahren einschätzen. Für Daniel Chanoch war es tatsächlich ein völlig unerwarteter Einschnitt.
 
FLORIAN WEIGENSAMER: Doch Daniel gelang es als Kind viel eher, die faktische Welt auszublenden und sich in eine Phantasiewelt zu flüchten. Er hat sich auf seine Instinkte verlassen. Er hat gespürt, wo es schlau war zu handeln oder wo es klüger war, sich rauszuhalten. Und er hat immer von Palästina geträumt. Irgendwann dieses Land zu sehen und dort zu leben war ein Ziel, das er immer vor Augen hatte. Kinder sind in solchen Extremsituationen wohl viel anpassungsfähiger. Man kann sich kaum vorstellen, als Kind in einem fremden Land zu sein, von dem man nicht einmal weiß, wo es sich befindet, keinerlei Information über den Verbleib der Eltern, die man seit Jahren nicht gesehen hat, zu haben. Sich da zu behaupten, da gehört schon etwas dazu.
 
CHRISTIAN KRÖNES: Es scheint irrational, dass ein Neunjähriger Emotionen völlig ausblendet. Aber er hat erzählt, es wäre ein sicheres Todesurteil gewesen, vor Josef Mengele Emotionen zu zeigen. Er hatte die außergewöhnliche Fähigkeit, eine bedrohliche Situation präzise zu analysieren. Dazu kam, dass er der Gruppe der 131 Buben aus Kaunas angehörte, von denen er einer der Jüngsten und somit einer der am meisten Gefährdeten war.
 
 
Was weiß man über diese Buben aus Kaunas?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Begonnen hat es damit, dass ein 16-Jähriger im KZ auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns seinen kleinen Bruder erblickte, den Stacheldraht überwand, sich der Gruppe anschloss und für 130 jüngere Buben die Verantwortung übernahm. Er begann sie zu trainieren, mit ihnen zu exerzieren und formte aus dieser Gruppe von Kindern eine Solidargemeinschaft. Dieser Zusammenhalt rettete ihnen bereits bei ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau das Leben, als Mengele 130 Buben im Gleichschritt auf sich zukommen sah. Wären sie nicht als Gruppe organisiert gewesen, wären sie aufgrund ihres Alters wohl umgehend ins Gas geschickt worden. So war Mengele irritiert und hat sie vorerst am Leben gelassen, auch wenn er viele von ihnen später nach seinen Selektionen ermorden ließ. Nur 27 von 131 haben überlebt.
 
 
Ist Daniel, nachdem ihm nach der Befreiung die Fahrt nach Palästina gelang, für den Rest seines Lebens in Israel geblieben?
 
FLORIAN WEIGENSAMER:
Er hat als Jugendlicher als Kurier und Panzerspäher am Israelischen Unabhängigkeitskrieg teilgenommen. Sein älterer Bruder konnte ihn schließlich überzeugen, an die Landwirtschaftsschule zurückzukehren. Eine Entschädigungszahlung aus Deutschland ermöglichte ihm später, in die USA zu reisen. Er hat in Kalifornien studiert, Kontakte mit großen Weingütern und Farmen geknüpft. Der damalige israelische Landwirtschaftsminister Moshe Dayan wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm ein Projekt in Israel an. Doch es wäre nicht Daniel gewesen, hätte er dieses Angebot sofort ergriffen. Er unternahm zunächst noch eine einjährige Europareise, bevor er dann im Jordantal mit der Traubenzucht begann. Zu den beruflichen kamen auch glückliche private Zufälle, die zur Familiengründung in Israel führten. Er hat die unterschiedlichsten Berufe ausgeübt, vom Zirkusclown zum Fabrikanten, immer das, worauf er gerade Lust hatte. 
 
 
Einer seiner einprägenden Sätze lautet: Ausschwitz-Überlebende haben eine andere Philosophie, eine andere Sicht auf die Welt. Sie haben Daniel Chanoch auch als Privatperson kennengelernt. Worin sehen Sie das Besondere in seiner Persönlichkeit?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Man hat zwar zwischenzeitlich einen alten Mann vor sich, andererseits ist er in seiner Persönlichkeit, in seinem Humor Kind geblieben. Die kleinsten Momente des Lebens zu spüren und zu genießen, ich glaube, das macht ihn aus.
 
FLORIAN WEIGENSAMER: Ich würde auch seine unglaubliche Lebensfreude als erstes nennen. Er hat diese Fähigkeit den Augenblick zu nutzen und zu genießen. Sich zu sagen, ich habe zwar einen Beruf, habe aber gerade Lust, für zwei Jahre Zirkusclown zu sein. Ohne Planungssorgen zu tun, was einem Spaß macht und es sich gut gehen zu lassen. Er hatte gewiss die Haltung – Ich habe Auschwitz überlebt, was soll mir noch Schlimmeres widerfahren? Er hat danach wohl in völliger Angstfreiheit gelebt.
 
 
Daniel Chanoch hat sehr bereitwillig seine Erinnerungen geteilt. Er spricht aber in seinem hohen Alter auch von immer noch unbeantworteten Fragen. Was hat ihn am meisten beschäftigt?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Eine Geschichte, mit der er bis heute nicht klarkommt, ist der Umstand, dass er sehr wahrscheinlich gerade an der Rampe gearbeitet hat, als sein Vater in Auschwitz ankam und in den Tod geschickt wurde. Er hat ihn nicht bemerkt, doch bis heute lässt ihn die Frage nicht los, ob ihn sein Vater möglicherweise noch ein letztes Mal gesehen hat. Er nimmt rational zur Kenntnis, dass seine Mutter und Schwester ebenfalls ermordet wurden, da es aber keine Dokumente gibt, die dies belegen, weigert er sich, das Schicksal von Mutter und Schwester und deren Tod anzuerkennen. Sie existieren für ihn bis heute.
 
FLORIAN WEIGENSAMER: D
ie unbeantworteten Fragen beginnen für Daniel in Litauen. Warum die Nachbarskinder, mit denen er wenige Tage zuvor noch gespielt hatte, sich plötzlich abwendeten. Warum litauische Nachbarn von einem Tag auf den anderen zu erbitterten Feinden wurden, die ihre jüdischen Mitbürger brutal ermordeten. Mit diesen Zweifeln hadert Daniel noch heute, nicht wissend, ob das Miteinander schon vorher geheuchelt war oder ob die politischen Umstände zu diesem Verrat geführt haben.
 
CHRISTIAN KRÖNES: Solidarität in dieser Schicksalsgemeinschaft hat den Buben oftmals das Leben gerettet. Das ist ein gewisser Widerspruch, da Daniel es sehr intuitiv und geschickt verstanden hat, sich in entscheidenden Momenten zu separieren. Doch ohne die Solidargemeinschaft der 131 Buben von Kaunas wäre wahrscheinlich alles anders gekommen. Je länger sie zusammen waren, umso verschworener wurde diese immer kleiner werdende Gruppe bis hin nach Mauthausen. Als es dort zu Missbrauchsfällen durch Kapos im Lager kam, stellten sich die Älteren vor die Jüngsten, um diese zu schützen. Solidarität hat für Daniel einen hohen, ganz besonderen Stellenwert.
 
 
A BOY’S LIFE ist die dritte Dreharbeit in ähnlichem Setting. Welche Erfahrungen nahmen Sie aus den ersten beiden mit, um mit einem unveränderten Setting ein weiteres Mal umzugehen.
 
FLORIAN WEIGENSAMER:
Wir haben erkannt, dass wir nicht nur unseren Protagonist:innen, sondern auch uns selbst Zeit geben müssen, um zu finden, was wir vermitteln wollen. Wir haben auch gelernt, Grenzen zu respektieren, z.B. den Missbrauch in Mauthausen nicht im Film zu thematisieren, weil die betroffene Person noch am Leben ist. Auch wenn es ein sehr eindrucksvolles Beispiel gewesen wäre, das eine Ebene eröffnet, von der man bei Kindern in Lagern noch kaum etwas gehört hat.
 
 
Daniel spricht auch weitere blinde Flecke an: Er erwähnt Kannibalismus unter den Opfern. Er spricht von ca. 40 Nebenlagern des KZs Mauthausen, die kaum bekannt sind. Ist es Ihnen wichtig, mit Ihrer Arbeit auch Aspekte hervorzukehren, die tabuisiert oder im kollektiven Wissen bisher nicht vorhanden waren? Gerade bei uns in Österreich?
 
CHRISTIAN KRÖNES:
Ich sehe in Österreich immer noch einen großen geschichtlichen Vertiefungsbedarf, gerade bei Dingen, die über Jahrzehnte ­– keineswegs unbewusst – in Vergessenheit gedrängt wurden. Mir ist erst im Verlauf dieser Produktionen so richtig bewusst geworden, dass es wohl die allerletzte Möglichkeit ist, Zeitzeug:innen zu portraitieren, die aus eigenem Erleben berichten können. Mit ihrem Verschwinden wird sich die Erinnerungskultur weiter wandeln. Ziel ist es, mit diesen Filmen zeitlose Dokumente zu schaffen und den Protagonist:innen die Möglichkeit einräumen, ihre Geschichten von Angesicht zu Angesicht mit den Zusehern zu teilen.
 
FLORIAN WEIGENSAMER:
Solange diese Fakten nicht überall angekommen sind, darf man nicht aufhören, darüber zu berichten. Ich habe Daniel Chanoch die letzten Jahre mehrmals zum Jahrestag der Befreiung nach Gunskirchen begleitet. Dort gibt es einen Gedenkstein an der Bundesstraße, der nur schwer zu finden ist. Solange Überlebende diesen Ort aufsuchen, ist die Gemeinde gefordert, einen Event organisieren. Ich habe gesehen, dass von der Gemeinde dafür ein Kranz mit „schwarz-rot goldener“ Schleife gespendet wurde. All den Versuchen, Fakten zu verschleiern, mit dem Argument man habe es schon so oft gehört, kann ich nur entgegnen: Gehört vielleicht ja, aber ganz offensichtlich noch immer nicht verstanden. Daniel hat sich sein Leben lang dafür eingesetzt, dass im Wald in Gunskirchen ein würdiges Mahnmal errichtet wird, doch das wurde von der Gemeinde lange Zeit ignoriert, weil sich dort kaum jemand mit der Geschichte dieses Ortes auseinandersetzen will.
 
CHRISTIAN KRÖNES: Die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa und rund um die Welt müssten uns eine Warnung sein. Wir sollten begreifen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, wie zerbrechlich demokratische Strukturen sind, sie schützen und verteidigen, denn sonst droht tatsächlich die Gefahr, dass sich die Geschichte irgendwann wiederholt. Umso wichtiger ist es, wachsam zu sein und aus der Vergangenheit zu lernen. Vielleicht können wir mit unseren Filmen dazu einen kleinen Beitrag leisten.
 
 
Sie haben nun drei Filme gedreht, drei eingehende Gespräche mit sehr einprägsamen Persönlichkeiten geführt, die unvorstellbare Erinnerungen geteilt haben.
Wie sieht Ihr Resümee aus? Was nehmen Sie aus dieser Arbeit mit?
 
FLORIAN WEIGENSAMER:
Auf einer ganz persönlichen Ebene bin ich sehr froh, Daniel Chanoch kennengelernt zu haben. Brunhilde Pomsel und Marko Feingold waren außergewöhnliche, besonders interessante Menschen, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Mit Daniel und seiner Familie verbindet mich zudem eine intensive, sehr bereichernde Freundschaft.
 
CHRISTIAN KRÖNES:  Die Arbeit mit diesen Persönlichkeiten war eine durchaus prägende Erfahrung. Ich bin zutiefst dankbar, dass sie ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben, für das Vertrauen, das sie uns entgegengebrachten. Wir würden Daniels dramatischer Lebens- und Überlebensgeschichte, die von so vielen Zufällen bestimmt war, gerne noch einen Spielfilm widmen.
 
 
Fixpunkt sind in jedem der Filme Archivmaterialien: Wo und mit welcher Fragestellung suchen Sie nach den Archivmaterialien? Worauf fiel für A BOY’S LIFE Ihre Wahl?
 
FLORIAN WEIGENSAMER:
Wichtig ist uns, dass wir diese Materialien nicht bearbeiten (müssen), um sie verständlich zu machen. Propagandamaterial ist heikles Material, das man durch Veränderung sofort neu kontextualisiert. Da Daniel aus Litauen stammt, haben wir uns verstärkt den osteuropäischen und russischen Archiven zugewandt. Vor dem Ukraine-Krieg war es problemlos möglich, in russischen Archiven zu stöbern, die teilweise über unglaubliche Schätze verfügen, die eben noch nicht rauf- und runter gespielt wurden. Das Archiv ist immer auch ein Streitpunkt. Besonders in Österreich begegnen wir immer wieder der Haltung, dass man die verstörenden Bilder aus den KZs, die nach der Befreiung angefertigt wurden, nicht mehr zeigen soll. Wir sind ob dieser Haltung bei Vorstellungen mit Holocaust-Überlebenden und Angehörigen immer wieder auf Fassungslosigkeit bis Zorn gestoßen, wenn wir darauf verweisen, in Österreich diese Diskussion zu führen. Ich bin der Meinung, dass man diese Bilder so lange herzeigen muss, bis es jeder und jede verstanden hat. Gerade heute, in einer Zeit, die von Bildern geprägt ist, brauchen wir Dokumente, die den Holocaust belegen. Diese Bilder und Filme sind unwiderlegbare Beweise für die ungeheuerlichen Verbrechen der Nazis.
 
CHRISTIAN KRÖNES: Es war uns wichtig, das Bildmaterial nicht illustrierend einzusetzen, sondern die Erzählungen damit zu erweitern oder zu kontrastieren. Ich verstehe die Bedenken im Umgang mit diesen Schreckensbildern. Die größte Herausforderung liegt in der Kontextualisierung. Aus dem Rahmen gerissen sind diese Bilder möglicherweise irritierend; wenn ich aber ausweise, wann, zu welchem Zweck, von wem diese Bilder hergestellt wurden, dann ist ihre Verwendung mehr als legitim. Wir leben in Zeiten des Deep-Fake, wo man Bildern nicht mehr trauen kann. Bilder aus den Konzentrationslagern, und seien es die grauenvollsten, sind authentisch und zeigen nichts als die Wahrheit. Das Ansinnen diese Dokumente generell nicht mehr zu zeigen, empfinde ich als grob fahrlässige Manipulation der Geschichte, die Holocaust-Leugnern geradezu in die Hände spielt.
 
 
 
Interview: Karin Schiefer
August 2023