Alex ist am liebsten in den unterirdischen Gängen der Stadt. Caro hingegen zieht es eher in die Lüfte. Außerdem hat sich Alex
schon als Bub geschworen, sich niemals zu verlieben. Es spricht also wenig dafür, dass sie einander je begegnen und doch lässt
das Schicksal ihre Wege kreuzen. In seinem nostalgisch-romantischen Erstling STERNE UNTER DER STADT zieht Chris Raiber einen Zauber über die Wirklichkeit seiner Figuren und lässt es im Sommer Winter werden.
STERNE UNTER DER STADT ist Ihr erster abendfüllender Spielfilm. Der erste Satz des Films lautet: Das ist eine Liebesgeschichte.
Gibt es Ihrer Meinung nach zu wenig davon im österreichischen Kino, dass Sie mit Ihrem ersten Spielfilm mal so richtig ins
romantische Fach greifen wollten?
CHRIS RAIBER: Diese Überlegung ist nicht im Vordergrund gestanden. Als ich mit meinen Produzenten über mögliche Stoffe für einen Langfilm
gesprochen habe, war eine der Ideen eine Liebesgeschichte, die unter der Erde spielte. Wir kamen darüber überein, dass ich
einen ersten Versuch schreiben sollte. Das Konstrukt war also vorhanden. Meine Gedankenwelt war aber nicht nur vom Wunsch,
eine Liebesgeschichte zu schreiben, bestimmt. Es hat sich vor etlichen Jahren so ergeben, dass ich viel die U-Bahn benutzte
und immer wieder vor den Info-Screens in den Stationen gestanden bin, wo man mit News und Wetter versorgt wird. Mir kamen
zwei Gedanken – wie es wäre, wenn man auf dem Screen einen Kinofilm anschauen würde und wie wäre es, wenn eine in der Stationsaufsicht
tätige Person über die Monitore sich für jemanden zu interessieren beginnt, jedoch zu schüchtern ist, auf direktem Weg in
Kontakt zu treten und deshalb den Infoscreen nutzt, um die besagte Person anzusprechen. So hat es begonnen, aus diesen Ideen
hat sich eine Liebesgeschichte herauskristallisiert.
Sie entwerfen vom Beginn an ein Universum von ganz oben – dem Sternenhimmel – nach ganz unten in dunkle Gänge unter Tag. Waren
die Spannungen innerhalb entgegengesetzter Pole ein wesentliches Element Ihrer Erzählung?
CHRIS RAIBER: Kurz zur Genesis des Films: Es gab zunächst einen Buchentwurf mit dem Titel Unter der Haut des Tages. Der Film bekam eine
Förderung, um den Stoff zu überarbeiten. Beim Rewriting wollte ich erstmal nur sehr zurückhaltend eingreifen und möglichst
viel von der ersten Fassung behalten. Ich kam allerdings nicht voran, die Deadline rückte näher, dem Produzenten sagte ich,
dass alles gut am Laufen wäre, in Wirklichkeit hatte ich noch immer nichts. Und erst als ich bereit war, Neues zuzulassen,
im Wissen, dass es Vieles vom Vorhandenen wegspülen würde, kam ich zu einer finalen Fassung, die nur mehr wenig von der ursprünglichen
Geschichte enthielt. Erhalten blieb der Bezug zur U-Bahn, die Figurenkonstellation war völlig neu. Hier komme ich auf die
Frage zurück – meine beiden Haupt-Charaktere stehen zueinander in Opposition, Caro, in Begleitung einer Feder, die im Verlauf
des Film keine unwichtige Rolle einnimmt und den Ballons auf ihrem Tattoo, steht für eine Bewegung nach oben, Alexander ist
aufgrund der Situation mit seinen Eltern mit der Welt unter der Erde verbunden.
Warum ist die Geschichte in diesem zeitlosen, auch nostalgischen Rahmen entstanden?
CHRIS RAIBER: Vom Zugang her war klar, dass ich die Realität beiseitelassen, in ein phantastisches Muster hineingreifen und auch aktuelle
gesellschaftliche und politische Bezüge ausklammern wollte, um die Geschichte solitär in ihrer Welt entstehen zu lassen.
STERNE UNTER DER STADT hat vom Szenen- und Kostümbild, als auch von der Maske her einen etwas romantisierten und antiquierten
Lack, das war ganz bewusst so gesetzt und hat mit einem Ton zu tun, den man schon beim Schreiben miteinbringt. Parallel zum
Schreiben entsteht dann ein visueller Leitfaden, in dem ich gewisse Dinge aufzeichne oder nach Moods suche Es ist wie ein
Sieb, das bis oben voller Möglichkeiten ist und nach und nach filtern sich Dinge heraus, die man, immer auch schon in Zusammenarbeit
mit den anderen Gewerken, aneinanderbaut.
Das Loslösen aus dem sozialen Kontext verleiht dem Film eine romantische Note, die man im österreichischen Kino nicht so oft
sieht. Gab es Inspirationsquellen aus der Kinogeschichte?
CHRIS RAIBER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Wenn man seine Geschichte dem Produzenten vorstellt, kommt immer auch die Frage nach
einem Vergleichsfilm auf. Von der märchenhaften Situation, die auch das Umfeld von Alexander und Caro betrifft, kam von einigen
Rezipienten des Buches der Vergleich zu Die zauberhafte Welt der Amelie. STERNE UNTER DER STADT ist allerdings vom Gemüt her
ganz anders gesetzt. Es gibt einen romantisch-leidenschaftlichen Kern, und der Film hat auch eine gewisse Rührseligkeit bis
zu Momenten, die vom Kitsch eingeholt werden. Das bedeutet natürlich auch für das Publikum, dass es sich darauf einlassen
muss, weil sonst Situationen, die man nicht aus dem Alltag kennt, nicht funktionieren; das gilt sowohl für das Verliebte als
auch für das Tragische.
Die Unausweichlichkeit des Schicksals ebenso wie die große, aber unmögliche Liebe sind Motive, die STERNE UNTER DER STADT
bestimmten: wie sehr hat Sie das Thema Kitsch beschäftigt und auch veranlasst es auszureizen?
CHRIS RAIBER: Der einzige Antagonist, der im Prozess des Schreibens übriggeblieben ist, ist das Schicksal. Ich hatte Themen, die mit einer
gewissen Tragik und sehr starken Emotionen verbunden waren, zuvor bereits im Kurzfilmsegment aufgegriffen. Es war mir nicht
fremd und es ist für mich nicht verwerflich, sich dem Kitsch zu nähern, solange er sich nicht zu trivial und aufdringlich
zeigt. Es braucht einen sehr offenen und ehrlichen Zugang und wenn eine gewisse Coolness es nicht zulässt, dann gelangt man
wahrscheinlich nie in die Tiefen, in denen sich der Film bewegt.
Es ist zuvor schon mal das Wort „solitär“ gefallen. Die Figuren in Ihrem Film sind alle sehr ausgeprägte Persönlichkeiten,
sie verfolgen auf ihre Art ihre Prinzipien, aber alle sind sie auf sich allein gestellte, einsame Gestalten.
CHRIS RAIBER: Ich glaube, wenn man in einer filmischen Erzählung den Alltag und die Realität außer Acht lässt, dann braucht es Figuren,
die einen starken Anker haben. Sonst fliegt alles in die Luft und es wird schwierig, es wieder einzufangen. Ich gebe meinen
Figuren immer eine sehr ausführliche Vita – Herkunft, Werdegang, Charaktereigenschaften sowie prägende Ereignisse im Leben.
All das fließt dann in die finale Figurenkonstellation ein.
Eine Liebesgeschichte zu erzählen, heißt auch ein einzigartiges Paar zu entwerfen. Wie ist das Paar Alexander/Caro entstanden?
CHRIS RAIBER: Ich wollte zwei gegensätzliche Charaktere haben: einerseits Alexander, der in einer sehr stillen, zurückhaltenden und sensiblen
Art auftritt. Ihm gegenüber steht mit Caro eine starke, laute und selbstbewusste Frau. Ein wesentlicher Punkt bei Alexander
war auch seine Prämisse, dass er sich als Kind geschworen hat, sich niemals zu verlieben. Diese Vorsicht, die er als Kind
aufgebaut hat, musste er auch ins Erwachsenenalter mitnehmen, wo er dann unter der Erde in einem kleinen Fundbüro der Wiener
Linien arbeitet und ihm gegenüber eröffnet Caro ein kleines Hutgeschäft. Wie schon erwähnt, ist der Infoscreen in der U-Bahn
nicht unbeteiligt, dass die beiden zusammenkommen.
War das tragische Ende vorgesehen oder hat es sich erst im Schreibprozess ergeben?
CHRIS RAIBER: Es hat zwei Situationen gegeben, die ich auf alle Fälle unterbringen wollte: zum einen die Idee mit dem Infoscreen, zum anderen
die Vorstellung, den Winter in den Sommer hineinzuholen. Für letzteres stand fest, dass es über ein Täuschungsprinzip funktionieren
würde, über jemanden, der in seiner Wahrnehmung durch einen bestimmten Umstand (z.B. Krankheit) eingeschränkt ist. So ist
das langsam zusammengewachsen.
Haben Sie mit Anspielungen auf Perry Rhodan und den John Ford-Western The Searchers persönliche Referenzen einfließen lassen?
CHRIS RAIBER: Perry Rhodan ist mir passiert, da mein Vater eine beachtliche Sammlung dieser Science-Fiction-Serie hat. Der Film sollte
eine Ode an die Liebe werden, das war der Grundton. Die Liebe kommt in STERNE UNTER DER STADT in drei Formen vor – da ist
zunächst die sehr intensive, vom Schicksal begleitete Liebe, dann die imaginäre Liebe von Franz (einem Kollegen von Alex),
die darin besteht, etwas zu lieben oder wertzuschätzen, das nicht real existiert, in seinem Fall die Heldenfigur Perry Rhodan
und dann gibt es noch die Liebe von Renate, die gegenüber ihrem Partner Martin, den Sicherheitsmann, eine sehr umklammernde
Liebe ausübt, die ihm zu viel ist und er beschließt trotz seiner Angst vor der Dunkelheit, in der Nacht zu arbeiten, um dem
zu entkommen. Und Perry Rhodan, der Science-Fiction-Held aus dem All, stellt einen Gegenpol zu den Menschen dar, die sich
unter der Erde bewegen. Die erwähnten Backstories, die ich für meine Figuren entwerfe, liefern oft Anregungen, die im Film
dann sichtbar werden. So der Western, der auf die Vita von Alexanders Großmutter zurückgeht, die im Fundus der Volksoper gearbeitet
hat; ihre große Liebe war ein amerikanischer Dirigent, den sie nicht mehr als bewundert hat und der hervorragend John Wayne
imitieren und Western nacherzählen konnte. Mit der Liebe zum Dirigenten ist es nichts geworden, weil sie irgendwann den Bühnenmaler
Gustav Korn geheiratet hat. Die alte Leidenschaft ist aber geblieben und sie hat sie an Alexander weitergegeben.
Was bedeutet es, in der U-Bahn zu drehen?
CHRIS RAIBER: In Österreich war als Setting nur Wien möglich, weil es die einzige Stadt mit einer U-Bahn ist. In diesem System zu drehen
ist sehr kompliziert, wobei sich alle sehr bemüht haben es so unkompliziert wie möglich zu halten, aber man muss einräumen,
dass man sich halt in einem großen Komplex, mit hoher Verantwortung und Sicherheitsvorschriften bewegt. Aufgrund der Corona-Situation
war es uns nur möglich außerhalb der Betriebszeiten zu drehen das hieß zwischen 0.45 und 4.30 Uhr. Für den Drehplan war das
eine enorme Herausforderung, nicht nur wegen der Kürze des Zeitfensters, wir waren grundsätzlich in einem Umfeld, das für
uns eine starke Abhängigkeit von der dortigen Infrastruktur bedeutete. Und, was noch dazu kommt, in der Nacht kommen auch
die Wartungsarbeiter auf kleinen Wagen aus den Schächten. Es ist nicht so, dass der U-Bahnbetrieb in der Nacht je zur Ruhe
kommt.
Wir kam es zum Cast mit Verena Altenberger und Thomas Prenn?
CHRIS RAIBER: Verena Altenberger war ein früher Wunsch, sie wurde angefragt und stand sehr schnell fest. Bei der Besetzung von Alexander
hat es eine Weile gedauert, es war nicht so einfach, jemanden für diese Charakterstruktur zu finden, der auch ein österreichisch
klingendes Idiom sprach. Wir haben das Casting mit Marion Rossmann und Martina Poel durchgeführt und haben dann Thomas Prenn
eingeladen. Und abgesehen von einer überzeugenden Interpretation hat er auch schon mit seinem Naturell sehr viel für diesen
Charakter mitgebracht.
Ihre Figuren sind eigentlich alle Idealisten, vor allem in ihrer Liebe. Ist STERNE UNTER DER STADT eine Hommage an den Idealismus?
CHRIS RAIBER: Ich halte es bei einem Menschen für unheimlich wertvoll, wenn er von einem Ideal begleitet wird. In uns tragen tun wir’s
alle, es entsprechend umzusetzen und zu zeigen, fällt den meisten schwer. Die Figuren in STERNE UNTER DER STADT zeigen ihren
Idealismus und lassen ihn auch wirken. Aktuell gesellschaftspolitisch suchen viele Menschen danach, sich wo anzuhängen und
mitgenommen zu werden. Wie viele geben gewisse Ideale auf, weil der Kampf ermüdend ist oder sich nicht auszahlt? Für das Richtige
einzutreten, halte ich für erstrebenswert.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2023