INTERVIEW

«Ich wollte gehörlose Menschen nicht über ihre Andersartigkeit portraitieren, sondern über ihre Kultur.»

Dariusz Kowalski zeichnet in Seeing Voices ein vielstimmiges Portrait der Gehörlosen-Community in Wien, das nicht nur ein Gespür für eine Sprache, die auf der visuellen Ebene funktioniert und für Menschen, die sich durch Gebärden Gehör verschaffen, vermittelt. Seeing Voices verweist auch auf den Stellenwert der Gebärdensprache, dem unser Bildungssystem noch immer nicht gebührend Rechnung trägt.
 
 

Der Titel Seeing Voices könnte grundsätzlich der Titel eines Experimentalfilms sein oder auch eines filmischen Experiments. Beschäftigte Sie abgesehen vom gesellschaftspolitischen Fokus auf das Thema Gehörlosigkeit auch eine konzeptuelle Ebene, wo es um die Frage ging, wie funktioniert in einem visuellen Medium die Auseinandersetzung mit einer Welt, die von der Akustik und ihrer unzureichenden Wahrnehmung bestimmt wird?
 
DARIUSZ KOWALSKI: In der Recherche ja. Das hat gewiss mit der ersten Annäherung an das Thema zu tun, da ich ja vom Experimentalfilm komme und manchmal in diese Richtung reflektiere. Das änderte sich, als ich ein Zitat von Nicholas Philibert über seinen Film Le pays des sourds (Im Land der Stille) las, wo er erzählte, dass er sich ein Jahr mit der akustischen Welt und der Frage, wie er sie filmisch darstellen konnte, beschäftigte, bis er im Kontakt mit Gehörlosen draufkam, dass ihn einzig und allein die Menschen interessierten. Bei mir war es ähnlich. Es dauerte eine Weile, bis ich Anschluss in die Community der Gehörlosen gefunden hatte. Ich habe auch ein Jahr lang Gebärdensprache gelernt, um einen direkten Kontakt aufnehmen zu können. Es wäre mir seltsam erschienen, immer mit einem Dolmetscher aufzukreuzen.
Der persönliche Zugang zu meinen Protagonisten war mir wichtiger als die wie auch immer beschaffene akustische Wahrnehmung der gehörlosen Personen konzeptuell zu thematisieren. Außerdem fände ich es vermessen, beim Sound Design Töne extra leiser oder dumpfer zu machen.
 
 
Welche Erfahrung hat Sie für die Welt der Gehörlosen sensibilisiert?
 
DARIUSZ KOWALSKI: Es war ein Zufall, der auch mit einem Experimentalfilm zusammenhängt. Ich habe an einem Projekt der Medienwerkstatt mitgearbeitet, wo Archivmaterial bearbeitet wurde; mein Beitrag beschäftigte sich dokumentarischem Stummfilmmaterial aus dem Jahr 1938 über eine bürgerliche Nazi-Familie, für die ich die Sprache dieser Leute rekonstruieren wollte, indem ich die Sprache von den Lippen ablesen ließ. Ich erfuhr, dass Gehörlose dies am besten könnten. In dieser Situation wurde mir bewusst, wie wenig ich bisher Gehörlosen in Wien begegnet bin, obwohl ich seit langem hier lebe. So ist alles ins Rollen gekommen.
 
 
Von der Struktur her betrachten Sie einen Säugling, der im familiären Bereich – im Fall der Familie Hager – einen quasi idealen Umgang mit Gehörlosigkeit erlebt; die Adoleszenz, wo berufliche Weichen gestellt werden und die gesellschaftliche Dimension greifbar wird und schließlich die politische Ebene, wo die individuelle Erfolgsgeschichte der Parlamentsabgeordneten Helene Jarmer einer sehr betrüblichen Statistik gegenübersteht, wonach von 10 000 Gehörlosen in Österreich ca. 50 einen Studienabschluss erlangen. Was hat Sie bewogen, diese Grundstruktur zu bauen?
 
DARIUSZ KOWALSKI: Der Grundgedanke war, eine Community zu portraitieren. Nach einem Jahr Einlesen, Sprachkurs, Kontakte mit Gehörlosen in Vereinen, Begleiten Helene Jarmers bei ihrem Wahlkampf durch Österreich, etc. war klar, dass ich für Seeing Voices Protagonisten suchte, die für bestimmte Aspekte stehen. Der Ansatz, dies über die verschiedenen Altersstufen vom Säugling bis zu einer Frau, die im Leben steht und im Parlament spricht, erschien mir sehr plausibel. Daran sieht man einerseits, wie schwer der Kampf um eine gleichberechtigte und inklusive Bildung sein kann, und andererseits, was gehörlose Personen wie Helene Jarmer oder Barbara Hager schaffen können, wenn sie von unserer Gesellschaft nicht gehindert werden.
Für mich ging es in der langen Recherche darum, zum einen das Sprachproblem soweit zu überwinden, dass ich imstande war, mein Anliegen selbst in Gebärdensprache zu artikulieren und zum anderen auch Vertrauen herzustellen. Die Community der Gehörlosen ist sehr vorsichtig und kritisch, sie hat oft genug erlebt, in wichtigen Fragen von Hörenden übergangen worden zu sein. Nach dieser langen Phase habe ich einen guten Zugang gefunden und die Zusammenarbeit mit meinen ProtagonistInnen funktionierte wunderbar.  
 
 
Verfolgt man die Entwicklung des Babys, so scheinen Sie ungefähr ein Jahr gedreht zu haben.
 
DARIUSZ KOWALSKI: Die Zusammenarbeit mit der Familie Hager hatte interessanterweise einen ganz anderen Ausgangspunkt: Als wir uns trafen, war Barbara Hager zu ihrem zweiten Kind schwanger, eigentlich wollte ich erzählen, wie ein hörendes Kind mit einer gehörlosen Mutter kommuniziert. Man nennt diese Kinder CODA (child of deaf adult). Wir wollten sie und ihre Tochter Caroline portraitieren, beschlossen aber Emil, den neugeborenen Sohn, mitzudrehen. Dass Emil gehörlos ist, kam für alle völlig überraschend, da gehörlose Eltern meistens hörende Kinder bekommen. Barbara und Alexander, die Eltern, haben das viel gelassener aufgenommen, als hörende Eltern, für die diese Nachricht meist eine Katastrophe ist.
 
 
Wie sieht in Österreich die Betreuung heute gehörlos geborener Kinder durch das öffentliche Kinderbetreuungs- und Schulsystem aus?
 
DARIUSZ KOWALSKI: Es gibt sehr wenige beratende Stellen, die Eltern sind meist sehr hilflos. Von medizinischer Seite wird sofort ein Implantat angeboten, ohne über Alternativen zu diskutieren. Der Bildungsbereich liegt wirklich im Argen. Im Kindergarten gibt es Integrationsgruppen, die aber auch nicht immer beliebt sind, weil ein gehörloses Kind mit 20 hörenden Kindern in gewisser Weise alleine bleibt. Den Gehörlosen-Schulen sind in der Regel auch Kindergärten angebunden. Davon gibt es in Wien zwei, in den Bundesländern meistens nur eine. Die Probleme beginnen vor allem nach dem Kindergarten, weil die Sonderpädagogik und der Sonderlehrplan verheerend sind. Aufgrund der Gesetzeslage ist es Gehörlosen nicht gestattet, dort zu unterrichten. Es unterrichten dort Hörende, die sich zwar bemühen, sehr deutlich zu sprechen, aber oft nur rudimentär der Gebärdensprache mächtig sind. Stellen Sie sich vor, sie schicken Ihr Kind in den Französischunterricht zu einer Lehrperson, die nicht Französisch kann. Genau das passiert mit den gehörlosen Kindern. Am Ende kann es sein, dass 17-/18-Jährige auf dem Sprachniveau eines Sechsjährigen sind. In Michelbeuern gibt es seit einigen Jahren ein Angebot mit Matura, Tatsache ist, dass es nur sehr wenige schaffen. Hörende Jugendliche können sich ihre Schule aussuchen, gehörlose haben zwei Schuloptionen und als Berufsoptionen wählen sie Gärtner, Schneiderin, Tischler. Das ist fürchterlich.
 
 
Jugendliche erzählen im Film, dass es zu ihrer Schulzeit verpönt war, Gebärdensprache zu verwenden. Hatte das zu einem bestimmten Zeitpunkt didaktische Gründe?
 
DARIUSZ KOWALSKI: Das geht auf ein pädagogisches Modell zurück, das 1880 die Gebärdensprache verboten hat. Ein Beschluss übrigens, der von Hörenden getragen worden ist. Die Sprachwissenschaftlerin Verena Krausneker hat die Sonderschulpädagogik für Gehörlose in einer großen Studie aufgearbeitet und festgestellt, dass dieses Modell die Gebärdensprache nicht als eigenständige Sprache anerkennt, nur von Gebärdenzeichen spricht und einfordert, dass Gehörlose zunächst die Lautsprache erlernen.
Die Folge ist, dass gehörlose Kinder unheimlich große Sprachdefizite haben, weil sie nicht genug Informationen aufnehmen, wenn man mit ihnen spricht. Vom Lippenlesen können sie ungefähr 30% des Inhalts erkennen. Es waren weder Pädagogen noch Mediziner, sondern Linguisten, die erkannt haben, dass die Gebärdensprache eine vollständige Sprache ist und dass etwas unternommen werden musste. Diese Debatte ist erst in den achtziger Jahren in Bewegung geraten, die Gebärdensprache ist erst 2005 als Sprache anerkannt worden, das österreichische Sonderschulmodell hat man 2008 erstmals kritisch unter die Lupe genommen. Es wird immer vergessen, wie sehr auch Hörende von bilingualem Unterricht mit Gebärdensprache profitieren würden. Man sieht in Seeing Voices an Emil, wie früh Kinder über Gebärden lernen können, sich auszudrücken. Emil vermag mit knapp einem Jahr, mit Gebärden Dinge zu benennen, was in Lautsprache in diesem Alter noch nicht möglich ist. Im Kindergarten in der Gussenbauergasse, ist ein bilingualer Kindergarten, wo Karin Lang als erste und einzige gehörlose Pädagogin mit Kindern arbeiten darf. Per Gesetz dürfte sie als Gehörlose nicht arbeiten. Das beschreibt die Lage: Gehörlose dürfen ihre Sprache nicht an Kinder weitergeben, obwohl sie was Wortschatz und Schnelligkeit betrifft native speaker sind und auch das Gespür für die Kultur haben, mit der sie aufgewachsen sind. Es gibt dort hörende Pädagoginnen und eine gehörlose. Die Kinder suchen sich ihre Ansprechperson und vermischen sich und lernen voneinander. Ich hatte keinen Eindruck, dass hier Barrieren herrschen.
 
 
Eine zentrale Rolle im Film nehmen die Dolmetscher ein, die auch die Kommunikations-barriere innerhalb unserer Gesellschaft verdeutlichen.
 
DARIUSZ KOWALSKI: Der Bedarf an Dolmetschern für Gebärdensprache ist unheimlich hoch. Es gibt vielleicht an die 100 in Österreich. Die meisten davon leben in Wien. Wir haben im Laufe der Dreharbeiten selbst erlebt, wie sehr die meisten ausgebucht und nur schwer zu haben sind. Dieser Mangel ist strukturell erklärbar, da es kaum angemessene Ausbildungen gibt. Derzeit gibt es österreichweit nur zwei Ausbildungsstätten für GebärdensprachdolmetscherInnen, nämlich in Linz und Graz. Dort, wo es ein Angebot gibt, nehmen das nur Hörende in Anspruch. Der Zugang für Gehörlose ist nach wie vor schwierig. Ein eigenes Studium würde die Situation gewiss verändern. Wenn man als Gehörloser an die Uni will, bekommt man ein kleines Kontingent an Dolmetscherstunden bewilligt, das vielleicht für ein Semester reicht. Diese Jugendlichen bräuchten eine permanente Begleitung, das kann sich ja keiner leisten.
 
 
Über den Umgang mit Gehörlosigkeit und die Schwierigkeiten, auf die man in der Zeit der Bildung und Ausbildung stößt, hinaus, thematisiert Seeing Voices immer wieder die Frage der Identität der Gehörlosen. Der Film verdeutlicht, wie sehr eine marginalisierte Gruppe, um die Anerkennung ihrer Besonderheit, zu der sie steht, kämpfen muss. Die Medizin versucht, über Implantate „Normalität“ herzustellen, von einer Öffnung der Gesellschaft, die Gebärden in ihre Kommunikationsformen integriert, ist man weit entfernt.
 
DARIUSZ KOWALSKI: Ich wollte gehörlose Menschen nicht über ihre Andersartigkeit portraitieren, sondern über ihre Kultur. Es gibt ja zwei Modelle – das Kulturmodell und das Defizitmodell. Letzteres bezieht sich sehr stark auf das Fehlen der Hörfähigkeit. Das Kulturmodell setzt die Sprache und die Identität der Gemeinschaft in den Fokus. Die Vitalität dieser Gemeinschaft hat mich viel stärker interessiert: ihre eigene Art, Dinge zu beschreiben, ihre Form zu kommunizieren, ihre Bräuche. Sie haben durch ihre Sprache eine sehr starke Identität. Ich fand ihren Alltag so faszinierend und ihn wollte ich mit ihnen teilen. Damit wird es möglich, ein Bild zu vermitteln, wie diese Menschen tun. Das Nicht-Hören per se war für mich weder interessant noch filmisch ergiebig. Wenn diesen Menschen, besonders Helene Jarmer als Abgeordneter im Parlament, ein Thema unter den Nägeln brennt, dann ist es das Thema Bildung. Es hat sich bald herauskristallisiert, dass es weder um die Musik noch die Geräusche geht, sondern um die Sprache. Sprache ist so eng mit Bildung und Identität verbunden, dass sie das Thema ist, das diese Menschen tagtäglich beschäftigt.
 
 
Der Film alterniert zwischen Dialogen zwischen Gehörlosen und Hörenden mit   und Gesprächen unter Gehörlosen, die vom Zuschauer nur durch das Lesen der Untertitel nachvollzogen werden können. Welche Absicht lag dahinter, die Zuschauer auch diesem Wechsel an Kommunikationsebenen auszusetzen. Wie haben Sie dabei auch die Grenzen des im Kinosaal Zumutbaren ausgelotet?
 
DARIUSZ KOWALSKI: Primär ging es mir ums Erzählen. Für mich machte es wenig Unterschied, ob gesprochen oder gebärdet wurde. So sieht der Alltag auch tatsächlich aus. Die Situation, dass man vielleicht den Dialog nicht gleich versteht, kann auch fruchtbar sein. Man schaut dann intensiver zu und versucht sich zu orientieren. Filmische Bilder sind manchmal auch nicht ganz eindeutig und das ist gut so, sonst hätte der Zuschauer einen Text vor sich. In der Montage war auch ganz klar, dass wir für die gebärdeten Stellen kein Voice Over verwenden würden. Da wäre die spezifische Stimmung, die man nur unter Gehörlosen erfahren kann, völlig verloren gegangen. Wir hatten sehr viel Material, die immer in diesen beiden Modi funktionierten. Es war persönlich eine interessante Erfahrung, dass man im Kommunikationsprozess plötzlich nichts hörte und die Sprache sich auf eine visuelle Ebene verlagerte. In der Montage, die nicht einfach war, waren wir natürlich auch mit Fragen konfrontiert, wie viel an Untertiteln zumutbar war und wie gut man dem Ganzen folgen konnte, ging es doch primär darum, die Community und ihre Welt zu erzählen. Wäre ich in eine experimentellere Richtung gegangen, dann hätte ich vielleicht mit diesen beiden Kommunikationsmodi gespielt. Es wäre aber am Thema vorbeigegangen. Dass Gehörlose untereinander gebärden, wenn Hörende dabei waren, man einen Dolmetscher brauchte oder nötigenfalls auch über das Fingeralphabet kommuniziert wurde, ist für mich einfach normal geworden, obwohl ich am Anfang geschwitzt habe, als ich plötzlich meine Hände, meine Mimik einsetzen sollte, um zu „sprechen“.
 
 
 
Interview: Karin Schiefer
November 2016
«Ich habe am Anfang ganz schön geschwitzt, als ich plötzlich meine Hände, meine Mimik einsetzen sollte, um zu „sprechen“.»