INTERVIEW

Peter Brunner über MEIN BLINDES HERZ

 

... einerseits die optimierte Verlängerung seines Selbst und andererseits die geloopte Hölle seiner Verhinderung.



Welche Krankheit verbirgt sich hinter dem Begriff Marfan Syndrom?

PETER BRUNNER: Das Marfan Syndrom ist ein genetischer Defekt, eine angeborene Bindegewebeschwäche, bei der das Bindegewebe angegriffen ist und sich graduell auflöst. Es ist unheilbar. Am meisten betroffen sind dabei die Augen und das Herz, die Muskulatur und das Skelett. Das Marfan Syndrom wirkt sich bei jedem Betroffenen unterschiedlich aus. Es besteht die Gefahr, dass es zu spät oder nicht erkannt wird. Eine Behandlung mit Betablockern, die die Blutgerinnung regulieren, um dem Zerreißen der Aorta vorzubeugen, kann möglicherweise nicht wirksam werden.


Was hat Sie in die zerrissene und verzweifelte Gedanken- und Lebenswelt eines von dieser Krankheit betroffenen Menschen geführt?

PETER BRUNNER: Ich möchte an diesem Punkt ganz klar zwischen Christos Haas, der als Privatperson das Marfan Syndrom hat, und der Figur Kurt unterscheiden. Kurt ist in einer Krise und im wahrsten Sinne des Wortes zerrissen, aber nicht aufgrund der Krankheit. In erster Linie interessiert es mich, Figuren soweit zu folgen, wie es mir mit meiner Filmsprache möglich ist. Die Krankheit ist in dieser Idee, die ich für das Kino gehabt habe, ein Ausgangspunkt, um eine sehr persönliche und mir sehr wichtige Geschichte zu erzählen.


Sie haben einen Darsteller für Ihren Protagonisten Kurt ausgewählt, Christos Haas, der selbst von dieser Krankheit betroffen ist. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen, Fiktion mit Realität in dieser Art zu verbinden?

PETER BRUNNER: Wir haben die Krankheit eines echten Menschen genommen und sie in die Fiktion eingebaut. Christos ist kein Studienobjekt und es handelt sich hierbei nicht um den Elefantenmenschen. Ich war mit Christos in meiner Jugend für ein Jahr in derselben Klasse, bevor ich als „Problemkind“ die Schule verlasse musste. Christos hat mich damals schon extrem fasziniert. Als er Jahre später zufällig wieder in mein Leben gekommen ist, wurde mir bewusst, was mich damals so fasziniert hat. Mit den Worten von Carl Theodor Dreyer: „Ein ausdrucksstarkes Gesicht ist wie eine ungeahnte Landschaft, die zu erforschen man niemals müde wird.“ Christos hat ein derartiges Gesicht für mich, und wenn ich ihn ansehe, kann ich mich in ihm wiederfinden. Deswegen war mir klar, dass er einen 90-Minuten Film in der Hauptrolle tragen kann, auch wenn ich wusste, dass uns viel Arbeit bevorstand, denn es war sein erster Film. In der Arbeit ging es nicht nur um die Figur, sondern auch um den Prozess, in dem ein Laie zum „Schauspieler“ wird, und meine Verantwortung als Filmemacher, diesen Laien nach Fertigstellung des Filmes weiter zu begleiten und für ihn da zu sein.


Mein blindes Herz ist in weiten Teilen ein Film über innere Welten. Wie haben Sie Ihre Bildsprache zwischen experimentellen Bildern, Bildern aus der Traumwelt, Fragmenten aus der täglichen Wahrnehmung, Archivbildern und den Szenen aus der filmischen „Realität“ gefunden?

PETER BRUNNER: Das Hauptthema dieses Films und meiner weiteren Arbeiten ist es, einen tiefen Einblick in die Innenwelt der Figuren zu geben. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mein Vater Psychoanalytiker ist und ich – immer auf der Hut, nicht durchschaut zu werden – automatisch versucht habe, möglichst kryptisch zu sein und deswegen eine abstrakte, kryptische Filmsprache entwickelt habe. Zumindest hat mir das einmal ein guter Freund an den Kopf geworfen. Es mir sehr wichtig, möglichst persönliche Filme zu machen. Auch wenn man ein schöpferisches Werk nicht nur auf die Person, die es schafft, herunter brechen sollte, werden meine Filme immer sehr viel mit mir zu tun haben, da ich die Bücher selbst schreibe.


Wie sehr war Christos auch ein aktiver Mitgestalter im Laufe der Entstehung des Films?

PETER BRUNNER: Ich versuche, mit den Darstellern eine Beziehung aufzubauen, in der sie Kollaborateure auf Augenhöhe sind. Ihre Ideen bedeuten mir sehr viel und ich suche nach Lösungen, wie ich diese Ideen so einbauen kann, dass sie im Gesamtkontext – wie ich ihn mir vorstelle – einen Sinn ergeben. Im Fall von Christos war es so, dass ich mich auch extrem darauf einstellen musste, in welcher Form er Situationen überhaupt lösen würde oder kann. Ich musste beim Schreiben Christos lange beobachten, finden, umschreiben und anpassen, immer mit dem Ziel, dass die Figur Kurt mit Christos’ Wahrnehmungsapparat und seiner physischen Einschränkung emotional glaubwürdig agiert.


Symbole der Zerstörung und der Unzerstörbarkeit sowie das Thema der Selbstzerstörung ziehen sich als immer wiederkehrende Bilder durch den Film. Fragilität, Verletzlichkeit, Endlichkeit der Körper wie der solidesten Materie sorgen für eine Grundstimmung.

PETER BRUNNER: Unsere gesamte Existenz basiert auf einem Zufall, und wir verdanken sie nur der Zerstörung anderer Objekte im Universum. Ich liebe die Bilder von Francis Bacon. Für mich ist es sehr wichtig, dass der menschliche Körper im Mittelpunkt dieses Films steht. Wahrscheinlich ist der Körper der letzte Schrei des Menschen im 21. Jh. Trotz der Vielzahl an technologischen „Verlängerungen“ unserer Körper wird die Biologie von einem Moment zum anderen einfordern, was ihr zusteht. Niemand lebt für immer. Niemand ist wichtiger als ein anderer. Als ich noch zur Schule ging, erzählte mir mein damaliger Klassenvorstand, dass die Zerstörung – der dunkle Sog –,  der sich aus Thomas Bernhards Büchern erhebt, in ihrer Summe zu einer Energie wird, die etwas Positives ist. Eine derartige Energie gehört meiner Meinung nach auch immer und vor allem dem Publikum. 


Eines der wiederkehrenden Themen ist das des ungeliebten oder nicht bedingungslos geliebten Kindes, des Kindes, das aufgrund einer genetischen Störung nicht die Erwartungen der Eltern erfüllen kann. Ihr Schmerz, ihre Erinnerungen, ihre Gedanken darüber, dass sie zu späteren Zeiten nicht geboren worden wären. Das Hadern mit dem Zufall, das er gerade sie getroffen hat.

PETER BRUNNER: Das Gedankenspiel, in dem der Krankenschein zur E-Card und dann bald einmal zum Computerchip unter der Haut wird, ist gar nicht so unrealistisch. Bluttests, die zwei Wochen nach der Empfängnis eine Schwangerschaft bestätigen können, bevor ein normaler Schwangerschaftstest anschlagen würde, können auch schon über das genetische Material und die damit einhergehenden Unvollkommenheiten informieren. Wer sollte die Krankenkasse der nahen Zukunft davon abhalten, abweichende Genträger vor ihrer Bewusstseinsentwicklung zu Risiken zu erklären, deren Gengrundlage versicherungstechnisch so unrentabel ist, wie ein Grundstück in einem Überschwemmungsgebiet, auf dem ein Haus gebaut werden soll?
Die andere Frage ist, wozu die blinde Wut im Streben nach technischer und kultureller Optimierung gut ist? Wer will ein tausendfach aufgespaltetes Ich, das gleichzeitig die gesamte Weltliteratur lesen kann, während es den Pyramidenbau perfektioniert? Das neue Schönheitsideal wäre dann: Stammregionen des Neokortex jetzt auch in Pink. Die Tendenz zur unbedingten Optimierung und das Selbstverliebtsein in technologische Blaupausen-Kreativität ärgert mich. Das ist die neue versteckte Ideologie. Oder ich habe einfach zu viel Slavoj Žižek gelesen. 


„Mein Körper erinnert mich daran, was ich bin und was ich niemals wollte.“ /“Anwesend sind wir in uns schon lange nicht mehr.“ Bestimmendes Thema scheint die Suche nach Identität, wenn Körper und Geist keine Einheit finden können.

PETER BRUNNER: Das erste, das mir dazu einfällt, ist ein Dokumentarfilm über u.a einen chinesischen Blogger, Low Tech, High Tech. Der Blogger filmt sich vor dem politischen Gewalthintergrund Chinas und ist davon angetrieben, im Internet Ruhm zu erreichen. Dennoch leistet er eine nicht von der Hand zu weisende Aufklärungsarbeit, da er die zensierten Internet-Browser Chinas überlisten muss. Ein anderer Dokumentarfilm, der sich mit chinesischer Identitätsproblematik beschäftigt, ist Red Obsession, in dem französische Weingüter von chinesischen Milliardären gekauft werden, die süchtig nach europäischer Identität sind. Identität und die Frage danach im Kontext der Kultur, in der man lebt, ist ein sehr kniffliges Thema, auch für meine Generation in Österreich. In Mein Blindes Herz wirft Kurts existentialistischer Konflikt zwangsläufig ein bestimmtes Spektrum an Fragen und Themen auf. Ein existentialistischer Ansatz und die damit einhergehenden Denkmodelle ziehen mich schon seit meiner Jugend an. Es hat mich immer sehr geärgert, dass ich, so wie jeder andere Mensch auch, einmal meinem Körper unterliegen muss. Nichts steht ewig, auch nicht die Flaktürme Wiens oder die Pyramiden Ägyptens. Und ist der in 10.000 Jahren Menschheit zusammengetragene Goldkubus mit 19 Meter Kantenlänge alles, worauf man seine Sicherheit aufbauen sollte? 


Erinnerung ist ein sehr präsentes Motiv. Kurt operiert viel mit diversen Kameras, ihm als Erblindenen entschwinden die Bilder, aber auch die Erinnerungen. Ein interessanter filmischer Ansatz, dass Ihre Filmkamera das Entschwinden der Bilder, das Ende des Sehens festzuhalten versucht.

PETER BRUNNER: Das Festhalten von Zeit, das Festhalten von Bildern und Momenten – niemand hat die Sehnsucht danach eindrücklicher und besessener exerziert als Andrej Tarkowskij in seinen Filmen und seinem Buch Die versiegelte Zeit. Für Kurt ist die Kamera eine zweischneidige Waffe, einerseits die optimierte Verlängerung seines Selbst und andererseits die geloopte Hölle seiner Verhinderung. Wir haben versucht, in vielen Szenen an Grenzen zu gehen, das Äußerste zu einem Normalzustand zu erklären und „Krieg zu führen“. Wenn bestimmte Rahmenbedingungen eintreten, ist jeder dazu verurteilt, eine bestimme Situation konkret zu erleben, das bleibt niemandem erspart. Die Frage ist, wie bereite ich mich darauf vor? Nach welchem Ast greife ich? Mein Vater hat als Arzt viele Menschen beim Sterben begleitet. Niemand wollte gehen.


Welche Funktion nehmen die Figuren der Conny und des Vermieters in der Geschichte ein?

PETER BRUNNER:  Wenn ich Jana McKinnon oder Georg Friedrich in unserem Film auf der Leinwand sehe, muss ich lächeln, so sehr freue ich mich über ihre Präsenz. Ich muss auch lächeln, weil aus ihren Charakteren so viel Humor kommt und sie mich zum Lachen bringen. Natürlich haben ihre Figuren auch eine dramaturgische Funktion, aber in erster Linie sind es für mich zwei Charaktere, die mit Kurt nicht den ganzen Weg gehen können. An welchen Kreuzungen im Leben lassen einen die besten Freunde stehen und kehren einem den Rücken?


Susanne Lothar spielt Kurts vereinnahmende Mutter. Sie ist darin sehr wahrscheinlich in einer ihrer letzten Rollen zu sehen. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Arbeit mit ihr?

PETER BRUNNER:  Mein blindes Herz ist ihr letzter Kinofilm. Susanne Lothar hat vom ersten Moment an eine extreme Entschlossenheit und den Willen zum Risiko angeboten. Ihre Titelidee wäre „Innerer Amok“ gewesen, was lange Zeit der Titel des Films war. Es war ihre Idee, dass Kurt seine tote Mutter mit einem Hochzeitskleid zudeckt. Auch die Perücke, mit der sie die Glatze versteckt, die eine Chemotherapie als Backstory andeuten kann, war ihr Vorschlag. Ich hätte ihr den fertigen Film sehr gerne gezeigt, aber das ist sich nicht ausgegangen. Es ist nicht einfach, Material zu schneiden, in dem ein Mensch vorhanden ist, der jetzt nicht mehr lebt. Das war nicht sehr angenehm, aber ein wichtiger Prozess im Schnitt.


Warum haben Sie in Schwarzweiß gedreht?

PETER BRUNNER: Schwarzweiß war für den Kameramann Franz Dude und mich neben der Annäherung an Kurts Wahrnehmung vor allem eine formale Entsprechung zum existentialistischen Inhalt.


Überraschend taucht am Ende ein Epilog auf, der den düsteren und sehr von Gedanken bestimmten Bildern eine helle und sehr in der realen Welt verankerte Note folgen lässt. Was hat Sie dazu bewogen?

PETER BRUNNER:
Pranav Lal ist genial. Er kann über eine Kamera das Gehörte differenziert „sehen“. Dazu ist eine Kamera in einer Sonnenbrille integriert, ihre aufgezeichneten Bilder lösen einen Algorithmus aus, der explizite Frequenzen und Sounds triggert. Pranav geht weiter, er sieht nicht nur das Gehörte, sondern trifft außerdem mit einem visuellen Gestaltungsmedium, dem Fotoapparat, ästhetische Entscheidungen. Er lehnt sich mittels Technologie zu 100% gegen die ihm vom DNS-Pool geschenkte Ausgangssituation auf. Er ist eine Version von Kurt in der echten Welt. Pranav hat mir seine Videobotschaft per Skype geschickt, nachdem er sich alle Videos angesehen hat, die als Kurts Aktions-Videos auf Youtube stehen und Kurts Identität über den Film hinaus im Internet erlebbar machen.

 

Interview: Karin Schiefer

Jänner 2014