INTERVIEW

«Es ging mir nicht in erster Linie ums Dokumentieren einer Abschieds- und Todessituation.»

 
Albert Meisl über seinen Dokumentarfilm Vaterfilm, der im Dokumentarfilm-Wettbewerb von Karlovy Vary seine internationale Premiere feiern wird
 
Es gab erst vor wenigen Tagen auf der Filmakademie eine Konferenz zum Thema Intimität – darüber in Zusammenhang mit Vaterfilm zu reflektieren, liegt besonders nahe:  Als Sohn die letzte Lebensphase des eigenen Vaters im Haus der Kindheit zu filmen, dabei selbst auch vor der Kamera zu agieren, wirft mehrere Ebenen von Intimität auf:  den Vater betreffend, aber auch die Beziehung zum Vater, die Mutter und das eigene Exponieren.  Wie sah der Gedankenprozess aus, ehe Sie in Ihrem Elternhaus die Kamera aufstellten?
 
ALBERT MEISL: Die Entscheidung, diesen Film zu drehen, geht auf mehrere Faktoren zurück. Der eine Grund ist ganz simpel: Im Zuge des Regie-Studiums an der Filmakademie müssen wir auch dokumentarische Arbeiten machen. Das bringt oft eine sehr intensive Recherchearbeit mit sich, zumindest bei Themen die mich interessieren. In der letzten Lebensphase meines Vaters, die sich über zwei Jahre hingezogen hat, war es jedoch so, dass ich quasi jedes Wochenende nach München gefahren bin, um meine Mutter zu unterstützen. Ich hatte extrem wenig Zeit. Wollte ich also studientechnisch etwas weiterbringen, musste ich mit dem Vorhandenen operieren.
Der andere Punkt war der, dass ich besonders durch Constantin Wulffs Seminare auf der Filmakademie eine andere Perspektive aufs dokumentarische Arbeiten bekommen habe, mein anfangs ziemlich konventioneller Blick hat sich verändert und mich haben immer mehr Filme interessiert, bei denen man einen sehr unvermittelten und intimen Zugang zu den Portraitierten bekommt. Das sind oft Filme, bei denen die Protagonisten im Familien- oder Bekanntenkreis gefunden wurden. Also Menschen, zu denen bereits vor der Idee, einen Film zu machen, ein Verhältnis bestanden hat. Dazu kommt für mich beim Dokumentarfilm ein Höflichkeitsproblem. Ich könnte es mir beispielsweise sehr interessant vorstellen, einen Film über Roma zu machen, die aus Osteuropa nach Wien zum Betteln geschickt werden. Erstes Problem: ich spreche nicht Rom. Und wenn es mir endlich gelingt, mich den Leuten anzunähern – bringt es ihnen nicht Probleme ein, sich filmen zu lassen? Ist es nicht einfach etwas, was ihnen ihre Zeit stiehlt? Die haben ja auch anderes zu tun. Ich persönlich würde vielen Leuten im Zweifelsfall eher davon abraten, sich filmen zu lassen, sich also auch von mir filmen zu lassen. Die andere Variante wären dann Leute, die gerne gefilmt werden möchten, wo ein Exhibitionismus befriedigt wird, das ist dann für mich auch wieder uninteressant. Man steht da meiner Ansicht nach im Dokumentarfilm vor einer Grundsatzfrage...

 
... die sich worauf bezieht?
ALBERT MEISL: Was es den Leuten, die gefilmt werden, selber bringt und wie sich das zum Nutzwert für den Filmemacher verhält.  Dokumentarfilm ist doch eine unglaubliche Authentizitätsbehauptung. Gleichzeitig merkt man nicht selten, dass man es dabei mit einem Zusammenkommen von Menschen mit der Zielsetzung „ein Film soll stattfinden“ zu tun hat.  Manchmal hört man auch von Dokumentarfilmemachern, dass es notwendig sei, nach dem Drehen das Verhältnis zu den Leuten zu kappen. Ich finde das im Grunde widersinnig. Die Menschen haben sich ja aus einem emotionalen Bedürfnis heraus filmen lassen. Das ist ja der einzige Nutzen für sie. Dann ist der Film fertig, läuft auf Festivals, der Filmemacher freut sich, und die Protagonisten haben gar nichts davon, außer, dass die Nachbarn sie komisch ansehen, wenn der Film im Fernsehen läuft. Ich muss dabei aber sagen, dass meine Sicht sehr viel damit zu tun, dass ich vom Theater und vom Spielfilm her komme.

 
Wie konnten Sie nun Ihre Bedenken mit dem Dreh im Elternhaus versöhnen?

ALBERT MEISL: Da hatte ich eben keine Bedenken, weil ich dort meine Rolle und meine Aufgabe hatte. Ich bin ja nicht zum Drehen hingefahren, sondern um meiner Mutter bei der Pflege zu helfen. Erst eineinhalb Jahre nach dem Beginn der Erkrankung meines Vaters habe ich angefangen, eine Kamera mitzunehmen. Fast zu spät. Als ich zu drehen begonnen habe, ging es mir erst einmal nur darum, das, was mein Vater sagte, aufzuzeichnen. Diese schleifenartig wiederholten Sätze haben mich an experimentelle Literatur erinnert, an Gedichte von Ernst Jandl. Das wollte ich festhalten, weil das sehr schwer schriftlich zu notieren war. Wie lange derselbe Satz gesagt wird, also wie oft und in welchen inhaltlichen und rhythmischen Variationen, das fand ich spannend, eben wenn Sprache nicht mehr Aussagen mitteilen will, sondern nur sie selbst ist. Sein Zustand verschlechterte sich dann jedoch schnell und er hat auf einmal viel weniger gesprochen. Ich habe dann weiter gefilmt, war schon irgendwie darauf konditioniert, bei meinen Besuchen eine Kamera mitzunehmen. Umständehalber habe ich sie dann aufs Stativ postiert, weil ich immer mehr mithelfen musste und so bin ich auch ins Bild gekommen, was ich ursprünglich nicht beabsichtigt habe.
Dabei hatte ich natürlich den Gedanken, dass aus diesen Aufzeichnungen ein Film entstehen könnte, im Hinterkopf. Aber immer, wenn dieser Gedanke konkreter wurde, habe ich ihn  verdrängt, mir gesagt, ich mache da keinen Film, sondern ich nehme etwas auf, das ich am Ende auch wegwerfen kann. Oder vielleicht verwende ich eine Sequenz und mache einen Experimentalfilm daraus, der zwei Minuten dauert. Oder eben gar nichts und niemand ist deshalb böse auf mich. Man kommt leider sehr schnell, auch auf der Filmakademie, in einen Produktionsdruck. Man hat eine kleine Förderung, man hat Leute, die mithelfen und hoffen, dass ihre Arbeit nicht umsonst war, sprich, dass ein tolles Ergebnis rauskommt. Davon habe ich mich durch das Drehen befreit. Ich war niemandem Rechenschaft schuldig, das war sehr gut. Ich habe auch, wenn ich mir das Material wieder in Wien punktuell angesehen habe, festgestellt, dass ich oft, wenn ich gedacht habe, ich muss die Kameraposition verändern, um das Bild besser zu machen, dass es dann schlechter geworden ist. Viele im schulischen Sinn fehlerhafte Einstellungen, in denen man etwa nicht genau sieht, was passiert, aber doch einen sehr konkreten Ton hat, waren genau dadurch spannend. Das war eine interessante Erkenntnis.

 
Es war also auch ein Ausreizen von formalen und grundlegenden Fragestellungen im Dokumentarfilm?
 
ALBERT MEISL: Mit Sicherheit. Es ging mir nicht in erster Linie ums Dokumentieren einer Abschieds- und Todessituation. Ich hätte möglicherweise andere Dinge, die nicht mit Alter, Krankheit und Tod in meiner Familie zu tun haben, wie beispielsweise mein Vater macht einen Besuch bei Verwandten, lieber gefilmt. Es war halt diese Situation, in der ich damit begonnen habe. Ich konnte mich in diesem ruhigen Aufnehmen, ganz alleine, ohne Team, ohne Ziel und ohne Druck auch mit formalen Fragen befassen, über Kadrage und Fragen der Dauer von Einstellungen nachdenken. Solche Fragen waren mir im Schnittprozess auch wichtiger, als emotionalisierende Wirkungen zu erzeugen. Die Schlussszene ist so ein Beispiel dafür. Wie lange dauert es, bis der Leichenwagen abfährt? Wie eigenartig agieren die Träger? Das ist alles total verlangsamt und in der Wirkung im Grunde viel unrealistischer als man denken würde.
Für mich war das Drehen immer auch Recherche. Beim Filmen, beim Drehbuchschreiben interessiert mich die Frage – Wie ist etwas wirklich? Wie reden Leute wirklich miteinander? Wie gehen Menschen wirklich mit einer Ausnahmesituation um? 


Wer hat den ersten Durchgang durch das Material erledigt? Sie selbst oder Ihr Cutter?

ALBERT MEISL: Ich habe Teile des Materials gesichtet, als mein Vater noch gelebt hat, um zu überprüfen, wie es aussieht und um meinen Professoren an der Filmakademie mitzuteilen, was ich gerade mache. Ich habe da auch für Michael Haneke für Amour ein paar Sequenzen zusammengestellt, wo es um die Kontamination des bürgerlichen Wohnraums durch Pflegeprodukte ging, wenn die Ästhetik des Krankenhauses die Ästhetik des bürgerlichen Wohnraums übernimmt. Nach dem Tod meines Vaters habe ich das Sichten aber eingestellt, weil ich mich auf einen Kurz-Spielfilm konzentrieren musste. Mein Studienkollege Rafael Haider, der von den Aufnahmen wusste, ist dann irgendwann auf mich zugekommen und hat mir unglaublicherweise angeboten, die Plastiksäcke voller Mini-DIV-Bänder, die in meinem Spind auf der Akademie lagen, einzuspielen, damit sie einfach mal gesichert sind. Wir haben ein sehr großes Vertrauensverhältnis und mir ist vor ihm nichts peinlich. Das ist sehr wichtig, weil bei den Aufnahmen viele Dinge dabei sind, für die ich mich sehr genieren würde, wenn andere sie sehen. Ich habe ihm da gesagt, er darf alles anschauen, bei manchen Sachen soll er mir aber nicht erzählen, was er gesehen hat. Aus dem Ansehen des eingespielten Materials hat sich der Schnitt dann quasi automatisch ergeben. Denn das Material zu sichten war teilweise unheimlich fad, weil darin oft nichts oder nur sehr wenig passiert, auch weil die Kamera oft gelaufen ist, wenn ich gar nicht im Raum war. Wir haben dann das Material sehr schnell in Schnittsequenzen gelegt, einfach damit man das Gefühl hat, man macht etwas Produktives daraus. Das Schneiden diente erst einmal dazu, das Sichten überhaupt aushaltbar zu machen. Daraus ergab sich eine erste Fassung. Der Schnittprozess ging dann über eineinhalb Jahre, aber es war eine Feierabendarbeit. Wir haben daneben immer andere Sachen zu tun gehabt. In Summe hat die Schnittzeit vielleicht zwei Monate umfasst.

 
Wie stand Ihre Mutter zur Präsenz der Kamera?

ALBERT MEISL: Meiner Mutter war die Kamera völlig egal. Zum Glück. Ich habe mit ihr auch keine Interviews geführt, sondern mich mit ihr einfach unterhalten – ohne ein großes Ziel, und die Kamera ist mitgelaufen. Interessanterweise sind in unseren Gesprächen Sequenzen gekommen, wo ich das Gefühl hatte, sie bündeln etwas. Beim Aufnehmen habe ich das gar nicht so wahrgenommen. Ich halte das bei der konventionellen dokumentarischen Arbeit sowieso für einen eigenartigen Ansatz, von Leuten zu verlangen, dass sie etwa in ihrer Antwort etwa auch die Frage implizit mitschwingen zu lassen. Dann reagiert ein Mensch ja nicht mehr normal, ist nicht mehr er selbst, sondern ein Helfer des Filmemachers, wird also in den filmischen Prozess involviert. Mir ging es darum, Material zu erzeugen, bei dem sich die Beteiligten durch die Anwesenheit der Kamera nicht anders verhalten, als wäre die Kamera nicht da gewesen. Dadurch waren viele spannende Sachen dabei, die ich im ersten Sichten gar nicht so bewertet hätte. Das kam erst im Schnittprozess zutage. Das  Material hat in einer eigenen Logik agiert. Es hat natürlich deshalb funktioniert, weil mein Vater sich kaum bewegt hat und die Räume sehr klein waren. Eine „falsche“ Kameraposition war da eigentlich kaum möglich. Das war irgendwie als würde man angeln. Man wirft die Angel aus und wartet, und wenn nichts an der Angel ist, auch kein Problem, da sich alle Situationen wiederholen.
 

Gab es, wenn das Material dann doch dichter wurde, darüber Diskussionen, ob etwas hinein durfte oder nicht?

ALBERT MEISL: Als wir den Film das erste Mal zeigten, war ich sehr erleichtert, dass die Zuschauer meine Mutter mögen. Hätte man sie jetzt unsympathisch gefunden, dann hätte ich alles mit ihr ausgenommen, das hätte sie nicht verdient. Das war für mich ein wichtiger Punkt. Dazu kamen dann die Darf-man-das?-Fragen. Beim Drehen haben mich diese moralischen Fragen nicht interessiert. Ich bin persönlich der Ansicht, dass man innerhalb der eigenen Familie, wo man seine Dienste leistet und – ich bin ja als Einzelkind ein Leben lang in der Dienstpflicht meiner Familie gegenüber –, alles darf. Es gibt Leute, die etwa ihren Eltern noch im fortgeschrittenen Alter vorwerfen, dass diese an ihrem gescheiterten Leben schuld sind. Das müssen die Eltern dann auch aushalten. Dagegen ist Filmen doch eine weit weniger schlimme Sache. Und ich habe niemanden belästigt und meinen familiären Beitrag geleistet. Das Filmen ging aus dem Gefühl heraus, das es in Ordnung ist, weil es nicht stört. Was man dann veröffentlicht und zeigt, war beim Schneiden schon öfter eine Diskussion, gerade im Bezug auf Nacktheit. Wir wollten nicht, dass der Film darüber rezipiert wird, dass man in dieser Hinsicht Grenzen abkratzt oder überschreitet.

 
Es gibt eine Situation, wo Ihnen die Geduld reißt und Sie nicht gerade gut wegkommen. Dennoch lassen Sie die Sequenz drinnen.

ALBERT MEISL: Bei ersten Sichtungen habe ich festgestellt, dass meinem Vater große Empathie entgegengebracht wurde, meiner Mutter große Sympathie und ich war im Sympathie-Ranking am dritten Platz, also tendenziell eher unsympathisch. So war es richtig, das entspricht meiner Rolle als dem, der das Material produziert hat. Andersherum wäre das sehr bedenklich gewesen, also wenn der Verdacht aufkommt, dass ich mich da als besonders sympathisch hinstellen will. Was die in Ihrer Frage beschrieben Sequenz betrifft: Ich bin da Rafael, meinem Cutter, sehr dankbar. Ich hatte schon auf dem Band so was wie „Ich sehr böse“ vermerkt und wollte mich selbst so nicht sehen. Ich habe mir das lange nicht angesehen. Rafael hat es dann einmal in meiner Abwesenheit hineingeschnitten und es mir gezeigt. Meine erste Reaktion war abwehrend. Doch ich habe dann die Notwendigkeit akzeptiert, es drinnen zu lassen. Hätte ich den Film alleine geschnitten, wäre diese Szene mit Sicherheit nicht drinnen. Der Film spart natürlich die Zeit aus, wo meine Mutter mit meinem Vater alleine ist. Ich muss dazu sagen, dass ich immer, wenn ich zuhause war, nachts lange wach geblieben bin, damit meine Mutter ohne Störung schlafen kann. Das bedeutete dann auch, dass sie einfach gut drauf war, wenn ich da war. Unmutsäußerungen meiner Mutter, die Situation betreffend, haben dadurch eigentlich immer in meiner Abwesenheit stattgefunden, bei Telefonaten, wenn sie mir erzählt hat, was gerade passiert ist.
So positiv, wie das dadurch teilweise in den Aufnahmen wirkt, war die Situation auch nicht. Deshalb ist die Szene mit mir wichtig, als etwas, das zeigt, was meinem Vater auch angetan wird. Das ist ja nicht in Ordnung, wie ich mit ihm umgehe. Es ist aber auch eine Emotion, die damit zusammenhängt, dass man ihn ernst nimmt. Wenn man jemanden nur noch als quasi entmündigt in die Ecke stellt und sich nicht mehr aufregt, dann ist es noch schlimmer. Und ich glaube, dass es trotzdem für den Menschen besser ist, einmal blöd angeredet zu werden und damit zu merken, man geht noch normal mit ihm um. Und hat ihn nicht abgeschrieben, als jemand, den man so therapeutisch in Watte bettet.
 
 
Bei aller Nüchternheit, mit der Sie an das Thema herangehen, kann man, konfrontiert mit einem alten und kranken Vater, nicht umhin, als Kind den Wandel in der Vaterfigur und im Bezug zu ihr zu erleben. Was hat dieser Umstand mit Ihnen gemacht?

ALBERT MEISL:  Was die Nüchternheit angeht, muss ich sagen, dass mein Verhältnis zu meinem Vater schon ein nicht alltägliches ist – er ist über zehn Jahre älter als meine Mutter, die bei meiner Geburt auch schon 42 war. Für damalige Zeiten war das sehr untypisch. Ich war umringt von Gleichaltrigen, die zu ihren Eltern eher kumpelhafte Beziehungen hatten. Viele haben gedacht, dass mein Vater mein Großvater sei. Das ist einem dann peinlich, und ich habe dadurch als Kind ihm gegenüber schon oft eine distanzierte, beobachtende Perspektive eingenommen und auch Fremdheitsgefühle gehabt. Und ich war durch den großen Altersunterschied schon als Kind darauf konditioniert, seinen Tod in nicht allzu ferner Zeit erleben zu müssen. Das ist etwas anderes, wenn die Eltern zwanzig Jahre älter sind als man selbst. Ich hatte da immer so eine schützende Distanz ihm gegenüber, auch weil er meine Probleme und meine Gegenwart nicht immer verstanden und akzeptiert hat, aus seinen Erfahrungen heraus. Ich habe ihm da früher viel vorgeworfen, mittlerweile denke ich mir, hätte ich einmal Kinder, wäre ich vielleicht nicht viel anders. Aber diese Distanz und das Gefühl –  „Jetzt ist das passiert, womit du immer gerechnet hast, was du befürchtet hast, dass es einmal eintritt“ –  das hängt mit dem Prozess meines Filmens sehr stark zusammen.  Klar hat sich auch ein Verhältnis umgekehrt. Ich muss sagen, dass er mir in der letzten Lebensphase, wo Alter und Schwäche dazukamen, oft auch näher war als vorher. Ein latentes Enttäuscht-Sein voneinander, verursacht durch so grundverschiedene Zeiten, die uns geprägt haben, hat sich aufgehoben. Ich finde, dass er in dieser Phase auch sehr humorvoll war. Wie ich ihn früher nie empfunden habe. Er war eher ernst, oft streng. Was mir großen Respekt abzollt, ist, wie demütig er mit seinem Zustand umgeht. Das hat eine sehr große Würde. Der Zustand wird von ihm als „so ist das Leben“ hingenommen, da ist kein Hadern und Wehklagen dabei. Ich habe lange als Krankenpfleger gearbeitet und weiß, dass es  auch anders sein kann. Der Film hatte auf der Diagonale seine Uraufführung und es ist mir danach sehr schlecht gegangen, weil damit etwas abgeschlossen war. Mir ist da erst aufgefallen, dass ich unbewusst, durch das Filmen und Schneiden für mich persönlich seinen Todeszeitpunkt hinausgezögert habe, also den Abschied. Das ist doch etwas Wunderschönes, dass die Menschen in einem Film weiterleben können. Ein echtes Geschenk.

 
Auch ihre Mutter verkörpert eine Würde und ein Ethos, indem sie ein Eheversprechen in letzter Konsequenz einlöst

ALBERT MEISL: Absolut. Man muss aber dazu sagen, dass sie einen deutlich älteren Mann geheiratet hat und mitgedacht hat, welche Konsequenzen dieser Altersunterschied später einmal haben könnte. Meine Mutter ist ein sehr warmherziger, sehr pflichtbewusster Mensch. Ich halte es aber für pharisäerhaft, einen richtigen Weg im Umgang mit so einer Situation definieren zu wollen. Man muss genauso akzeptieren, dass es Menschen gibt, denen das unerträglich ist. Das ist eine Sache, die Haneke in Amour beschreibt.

 
In einer Szene brechen Sie das konsequente Filmen im Innen des Hauses auf und zeigen Ihre Mutter, wie sie mit Ihrem Vater im Rollstuhl einen Spaziergang macht.

ALBERT MEISL: Ich fand es irgendwann notwendig, aus der Strenge der Aneinanderreihung von praktisch ungeschnittenen, sehr langen Sequenzen auszubrechen. Dieses System kann nämlich auch eitel werden.

 
Wie sehr hat Sie im Zuge dieser Lebensphase Ihres Vaters die Krankheit Demenz beschäftigt?

ALBERT MEISL: Mir scheint, in meiner Zeit als Kind oder Jugendlicher hat es das Wort Demenz nicht gegeben. Manchmal hat man von verwirrten alten Leuten gehört, man hat da gesagt, die sind verkalkt. Und dann wurde auf einmal überall von der Volkskrankheit Demenz geschrieben. So als würde man ab einem gewissen Alter automatisch dement werden. Meine Großmutter war Jahrgang 1906, ist hundert Jahre alt geworden und war immer bei Verstand. Ich habe das Gefühl, dass die Demenzthematik gerade die Generation, die in den vergangenen zehn Jahren ins Greisenalter übergegangen ist, besonders betrifft, also die junge Kriegsgeneration. Walter Jens war z.B. derselbe Jahrgang wie mein Vater, also 1923 geboren. Viele dieser Generation sind als junge Männer, quasi Jugendliche, schon schwer traumatisiert aus dem Krieg zurückgekommen. Bei meinem Vater war das ganz konkret der Fall. Man maß dem Geschehen aber keine Beachtung bei, weil ja alle traumatisiert waren. Dann kam der schnelle Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, die Möglichkeit aufzusteigen in eine höhere Schicht, Geld zu verdienen, dazu immer der Druck, sich anzupassen, funktionieren zu müssen. Das hat meinen Vater auch geprägt. Mir ist es bei ihm oft vorgekommen, dass mit der Krankheit auch eine Last weggefallen ist. Endlich durfte er loslassen, endlich durfte mal etwas wurscht sein, Kontrolle abgegeben werden, was ein ganzes Leben vorher undenkbar war.
Mein Gefühl dabei ist, dass seine letzte Lebensphase nicht der reine Horror war oder etwas, was er besser nicht erlebt hätte oder man ihn davor hätte bewahren sollen, sondern möglicherweise auch ein positiver Abschluss.


Interview: Karin Schiefer
Juni 2015
 
 
 
«Ein latentes Enttäuscht-Sein voneinander, verursacht durch so grundverschiedene Zeiten, die uns geprägt haben, hat sich aufgehoben.»